Читать книгу Die Geschwister Bourbon-Conti - Ein fatales Familiengeheimnis - Bettina Reiter - Страница 6

2. Kapitel

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Schloss Ussé, Region Centre–Val de Loire

Luc lag unter den Libanon–Zedern und schaute zu den pyramidenförmigen Baumkronen hoch, über die sich graue Wolken türmten. Bald würde es zu regnen beginnen. Wieder einmal! In den letzten Jahren waren die Winter hart und lang gewesen, die Sommer kühl und geprägt von Niederschlägen. Die Tristesse der dunklen Tage hatte vielen auf das Gemüt geschlagen oder wertvolle Ernten gekostet, denn es war durchaus vorgekommen, dass im Juni Teiche zugefroren waren. Vermehrt bebte auch die Erde oder es kam zu Vulkanausbrüchen. Viele weissagten sogar den Untergang der Welt voraus.

„Ich liebe dieses Palais“, hauchte Henriette, die mit hinter dem Kopf verschränkten Armen neben ihm lag und an einem Grashalm herumkaute. Der Wind spielte mit ihrem offenen Haar, das Luc hin und wieder im Gesicht kitzelte. „Am liebsten würde ich ewig auf Schloss Ussé bleiben.“ Das Palais lag am Ufer des Indre in der Nähe von Chinon und wurde ihrer Familie von König Ludwig zur Verfügung gestellt.

„Wem sagst du das.“ Luc wandte den Kopf und betrachtete das Schloss. Die Mauern bestanden aus weißem Tuffstein und bildeten einen wunderbaren Kontrast zum satten grünen Wald, der das Palais wie ein schützender Wall begrenzte. Zahlreiche Türme, Zinnen und Kamine auf trapezförmigen Schiefersteildächern verliehen dem Bau einen ganz eigenen Zauber. Neben ihnen, im Schatten der zwei Zedern, befand sich die Schlosskapelle, unweit davon ein Bergfried. Der Turm war Henriettes Lieblingsort. Jedes Jahr musste Luc ihre Schatztruhe über eine steile Treppe bis ganz nach oben schleppen. Darin bewahrte sie ihr Märchenbuch von Perrault auf, das erste Parfüm, das sie von der Mutter geschenkt bekommen hatte und einige Zeichnungen. Henriette konnte wunderbar malen und hätte am liebsten Kunst studiert statt auf die ´Höhere Töchterschuleˋ zu gehen.

„Wusstest du eigentlich“, Henriette nahm den Halm aus dem Mund und drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, „dass schon die Phönizier die Libanon–Zeder als Königin des Pflanzenreiches verehrt haben?“

„Nein.“ Luc starrte nach oben. „Andererseits ein naheliegender Gedanke. Ich finde, diese Bäume haben tatsächlich etwas Majestätisches. Woher weißt du das eigentlich? Aus einem deiner Märchen?“

„Nein, in meiner Truhe häufen sich mittlerweile Schriftstücke über Literatur, Biologie und andere Dinge an.“

„Deshalb wird die Kiste jedes Jahr schwerer“, belustigte er sich, „und ich dachte schon, ich würde mit jedem Jahr schwächer.“

Henriette fasste ihm an den Oberarm. „Deinen Muskeln nach zu urteilen kann ich beruhigt weitersammeln.“ Ihr Lachen hatte etwas Ansteckendes und das Kompliment freute ihn.

„Woher hast du die Schriftstücke eigentlich?“

„Auf Versailles werden sie haufenweise liegengelassen“, verriet sie mit schelmischem Lächeln. „Aber das bleibt unser Geheimnis. Du weißt ja, dass Lotti solche Sachen verpönt und Aufzeichnungen jeglicher Art für ein Werk des Teufels hält.“

„Vielleicht hat sie Angst, dass du dadurch noch mehr Ehrgeiz entwickelst und irgendwann doch studieren willst.“

„Den Gedanken habe ich schon lange verworfen. Ein Studium ist leider nach wie vor eine Männerdomäne, aber eines Tages kommt die Zeit, in der auch wir Frauen frei entscheiden dürfen. Sowohl was unsere Ausbildung betrifft als auch die Wahl unserer Ehemänner. Vielleicht ist es irgendwann sogar völlig normal, dass man nicht heiraten muss, ohne dafür abgestempelt zu werden.“

„Spielst du auf den Herzog von Penthiévre an?“

„Ja.“ Nun flog der Halm in weitem Bogen davon. „Ich finde es unheimlich, dass Dritte über etwas so wichtiges entscheiden und sich die Leidtragenden nicht einmal kennen.“

„Ich teile deine Meinung“, stimmte Luc ihr zu. „Mutter wird den Herzog aber bestimmt einladen, sollte er in der engeren Wahl bleiben. Das hat sie mit Diana auch so gemacht.“ Nach dem Weihnachtsfest arrangierte die Mutter ein Treffen, dem Luc äußerst skeptisch gegenübergestanden hatte. Allerorts galten Françoises Töchter als faul, plump und falsch. Ein Abbild der Mutter eben. Doch Diana, die in Begleitung ihrer älteren Schwester Élisabeth gekommen war, strafte die ganzen Gerüchte Lügen. Seine künftige Schwägerin mochte unscheinbar sein, dafür war sie umso liebenswerter, was auch für Élisabeth galt. Er hatte die beiden Frauen sofort ins Herz geschlossen, genau wie der Rest seiner Familie. Mit Ausnahme von Lotti, die ihre Abneigung auf Françoise sogar auf deren Kinder übertrug. Leicht würde es für Diana nicht werden. Hoffentlich machte man sie nicht zum Spielball zwischen den mächtigen Häusern Bourbon–Orléans und Bourbon–Conti.

„Glaubst du, dass Mutters Strategie aufgeht und sich durch die Hochzeit alle versöhnen werden?“, fragte Henriette und wickelte eine Haarsträhne um den Zeigefinger.

„Ein Ende wird es erst geben, wenn alle Beteiligten tot sind.“ Luc drehte sich zur Seite, stützte den Kopf auf seine Hand und schaute Henriette an. Ihr Mund war halb geöffnet und schimmerte, die Haut rein wie frischer Schnee und ihr Gesicht ebenmäßig. In den grün–braunen Augen spiegelten sich die Zweige, die sich sanft über ihnen im Wind bewegten. Aus einem unerfindlichen Grund heraus begann sein Herz schneller zu schlagen, als er Henriettes Atem auf seiner Haut spürte und das Lächeln erwiderte, das nur ihm galt. Einen Moment lang fühlte es sich sogar so an, als wäre er mit Henriette völlig allein auf der Welt. Kein Laut drang zu ihm, alles verschwand und trat in den Hintergrund. Nur sie war klar und deutlich zu sehen.

„Wie kann man nur so zerstritten sein?“, holte Henriette ihn in die Wirklichkeit zurück. „Die Fehde zieht sich hin, seitdem sie Kinder waren. Wer wurde als Erste legitimiert? Wer bekam die größere Mitgift? Wen hat der Vater mehr geliebt? Nicht zu vergessen die regelmäßigen Hahnenkämpfe, wenn es darum geht, gewinnbringend zu heiraten. Diese Intrigen sind kaum auszuhalten und Lotti steht unserer Großtante in nichts nach.“

„Was nicht unser Problem ist“, antwortete Luc härter als gewollt, weil er durcheinander war. Was war in letzter Zeit los mit ihm? Immer wieder beschleunigte sich sein Puls in Henriettes Nähe, zunehmend wurde er nervös und fahrig.

„Oh doch, es ist unseres. Ich bin vermutlich die nächste, die dem Ganzen zum Opfer fällt.“

„In dem Fall würde unsere Mutter nicht den Herzog als potentiellen Ehemann in Erwägung ziehen. Wie man hört, soll er nett und bescheiden sein. Trotz seines immensen Vermögens.“ Selbst der Gedanke, dass Henriette eines Tages heiraten würde, machte ihm verstärkt zu schaffen. Nein, vielmehr konnte er ihn kaum ertragen, als ob er eifersüchtig wäre. Lächerlich!

„Na ja“, erwiderte sie seufzend. „Ein paar Jahre habe ich ja noch. Vielleicht ändert sich bis dahin einiges.“

„Ich liebe deinen Optimismus. Aber träum ruhig weiter, Schwesterherz“, zog er sie auf, um seine schlechte Stimmung und diese dummen Gefühle zu vertreiben. „Lass uns etwas unternehmen.“ Luc erhob sich und klopfte auf seine mit Erde beschmutzten Hosen. Dann streckte er seiner Schwester die Hand entgegen. Sie schaute zu ihm hoch, bevor sich ihre Hand vertrauensvoll in seine schmiegte. Im selben Augenblick schien ein Blitz durch seinen Körper zu fahren. Luc ließ sie jäh los.

„Was ist mit dir?“, erkundigte sie sich und stand ohne seine Hilfe auf.

„Mir ist eingefallen, dass ich noch einiges zu tun habe“, erwiderte er mit rauer Stimme.

„So plötzlich?“ Sie stand dicht vor ihm. Nicht anders als früher – und doch war plötzlich alles anders. Völlig anders.

Luc schluckte hart. „Ja, so plötzlich.“

„Kannst du das nicht später machen?“, bettelte sie. „Wer weiß, wie lange du noch hier bist. Deswegen möchte ich jede Sekunde mit dir zusammen sein.“ Das bittende Lächeln und die strahlenden Augen, in denen dennoch Traurigkeit stand, brannten sich in sein Herz. Wie gern hätte er sie jetzt in die Arme genommen. So wie tausende Male zuvor.

„Na gut, aber nur kurz.“

„Danke!“, rief sie aus und deutete zu den Stallungen neben dem Schloss. „Lass uns mit der Kutsche ausfahren.“ Schon eilte sie wie ein Irrwisch davon. Übermütig und voller Lebenslust. Luc hingegen folgte ihr wie ein alter Mann und versuchte die innere Stimme zu ignorieren. Die hämische innere Stimme, die ihm etwas zuflüsterte. Etwas, das ihm den Schweiß aus den Poren trieb und sich so abwegig anfühlte, dass ihm beinahe übel wurde.

Zehn Minuten später saßen sie in der Kutsche und schauten sich die Gegend an. Dabei unterhielten sie sich, allerdings blieb Luc ziemlich einsilbig. Henriette hingegen plapperte fröhlich und bestaunte wie ein kleines Kind die feudalen Häuser und die wunderschöne Landschaft des Loire–Tales. Luc schaute jedoch nur seine Schwester an. Wie ihre Augen leuchteten, wenn sie etwas sah, das ihr gefiel. Die Art, wie sie mit ihrem Haar spielte, war ihm unendlich vertraut. Und wenn sie lachte, ging die Sonne auf.

Gegen Nachmittag bestimmte seine Schwester trotz seiner Gegenwehr, zum kleinen See zu fahren, an dem sie schon oft gewesen waren. Dort lag ihr Familienboot am Ufer, um das sich ein Bauer in der Nähe kümmerte. Luc folgte ihr ziemlich übellaunig zum Steg. Das hatte er nun davon, dass er Henriette nichts abschlagen konnte. Oder machte er sich etwas vor und wollte trotz dieser seltsamen Anwandlungen in ihrer Nähe sein? Vernünftiger wäre es gewesen, weit fortzulaufen und erst wiederzukommen, wenn er bei klarem Verstand war!

„Du wirkst nicht gerade erfreut“, stellte Henriette Minuten später fest. Sie saß nahe am Bug, während Luc ruderte. Eine sachte Brise perlte über die Oberfläche des Wassers, in dem sich der Himmel und der Wald rings um den See spiegelten. Fische huschten an die Oberfläche, um sofort wieder abzutauchen, und vor der Blockhütte am anderen Ufer tollten einige Kinder herum.

„Tatsächlich?“

„Dein Ton ist auch nicht nett.“

„Vielleicht, weil ich nur einer kurzen Unternehmung zugestimmt habe, soweit ich mich erinnern kann. Jetzt sind wir beinahe drei Stunden unterwegs und wie es aussieht, werden es vier.“

„Wenn nicht sogar fünf“, erwiderte sie mit keckem Lächeln. Luc konnte nicht anders und grinste. Sie war der letzte Mensch, auf den er böse sein durfte. Er selbst war es, der sich da in irgendetwas verrannte.

„Dann lass es fünf sein“, ergab er sich, atmete tief durch und blickte in die Ferne zu den blühenden Lavendelfeldern, die wie Teppiche aussahen und bis zum Horizont zu reichen schienen.

„So gefällst du mir schon besser“, meinte Henriette. Ihre Blicke trafen sich. Nur für Sekunden und doch schien die Welt minutenlang stehenzubleiben. Lucs Puls raste förmlich, dann wich er ihrem Blick aus und konzentrierte sich auf das Rudern. „Du wirst mir fehlen“, sprach sie unvermittelt weiter. Er hob den Kopf. Wie traurig sie aussah!

„Du mir auch“, entgegnete er knapp und schaute zu den spielenden Kindern. „Louis hat sich übrigens den oppositionellen Prinzen angeschlossen.“

„Tatsächlich?“ Sie beugte sich ein wenig über den Rand des Bootes und glitt mit der Hand ins Wasser. „Darüber wird Ludwig nicht erfreut sein.“

„Das kannst du laut sagen. Allerdings wird sich Louis kaum davon abbringen lassen. Unser Bruder träumt ohnehin des Öfteren, dass er statt Ludwig auf dem Thron sitzt.“

„Tut er aber nicht und das ist gut so, ansonsten wäre Louis nicht auszuhalten. Er strotzt ja schon jetzt vor Selbstherrlichkeit.“ Es begann zu nieseln.

„Wir sollten umkehren“, riet Luc mit einem prüfenden Blick in den bleigrauen Himmel. Immer mehr Wolken schoben sich über die Hügel.

„Jetzt schon?“ Henriette zog ihre Hand zurück. Wassertropfen fielen auf ihr sonnengelbes Kleid mit dem weißen Kragen. Wie erwachsen sie in den letzten Monaten geworden war. Auch körperlich gesehen. Doch kaum zu Ende gedacht, schämte er sich für diesen Gedanken. Langsam aber sicher graute ihm vor sich selbst.

„Das Nieseln wird stärker“, presste Luc hervor, dessen Gesicht förmlich brannte, „den Wolken nach zu urteilen könnte es bald heftig regnen. Außerdem kommt Wind auf. Deswegen sollten wir zusehen, dass wir rechtzeitig in die Kutsche kommen, bevor wir patschnass werden.“ Er ruderte zum Ufer zurück. Doch ehe sie es erreichten, öffnete der Himmel seine Schleusen und starker Regen setzte ein. Henriette lachte, weil sie binnen Sekunden durchnässt waren. Das Haar klebte in ihrem Gesicht, das Kleid an ihrem Körper und ihre Haut schimmerte durch den dünnen Stoff … Luc zwang sich förmlich wegzusehen und ruderte so kräftig, dass seine Arme schmerzten.

Als sie endlich am Ufer waren, sprang er aus dem Boot und bot Henriette seine Hand, obwohl sich alles in ihm dagegen wehrte.

„Du zitterst ja“, stellte sie fest.

„Mir ist kalt“, log er wütend auf sich selbst und als sie sich berührten, erfasste ihn dasselbe Gefühl wie bei den Zedern vorhin. Beinahe grob ließ er sie los, als sie sicher am Ufer stand. Diesmal wirkte Henriette nicht verwundert, sondern verletzt.

„Lauf zur Kutsche. Ich befestige das Boot und komme gleich nach.“ Schon bückte er sich zum Seil hinunter und hörte Henriette im hohen Gras davoneilen.

Als er das Seil nahm, zitterte er so stark, dass er Mühe hatte es zu verknoten. Auch während der Rückfahrt stand er völlig neben sich. Erst in seinem Zimmer beruhigte er sich allmählich. Unterdessen er sich aus den nassen Kleidern schälte, schüttelte er in Gedanken den Kopf über sich selbst. Wie ein dummer Junge hatte er sich benommen und war drauf und dran, das gute Verhältnis zu seiner Schwester zu zerstören. So konnte es unmöglich weitergehen! „Das ist ja beinahe krank“, sagte er laut zu sich selbst und erneut kam Zorn in ihm hoch. Für all das würde es eine plausible Erklärung geben, obwohl er im Augenblick selbst keine hatte. Doch von jetzt an musste er sich am Riemen reißen. Henriette war seine Schwester. Punkt! Trotzdem würde es nicht schaden, wenn er für eine Weile verschwand. Vielleicht war die Antwort des Regiments schon eingetroffen?

Mit dieser Hoffnung verließ Luc sein Zimmer und eilte durch den Gang. Als er am Waschzimmer vorbeiging, hörte er plötzlich ein Plätschern. Die Tür stand einen Spalt offen.

Wie magisch angezogen blieb Luc stehen, obwohl er im selben Augenblick wusste, dass er einen folgenschweren Fehler machte. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Benedikta breitete ein Handtuch aus und im selben Moment erhob sich Henriette aus dem dampfenden Waschbottich. Lucs Atem beschleunigte sich. Über ihren makellosen nackten Körper rollten Wassertropfen herunter. Mit abwesendem Blick fuhr sie sich über die wohlgeformten Brüste und strich dann ihr langes ebenholzschwarzes Haar zurück, das beinahe bis zu ihrer Taille reichte. Sie sah aus wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Nein, vielmehr wie eine Frau, die ein Mann besitzen wollte. Ein Mann wie er. Ganz und gar.

Entsetzt taumelte Luc einige Schritte zurück und sank gegen die Wand hinter ihm. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er fühlte sich, als würde er innerlich verbrennen. „Das darf nicht wahr sein“, flüsterte er. Tränen der Qual schossen ihm in die Augen. Die innere Stimme wurde lauter als je zuvor. Bei Gott, er begehrte Henriette wie eine Frau! Eine Tatsache, die sich nicht länger leugnen ließ.

Luc unterdrückte ein Aufschluchzen. Grob wischte er sich über die Augen.

„Was ist mit dir, mein Sohn?“ Er schreckte hoch. Seine Mutter stand im Türrahmen ihres Schlafgemachs neben dem Waschzimmer und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Du siehst blass aus.“ Im Nu war sie bei ihm und befühlte seine Stirn. „Fieber scheinst du keins zu haben, aber vielleicht hast du dich verkühlt. Ihr seid ja völlig durchnässt nach Hause gekommen.“

Luc schob ihre Hand weg, weil er keine Berührung ertragen konnte. „Mir fehlt nichts, außer dass ich Hunger habe.“ Eine Lüge führte zur nächsten.

„Worauf?“ Zu seinem Entsetzen stand Lotti plötzlich am Treppenabsatz und zeigte zum Waschzimmer. „Darauf?“, fragte sie gedämpft und mit einer Zornesfalte zwischen den Augen. „Ich habe dich beobachtet. Komm in den Salon hinunter. Sofort! Und du auch, Babette.“

Luc hatte das Gefühl zu ersticken, während er seiner Mutter über die Treppe folgte und erschrak regelrecht, als Lotti kurz danach die Salontür lautstark ins Schloss warf.

„Was hast du dir bloß dabei gedacht?“, kam die Großmutter ohne Umschweife und mit nach wie vor mühsam beherrschter Stimme zum Thema.

„Wobei?“ Die Mutter stand zwischen ihnen und blickte verwirrt zu Lotti. „Was hast du denn?“

Ich habe nichts. Aber dein Sohn“, Lotti machte ein angewidertes Gesicht. „Er hat Henriette gerade im Waschraum heimlich beobachtet.“

„Wie bitte?“

„Du hast schon richtig gehört. Und, Luc? Hat dir gefallen, was du gesehen hast?“, forschte sie mit beißendem Ton nach. „War Henriette sogar nackt? Ah, sieh an. Dein Sohn bekommt etwas Farbe im Gesicht.“

Die Mutter schaute Luc fassungslos an. „Stimmt das? Hast du Henriette …?“

„Ja“, bekannte er und ließ sich auf den Stuhl neben sich sinken, weil sonst seine Beine nachgegeben hätten. Nicht genug, dass er von sich selbst entsetzt war, nun musste er auch noch seiner Familie Rede und Antwort stehen. Doch was hätte ein Abstreiten geholfen? Allen voran sich selbst gegenüber? Es war wie es war und nun musste er zusehen, wie er diesen Empfindungen entgegentreten konnte. Vielleicht war es sogar besser, dass seine Mutter und Lotti eingeweiht waren. Er wusste sich ohnehin keinen Rat. Womöglich blickten sie mit ihrer Lebenserfahrung eher durch das wirre Dickicht seiner Gefühlslage.

„Aber warum, mein Sohn. Wieso hast du Henriette beobachtet?“

„Eine dümmere Frage könntest du wohl nicht stellen, Babette“, fuhr Lotti ihr über den Mund. „Dein Sohn liebt deine Tochter. Ich habe dich immer gewarnt, aber du musstest ja weiterhin Scheuklappen aufsetzen. Nun hast du den Salat.“

„Ich bitte dich!“, herrschte seine Mutter Lotti an, „Luc wird das sofort aufklären.“ Sie kniete sich zu ihm und nahm seine Hände so fest in ihre beiden, dass es beinahe schmerzte. Die Verzweiflung stand seiner Mutter förmlich ins Gesicht geschrieben und das war alles seine Schuld! „Lotti sieht mal wieder Gespenster, nicht wahr, Luc? Du und deine Schwester, ihr habt früher oft gemeinsam gebadet. Daran hast du vermutlich gedacht, als du sie … war die Tür offen? Henriette lässt sie ständig offen und Benedikta ist in dieser Hinsicht leider auch äußerst nachlässig.“ Wie hoffnungsvoll sie sich anhörte. „Sag doch etwas, Luc, bitte! Dann kann deine Großmutter beruhigt sein und morgen lachen wir alle gemeinsam darüber.“

Luc blickte hoch. Lotti schaute ihn hasserfüllt an. Hatte sie ihn deshalb ständig gemieden? Weil sie schon lange etwas dergleichen geahnt hatte? Noch lange, bevor er es selbst merkte? „Großmutter hat leider recht“, entgegnete er tonlos, „ich empfinde etwas für Henriette, das ich niemals empfinden dürfte.“

Mit einem Ruck ließ die Mutter seine Hände los, erhob sich und ging einige Schritte hin und her. „Das darf nicht wahr sein“, jammerte sie mit weinerlicher Stimme. „Niemals!.“ Sie wirbelte herum und schaute ihn durchdringend an. „Diese Gefühle bildest du dir ein.“

„Ich wünschte, es wäre so, Mutter.“

„Siehst du?“ Lotti drehte sie an den Schultern zu sich herum. „Ein Problem führt zum nächsten mit diesem Burschen. Er muss fort. Heute noch! Ansonsten werden wir unseres Lebens nicht mehr froh.“

Die Mutter schluchzte auf. „Ich will nicht, dass mein Sohn geht.“

„Dir wird nichts anderes übrigbleiben. Oder willst du ihn länger unter deinem Dach haben? Ständig mit der Angst vor Augen, dass er sich Henriette unsittlich nähert?“

„Das würde ich niemals tun!“ Luc schoss in die Höhe.

Dir traue ich alles zu“, wetterte die Großmutter schrill.

„Hast du das nicht schon immer getan?“

„Mag sein, aber wie wir alle merken, war mein Gefühl goldrichtig. Du bist eine Schande für unsere Familie. Das warst du schon immer.“

Luc fühlte sich zutiefst verletzt und gedemütigt. „Keine Angst, morgen früh bin ich fort.“

Seine Mutter machte sich unwirsch von Lotti los. „Aber wo willst du hin?“

„Ist das nicht egal?“ Die Großmutter fuhr sich über die Stirn. „Hauptsache, er kommt nie wieder zurück.

„Hör endlich auf, so zu reden!“, brüllte die Mutter plötzlich. Tränen liefen über ihre Wangen.

Auf einmal wurde die Tür aufgerissen. „Was ist denn mit euch los?“ Henriette trat mit wächserner Miene ein und trug lediglich ihren Morgenmantel. Sie suchte Lucs Blick, doch er schaute demonstrativ weg.

„Eine kleine Meinungsverschiedenheit“, erklärte Babette.

„Das scheint mir aber nicht so“, ließ sich Henriette nicht beirren. „Du weinst, Mutter. Lotti sieht aus wie ein Racheengel und Luc traut sich nicht, mir in die Augen zu sehen. Also, was wird hier gespielt?“

„Das geht nur uns etwas an“, kanzelte die Großmutter seine Schwester ab. „Geh in dein Zimmer oder in den Bergfried. Hauptsache, du lässt uns allein.“

„Aber ich …“

„Geh, hab ich gesagt!“

Das Zuziehen der Tür durchbrach die Totenstille, die auf einmal herrschte. Keiner sprach mehr, als wäre alles gesagt. Im Grunde war es auch so.

„Ich gehe zu Bett“, teilte Luc ihnen mit und straffte die Schultern. „Es tut mir leid, was ich euch angetan habe. Aber glaubt mir, ich habe das zuletzt gewollt. Trotzdem kann ich es nicht ändern.“

„Vielleicht ist es tatsächlich besser, wenn du eine Weile fortgehst“, sprach die Mutter leise auf ihn ein. „Mit etwas Abstand siehst du die Dinge vielleicht etwas anders. Denn nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass du einfach nur verwirrt bist. So etwas geschieht, geht jedoch wieder vorbei.“ Luc fing ihren Blick auf. „Wenn du wiederkommst – und das wirst du – geht sicher alles wieder seinen gewohnten Gang.“

Leise knarrte die Tür, als Henriette in Lucs Zimmer huschte. Es roch nach Iris. Die Kerze auf dem Nachttisch erhellte den Raum, die Flamme flackerte und malte dunkle Schatten an die Wände. Lucs zerknitterte Kleidung verstreute sich über den verblichenen Gobelin, der fast das ganze Zimmer einnahm. Die rote Tagesdecke mit weißem Lilienmuster umwickelte seine muskulösen Beine und hing über den Rand des Bettes. Die nachlässig zugezogenen Brokatvorhänge reihten sich in die Unordnung ein und durch den breiten Spalt konnte man den sternenklaren Nachthimmel sehen. Lucs Lider flatterten unruhig. Er stöhnte, als würde er ebenso schlecht träumen wie Henriette es getan hatte.

„Luc?“, flüsterte sie. Vorsichtig tapste sie näher und unterdrückte einen Schmerzenslaut, weil sie auf einen spitzen Gegenstand gestiegen war. Innerlich fluchend bückte sie sich, massierte die pochende Stelle am Fuß und schaute gleichzeitig prüfend über den Boden. Doch in der Düsterkeit konnte sie nichts erkennen.

Ihr Bruder drehte sich auf die andere Seite. Sein nackter Rücken schimmerte bronzen im schalen Licht. Der Schmerz in ihrem Fuß ließ nach, wohingegen das Verlangen stärker wurde, Lucs vertraute Wärme zu spüren. Seinen Trost und die Geborgenheit.

Vorsichtig legte sie sich neben ihn.

Noch immer spürte sie ein leichtes Pochen im Fuß und starrte zur stuckverzierten Decke hoch. Dabei dachte sie wieder an den Albtraum, den sie gehabt hatte. Was genau sie träumte, wusste sie nicht mehr, nur, dass sie mit einer unerklärlichen Angst aufgewacht war. Eine Angst, die sie ohnehin beherrschte, seitdem Lotti sie aus dem Salon gewiesen hatte. Zwar hatte sie an der Tür gelauscht, doch alle hatten so leise gesprochen, dass sie kein Wort verstanden hatte. Dann hatte sich jemand genähert und sie war in ihr Zimmer geeilt. Beim Abendessen hatte Luc gefehlt und auf ihre Nachfrage hin bekam sie weder von Lotti noch von der Mutter eine Antwort. Doch damit wollte sie sich nicht zufriedengeben und hatte gewartet, bis es im Schloss endlich still geworden war, um sich in Lucs Zimmer zu schleichen.

Seufzend wandte sie den Kopf zu ihm und spürte seine warme Haut an ihrem Handrücken. Ihr Bruder regte sich und murmelte etwas Unverständliches. Dann drehte er sich plötzlich zu ihr. Gleichzeitig legte er seinen Arm um sie. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Verschlafen öffnete er die grau–blauen Augen, die im schimmernden Kerzenlicht funkelten. Sekundenlang schaute er sie an. Bis der Glanz in seinen Augen erlosch.

„Was tust du in meinem Bett?“ Abrupt zog er seinen Arm zurück und rückte von ihr weg, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

Kälte erfasste Henriette. Nicht, weil er sie zornig anschaute, sondern weil sich seine Worte unendlich verzweifelt anhörten. „Ich habe schlecht geträumt“, sagte sie.

„Du bist kein kleines Kind mehr, verdammt noch mal!“, fuhr er sie an. Henriette war völlig perplex. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass er so abweisend sein würde. „Früher war es in Ordnung, dass du zu mir gekommen bist. Aber jetzt bist du sechzehn Jahre alt und wirst zur Frau. Deswegen solltest du dich auch wie eine benehmen.“

„Wer sagt das?“, wehrte sie sich gegen seine verletzende Aussage. „Lotti? Unsere Mutter?“

„Ich, wenn du es genau wissen willst.“

„Und das soll ich dir glauben?“

„Glaub, was du willst.“

Tränen traten in ihre Augen. „So hast du noch nie mit mir gesprochen.“

Sie glaubte, Mitleid in seinem Blick zu lesen. Bedauern. Sogar Schmerz. „Ich will dir nicht wehtun, Henriette. Aber wir können nicht ewig Kinder sein und ständig aneinanderkleben. Außerdem plane ich meine Zukunft, die weit weg von dir stattfinden wird. Insofern musst du lernen, deine Probleme alleine zu bewältigen und ohne mich auszukommen.“

„Das will ich aber nicht.“

„Es wird dir nichts anderes übrigbleiben.“

„Magst du mich nicht mehr?“

Luc machte einen tiefen Atemzug, als würde er keine Luft bekommen. „Natürlich mag ich dich. Du bist … meine Schwester. Trotzdem müssen wir vernünftig sein. Lotti ist es ohnehin schon lange ein Dorn im Auge, dass du mich immer wieder in meinem Zimmer aufsuchst. Dafür bist du inzwischen zu alt.“

„Du hast dich bisher nie um Konventionen geschert.“

„Dann fange ich eben jetzt damit an.“

„Möchtest du mit Gewalt alles kaputt machen, was uns verbindet?“ Henriette wollte näher zu ihm rücken, doch er hob abwehrend die Hände. Die Kluft zwischen ihnen war nicht nur spürbar, sondern jetzt auch sichtbar. „Wir sind Geschwister, Luc.“ Unwillig verzog er das Gesicht. „Rede mit mir.“

„Worüber soll ich mit dir reden? Über Märchen oder Zedern?“, spottete er. „Sei mir nicht böse, aber ich bin müde und möchte schlafen. Also geh bitte und lass mich in Ruhe.“

„Darauf kannst du lange warten.“ Henriette verschränkte die Arme vor der Brust. „Ehe ich nicht weiß, was los ist, rühre ich mich nicht vom Fleck.“

„Sag mal, hast du mich nicht gehört oder willst du mich nicht hören?“ Jedes einzelne Wort hatte sich angefühlt, als wäre er ihr mit einem Nagelkissen über die Haut gefahren. „Ich möchte alleine sein. Respektiere das. Es schickt sich einfach nicht, als junge Frau in das Bett eines Mannes zu steigen. Noch dazu trägst du dieses dünne Nachthemdchen!“

„Eines Mannes?“, erzürnte sich Henriette. „Das hört sich an, als … du bist mein Bruder!“

„Und trotzdem ein Mann.“ Luc deutete mit verschlossener Miene zur Tür. „Nun geh.“

Sie fühlte sich, als würde sie wie ein kleines Kind vor einer unsichtbaren Barriere herumirren und sich pausenlos fragen, wie es diese Hürde überwinden konnte. „Warum bist du so kalt?“, fragte Henriette leise. „Was in Gottes Namen habe ich dir getan?“

„Nichts.“

„Dann gibt es keinen Grund, mich so zu behandeln.“

„Wie behandle ich dich denn?“

„Als wäre Louis in deinen Körper geschlüpft.“

„Ach Henriette, so schlimm ist unser Bruder nicht. Meistens jedenfalls. Du bist zu sehr auf mich fixiert, als dass er je eine Chance gehabt hätte, für dich da zu sein. Warum gehst du nicht zu Louis und weinst dich zur Abwechslung bei ihm aus?“

„Auch er ist ein Mann. Wo ist der Unterschied?“

Lucs Lippen wurden zu einem schmalen Strich. „Du hast recht, es gibt keinen. Auch ihm würde die Geduld für die Sorgen eines kleinen Mädchens fehlen.“

„Oh, jetzt bin ich wieder klein“, verhöhnte sie ihn. „Du verstrickst dich in Widersprüche.“ Ihr Zorn verstärkte sich. „Warum sprichst du mit mir, als wäre ich eine Aussätzige? Geschweige denn, dass du mir kaum in die Augen sehen kannst, so wie jetzt.“

„Hör auf mit diesen Hirngespinsten. Da ist nichts.“

„Du lügst wie gedruckt! Ihr alle! Euer Streit heute war nicht zu überhören. Weshalb hat Mutter dich angeschrien? Oder warum schleicht sie wie ein geprügelter Hund durch das Schloss?“

„Frag sie.“

„Ich frage aber dich, Luc“, antwortete sie um Ruhe bemüht. „Dich, meinen über alles geliebten Bruder. Den Menschen, dem ich vertraue wie niemandem sonst auf dieser Welt. Bitte, lass mich nicht im Unklaren.“ Henriette überlegte kurz. „Hast du Probleme?“

„Ja“, fuhr er sie neuerlich mit einer Heftigkeit an, dass sie sich wie gelähmt fühlte. „Dich! Du bist mein Problem. Und nun verlass augenblicklich mein Zimmer!“

Grob umfasste er ihren Arm und drängte sie aus dem Bett. Henriette war so überrascht, dass sie über die Kante rutschte und hart auf dem Boden aufschlug. Tränen schossen ihr in die Augen. Seine Geste fühlte sich an, als hätte er sie geschlagen und Luc blickte sie an, als hätte er es tatsächlich getan. Schluchzend rappelte sie sich auf, lief aus dem Zimmer und als sie nebenan in ihrer Kammer war, ließ sie sich weinend auf das Bett fallen.

Gleichzeitig hörte sie Lucs unruhige Schritte und hielt sich die Ohren zu. Sie hasste ihn! Ja, in diesem Augenblick hasste sie ihn abgrundtief. Wie konnte er sie auf diese Weise behandeln? Nie zuvor hatte sie sich ihm ferner gefühlt. Was war nur los? Weshalb verhielt er sich so? Warum reagierte die Großmutter auf ihn, als hätte er Lepra? Irgendetwas ging hier vor. Etwas, das ihre Familie auseinanderbrechen ließ wie einen Porzellanteller, den man mit voller Wucht auf den Boden schmetterte. Aber niemandem lag scheinbar etwas daran, die Scherben einzusammeln, um ihn zu kitten. Selbst ihr nicht. Sollte Luc der Teufel holen!

Wie gerädert saß Henriette mit Lotti und ihrer Mutter am Frühstückstisch. Eine seltsame Atmosphäre herrschte vor und die Stille war kaum zu ertragen. Auch Luc ließ sich nicht blicken, doch das war ihr nur recht. Eine Weile würde sie ihn schmoren lassen, denn dieses Verhalten hatte sie einfach nicht verdient.

„Hast du Pläne für heute, Lotti?“, erkundigte sich die Mutter mit teilnahmsloser Miene und nippte an ihrem Morgenkaffee.

„Madame de Rohan hat ihren Besuch angekündigt. Sie und ihre Schwester Rosalie werden vermutlich am Nachmittag eintreffen.“

„Aha.“

„Ich finde diese Frauen ziemlich aufdringlich“, meldete sich Henriette zu Wort und strich etwas Konfitüre auf ihr Weißbrot. „Sie zerreißen sich ständig den Mund über andere. Gibt dir das nicht zu denken, Großmutter?“

„Leider kann man sich manche Gesellschaft nicht aussuchen.“ Sie wechselte einen seltsamen Blick mit der Mutter. „Unsere Familie hat Verpflichtungen. Madame de Rohan gehört dazu. Immerhin ist sie Dianas Patentante.“

Wieder legte sich eisiges Schweigen über den Tisch. Nur das Klappern des Bestecks war zu hören. Hin und wieder drang das Wiehern eines Pferdes durch die Fenster. In der Nähe gab es eine große Koppel, die einem Pferdezüchter gehörte.

Benedikta kam mit einem Tablett herein, das sie umsichtig in die Mitte stellte, nachdem sie andere Sachen etwas beiseitegeschoben hatte. Speck lag darauf, den besonders Luc liebte.

„Das kannst du gleich wieder mitnehmen“, befahl die Großmutter. „Oder möchte jemand von euch etwas davon?“

„Nein.“ Die Mutter stellte ihre Tasse auf den Unterteller. Es klirrte leise.

„Ich auch nicht“, antwortete Henriette. „Aber Luc bestimmt. Ihr kennt ihn ja.“ Sie versuchte heiter zu klingen, obwohl ihr zum Weinen war. Die ganze Nacht hatte sie sich das Gehirn darüber zermartert, wieso sich Luc so verhielt. Diese Ungewissheit und die Distanz zwischen ihnen waren kaum auszuhalten.

„Luc ist zu weit fort, als dass er vom Speck kosten könnte“, ließ Lotti unvermittelt verlauten. Die Mutter schob die Tasse von sich.

„Wie soll ich das verstehen?“ Eine dunkle Vorahnung erfasste Henriette, die es heiß und kalt durchfuhr.

„Dein Bruder ist auf dem Weg zu Hermann Moritz von Sachsen.“ Ihre Mutter sank tiefer in den Stuhl, zog die Hände auf den Schoß und faltete sie wie zum Gebet.

„Wann ist er fort?“ Henriette legte das Brot achtlos auf den Tisch. Ihr Mund fühlte sich trocken an.

„Kurz nach Mitternacht brach er auf“, gab Lotti Auskunft und pflückte eine Traube vom Strunk, der im Silberteller griffbereit neben ihr stand. „Zumindest hat das der Stallbursche gesagt.“

„Ohne sich zu verabschieden?“ Henriette schaute zu ihrer Mutter.

„Luc mag keine Abschiedsszenen“, erklärte diese, „so gut solltest du ihn kennen.“

„Ach ja? Im Augenblick habe ich das Gefühl, dass ich ihn gar nicht mehr kenne oder vielmehr nie gekannt habe.“ Die Wut und der Hass kamen zurück. Mehr denn je, weil es ihr Bruder nicht der Mühe wert gefunden hatte, sich vorher mit ihr auszusprechen.

„Du bist ziemlich zornig auf ihn. Ist etwas vorgefallen zwischen euch?“, hakte Lotti kurzatmig nach.

„Wir haben uns gestritten.“

„Wann?“

„Gestern. Ich bin … in sein Zimmer gegangen, weil ich mit ihm reden wollte. Euer Streit hat mich nicht in Ruhe gelassen.“

„Hat Luc erzählt, worum es ging?“ Selten war ihre Großmutter blasser gewesen.

„Ja“, schwindelte Henriette. Vielleicht kam sie so der Sache auf den Grund.

„Ach, dann weißt du also, dass er verliebt ist?“, fragte Lotti. Die Mutter wollte etwas sagen, doch die Großmutter machte eine herrische Handbewegung.

„Tatsächlich?“ Henriette war überrumpelt, traurig und sogar fassungslos. Alles stürzte gleichzeitig auf sie ein, obwohl sie sich eigentlich für Luc hätte freuen müssen. Aber sie konnte es nicht, weil ihr diese Neuigkeit nicht passte. Ganz und gar nicht passte, ohne dass sie wusste, wieso.

„Wie ich vermutet habe: Du hast keine Ahnung“, sagte die Großmutter mit einem kurzen Seitenblick zu Henriettes Mutter. „Jedenfalls ist Luc wegen diesem … Mädchen fortgegangen. Unser Streit gestern war vermutlich der Auslöser, weil wir mit seiner Wahl absolut nicht einverstanden sind. Habe ich recht, Babette?“ Die Mutter nickte hölzern. „Dieses blutjunge Ding ist die Falsche für ihn. Dennoch lässt sich Luc nicht davon abbringen, sie zu lieben. Nun ja, mich überrascht das Ganze nicht im Geringsten.“

„Seit wann wisst ihr von dieser Frau?“

„Es ist schon länger her, als ich merkte, dass etwas in der Luft liegt“, teilte die Großmutter mit. „Gestern sprach ich ihn darauf an und er hat alles gestanden.“

Kein einziges Wort hatte ihr Bruder darüber verloren. Als würde er ihr nicht mehr vertrauen. Aber konnten sich die Dinge tatsächlich innerhalb weniger Stunden auf diese Weise ändern? Bei der Bootsfahrt war noch alles in Ordnung gewesen. Nun saß sie hier und hatte keine Ahnung, was sie denken sollte. Ob ihn diese Frau verhext hatte? So sehr, dass ihm alles egal war? Sogar sie?

Alles in Ordnung?, hallte es in ihr nach. Bei genauerer Betrachtung hatte sich Luc schon gestern während ihres Ausflugs seltsam verhalten. Als würde er sich in ihrer Gegenwart unwohl fühlen. Warum hatte sie das auf sich beruhen lassen statt nachzubohren?

Fragen, die sie in den folgenden Wochen regelrecht verfolgten. Die Zeit auf Schloss Ussé war nicht mehr dieselbe. Deswegen war sie froh, als sie wieder nach Paris zurückkehrten. Sogar die Schule war eine willkommene Abwechslung, um sich abzulenken.

Im Jänner des darauffolgenden Jahres heirateten Diana und Louis auf Versailles, wo sie sich in der Schlosskapelle das Ja–Wort gaben. Allerdings war Henriettes Bruder etwas angetrunken. Am Vortag hatte man in den Gemächern des Königs die Hochzeitspapiere unterschrieben und die anschließende Verlobungsfeier dauerte bis zum Morgengrauen.

Diana sah über Louis’ Fauxpas lächelnd hinweg und wirkte hübsch in ihrem Hochzeitskleid. Ihre fünfzehnjährige Schwägerin trug das dünne dunkelblonde Haar hochgesteckt und hatte es mit Perlen verzieren lassen. Am Hals glänzte eine Kette mit einem großen Kreuz. Ihr Kleid war an den Schultern gerafft, die Halbärmel mit erlesener Spitze verziert wie der Saum ihrer Robe. Nur ihr schwerer Umhang sorgte für allerhand Gesprächsstoff.

Bei der Messe hätte eine von Dianas Cousinen die ehrenvolle Aufgabe gehabt, die Schleppe zu tragen. Doch kurz vor der Trauung weigerte sich die Cousine plötzlich mit der Ausrede, dass eine andere diesen Dienst übernehmen sollte. Ehre hin oder her, die Schleppe hatte ein enormes Gewicht und so lehnte eine nach der anderen ab. Schließlich entbrannte sogar ein Streit darüber. Diana hatte nur hilflos zugehört, bis sich Henriette und ihre Mutter anboten, um ihr weitere Peinlichkeiten zu ersparen. Letztendlich erbarmte sich jedoch eine Cousine, womit dieses Trauerspiel endlich ein Ende fand.

Im Sommer fuhr die gesamte Familie wieder zum Schloss Ussé. Nur Diana war es zu verdanken, dass Henriette zu ihrer alten Freude zurückfand, weil ihre Schwägerin ganz vernarrt in diesen Flecken Erde war. Besonders der Hügel, auf dem eine uralte Traubeneiche stand, hatte es ihr angetan. Oft machten sie dort ein Picknick und blickten auf den Indre hinunter. Überhaupt verstand sie sich prächtig mit Diana und sie wurden enge Freundinnen, obwohl Henriette häufig an Jeanne denken musste, die sie bis dahin nicht mehr wiedergesehen hatte. Allerdings schrieben sie sich. Inzwischen war Jeanne mit Charles verheiratet. Leider konnte sie erneut nicht zum Sommerball kommen, versprach jedoch feierlich, im nächsten Jahr verlässlich dabei zu sein.

Als sie in Paris eintrafen, war Diana bereits hochschwanger und gebar im Oktober ihren Sohn. Louis war außer sich vor Freude und veränderte sich seit der Hochzeit zu seinem Vorteil. Er wurde um ein Vielfaches umgänglicher, weshalb sie um einiges besser auskamen als früher. Manchmal nahm er Henriette sogar zu einem Verkäufer mit, um Kunstwerke zu erstehen, denn er hatte seine Leidenschaft als Sammler entdeckt. Sogar Ludwig äußerte sich lobend über ihn, da Louis nun als Pair des Parlaments fungierte. In diesem Amt vermittelte er zwischen dem König sowie dem Parlament und hielt die Prinzen im Zaum.

Eigentlich hatte sich alles wunderbar gefügt, doch Luc war und blieb Henriettes Wermutstropfen. Es gab Zeiten, in denen sie ihn verwünschte. Dann wiederum hoffte sie, dass er bald zurückkommen würde. Sein Weggang schmerzte nach wie vor wie der Gedanke, dass er womöglich bereits ein verheirateter Mann war. Vielleicht hatte er sogar Kinder? Jedes Mal, wenn sie diese Möglichkeit in Betracht zog, gab es ihr einen Stich ins Herz. Eine Regung, die sie sich damit erklärte, dass sie sich ausgeschlossen fühlte. Von ihm, von seinem Leben. Als hätte sie nie eine Rolle darin gespielt. Hinzu kam, dass so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen lag. Sie hätte einen Abschluss gebraucht, um die Angelegenheit endgültig verarbeiten zu können. Doch tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass sie unter seinem Fortgehen trotzdem nicht weniger gelitten hätte. Luc fehlte ihr unsagbar.

Im Frühjahr des nächsten Jahres zogen die Mutter und sie zur Großmutter. Aufgrund einiger baulicher Mängel hatte sich der Umzug um Monate verzögert. Doch das Palais entschädigte für vieles. Es war beeindruckend. Riesige Empfangsräume, feudale Appartements, eine große Galerie mit atemberaubendem Blick auf die Seine, lange Korridore und ein wunderschöner Park standen ihnen zur Verfügung. Es dauerte einige Zeit, bis sich Henriette zurechtfand. Allerdings gab es eine Tür, die verschlossen blieb und Lotti machte ein großes Geheimnis darum, weshalb.

Doch die Neugierde wurde von einem anderen Gefühl übertroffen, denn mit einer Sache freundete sich Henriette sofort an: mit der Stille. Es gab kein Gedränge, keine Höflinge und vor allem keine Großtante mit Gefolge, was vor allem ihre dreißigjährige Tochter Charlotte betraf, die kurz nach ihrem Umzug im März aus Italien zurückkehrte. Sie hatte ihren Mann – den Herzog von Modena – verlassen, mit dem sie zehn Kinder gezeugt hatte. Leider starben vier von ihnen. Aber das war für Charlotte nie so wichtig gewesen wie Vergnügungen aller Art. Davon hatte es in der Heimat ihres Mannes angeblich zu wenig gegeben, außerdem lebte ihre große Liebe Richelieu in Frankreich. Alle Welt vermutete, dass er der eigentliche Trennungsgrund war. Allerdings hatte Charlotte nur ihre Tochter Maria Fortunata mitgenommen und die restlichen Kinder zurückgelassen wie unliebsames Gepäck. Ihre Abreise aus Modena wurde jedenfalls mit einem Jubelfest gefeiert und man erzählte sich, dass ihr Mann am lautesten von allen gefeiert hätte. Das glaubte Henriette unbenommen.

„Freust du dich auch so auf unsere Sommerfrische?“, erkundigte sich Diana und hakte sich bei Henriette unter, als sie durch den Park spazierten.

„Sicher.“ Das war nur die halbe Wahrheit.

„Noch ein Monat.“

„Ja.“

„Oder ein Jahrhundert?“

„Genau.“ Henriette blickte zu ihr. „Entschuldige, was hast du gesagt?“

„Wo bist du bloß mit deinen Gedanken?“ Diana kratzte sich am Kinn. Der rote Fleck sah nach einem Mückenstich aus. „Du hast Angst, was dieser Sommer mit sich bringt, nicht wahr?“

„Na ja, meine Ausbildung ist zu Ende.“ Diana kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, wenn etwas nicht in Ordnung war. „Lange wird es nicht mehr dauern, bis ich verheiratet bin.“

„So mutlos habe ich auch geklungen. Aber inzwischen bin ich überglücklich. Dein Bruder ist das Beste, das mir passieren konnte und unser Sohn Antoine macht mein Leben perfekt.“

Sie kamen an einigen Kiefern vorbei, die bereits lange Schatten warfen. Henriette löste sich von Diana und lehnte sich an einen Stamm. „Dass du meinen Bruder liebst, ist ein Glücksfall. Erst recht, dass Louis deine Gefühle erwidert. Doch wir wissen beide, dass so etwas Seltenheitswert hat und der Herzog von Penthiévre ist nicht mehr der Jüngste. Wenn ich schon heiraten soll, dann möchte ich wenigstens einen jungen Mann. Keinen Vaterersatz.“ Lautes Hämmern durchbrach die wohltuende Ruhe. In Lottis unmittelbarer Nachbarschaft war ein ebenso beeindruckendes Palais entstanden, auf dem sich heute viele Handwerker tummelten.

„Daher weht der Wind. Du träumst von einem Prinzen auf einem weißen Pferd.“

„Warum nicht?“ Henriette fuhr mit der flachen Hand über den rauen Stamm und dachte an Luc. Nach wie vor hatte sie nichts von ihm gehört. Kein Brief. Nichts. Nur die Mutter hatte auf Umwegen erfahren, dass es ihm gut ging. Zumindest vor ein paar Monaten. Da war er in Prag gewesen. Einen Tag nach dieser Neuigkeit hatte Henriette ein Portrait von ihm gezeichnet, das sie seither in ihrer Schatztruhe aufbewahrte. Egal wie die Dinge gelaufen waren, Luc würde immer einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben bleiben.

„Gibt es etwa schon einen Mann, der dir gefällt?“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Henriette verwundert.

„Du wirkst plötzlich so verträumt.“

Henriette unterließ ihr Tun. „Was du immer denkst.“

„Könnte ja sein.“ Diana lächelte. „Lass uns hineingehen. Das Abendessen wird bald serviert und ich habe einen gesegneten Appetit.“

„Hattest du den nicht auch, als du mit Antoine schwanger warst?“ Henriette schlenderte neben Diana auf das Palais zu. Einer der Gärtner goss gerade die Blumen, die zu beiden Seiten der breiten Eingangstreppe blühten. „Und jetzt fällt mir auf, dass du zugenommen hast.“ Sie blieb stehen. „Kann es sein, dass du …“

„Ja“, rief Diana lachend aus und drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse, als wäre sie trunken vor Glück. „Ich bekomme ein Kind. Ist das nicht wunderbar?“

„Weiß es mein Bruder schon?“

Diana blieb stehen und schwankte etwas. „Natürlich. Er ist schließlich der Vater und sollte es als Erster erfahren.“ Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „Leider hat er im Augenblick ziemlich viel zu tun. Ich sehe ihn kaum noch.“

„Das wird sich ändern, sobald wir auf Schloss Ussé sind.“

Jetzt lachte Diana wieder. „Stimmt. Das wird die beste Zeit unseres Lebens, du wirst sehen. Denn ich fühle geradezu, dass auch dir die große Liebe bald begegnen wird. Sofern sie das nicht längst getan hat.“

Die Geschwister Bourbon-Conti - Ein fatales Familiengeheimnis

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