Читать книгу Die Geschwister Bourbon-Conti - Ein fatales Familiengeheimnis - Bettina Reiter - Страница 9
5. Kapitel
ОглавлениеParis
In der Badestube – die sich in der Rue de Fossés Saint–Germain befand – dampfte es. Die Spiegel waren beschlagen und es herrschte eine große Hitze. Louis saß auf der untersten Schwitzbank und lehnte mit dem Rücken an der warmen Mauer. Schweißtropfen rollten von seiner Stirn und traten aus jeder Pore seiner Haut. Er beugte sich zum Eimer mit kaltem Wasser hinunter, der zwischen seinen Füßen stand, und tauchte die Hände hinein. Sein silberner Ehering blitzte auf.
Unwillig lauschte er dem philosophischen Gespräch von Denis und Voltaire, der sie in die Badestube eingeladen hatte. Meistens war sie überfüllt, aber Voltaire hatte dem Bader viel Geld bezahlt, damit sie unter sich waren. Hier konnten sie nach Lust und Laune über verschiedene Dinge diskutieren. Selbst Ludwig beschimpfen, ohne bespitzelt zu werden wie nebenan im Café Procope. Es war ein offenes Geheimnis, dass dort Spione des Königs Gespräche belauschten, denn es traf sich ein buntes Volk an Künstlern, Dozenten, Gelehrten, Freimaurern und Politikern. Nicht selten kam es zu Verhaftungen. Um dem zu entgehen, boten sich geheime Treffen wie dieses an.
Voltaire hatte es zu einem bescheidenen Vermögen gebracht, hielt sich jedoch selten in Paris auf und war ein Lebenskünstler, der schon einige Male auf der Flucht, in der Verbannung oder in der Bastille gewesen war. Bereits in jungen Jahren hatte er sich für Theater und Literatur begeistert, aber sein Vater wollte einen Juristen aus ihm machen. Voltaire hatte sich gefügt, ein Studium begonnen und einige Zeit in Caen und Den Haag gearbeitet. Doch heimlich hatte er sich weiterhin der Kunst gewidmet und sich in seine ´Pimpetteˋ verliebt, wie er die junge Hugenottin noch heute nannte. Voltaire, der das Leben ebenso leidenschaftlich füllte wie leeres Papier, hatte sie damals sogar entführen wollen. Doch bevor es dazu kam, war er nach Hause diktiert worden und nach einigem Hin und Her hatte der Vater akzeptiert, dass er kein Mensch für trockene Gesetzestexte, Satzungen oder Klauseln war. Seitdem konzentrierte sich sein Freund voll und ganz auf sein künstlerisches Dasein und war bekannt für beißende Texte, die ihm ständig neue Feinde bescherten, aber genauso viele Anhänger.
Louis hob die Hände aus dem Wasser und fuhr sich über Gesicht und Nacken. Im selben Augenblick fiel etwas klappernd zu Boden. Als er einen Wehlaut hörte, sprang Louis hoch und prallte prompt gegen die obere Bankkante. „Verdammt“, fluchte er.
„Keine Angst, ich habe alles im Griff“, drang Diderots Stimme zu ihm, der sich mit Voltaire hinter der Nische befand, wo die Wanne mit kaltem Wasser stand.
„Ich meinte nicht dich, du Idiot.“ Louis rieb sich die schmerzende Stelle am Hinterkopf und setzte sich wieder auf die Bank. „Ich habe mir wehgetan.“
„Nicht nur du“, beklagte sich Diderot.
Voltaires Lachen erschallte, der kurz darauf hinter der Nische hervortrat und sich neben Louis niederließ. „Ihr habt wohl beide einen schlechten Tag, was?“, mokierte er sich in seiner spöttischen Art und Louis fragte sich, ob auch er irgendwann Opfer seiner hämischen Essays oder Gedichte werden würde. „Du bist ziemlich still heute“, wurde Voltaire ernst, zog geräuschvoll Schleim aus dem Schlund und spuckte aus. Dann schob er den Eimer zu sich und tauchte den rechten Fuß hinein. Das Wasser schwappte über und umspülte Louis’ Zehen.
„Dafür redet ihr zwei umso mehr“, warf Louis mürrisch ein.
„Das hat dich bisher nie gestört.“
„Dann stört es mich eben heute.“
„Du liebe Zeit, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“ Voltaire schüttelte den Kopf. Sein langes Haar war nass wie sein nackter Körper. „Im Übrigen hindert mich schlechte Laune beim Denken.“
„Wieso? Hast du ein neues Opfer im Auge, das du beleidigen willst? So wie Dianas Vater?“
„Wie kommst du ausgerechnet auf ihn?“, wunderte sich Voltaire, der ein dickes Fell zu haben schien. Andererseits, wer austeilte musste auch einstecken können. „Aber du hast recht, dein Schwiegervater und ich waren nicht gerade Freunde. Dasselbe gilt für König Ludwig. Er hat mir vorige Woche verboten, je wieder sein Schloss zu betreten.“ Voltaire lachte und lehnte sich zurück. „Na ja, er wird sich wieder beruhigen. So war es immer, und so wird es immer sein. Dein Schwiegervater war in dieser Hinsicht allerdings um einiges starrköpfiger.“
„Wundert dich das? Deine Gedichte waren manchmal schärfer als jede Waffe.“ Wiederholt fragte sich Louis, ob sein Schwiegervater Diana dasselbe angetan hatte wie ihrer – im Volk als ´Messalinaˋ bekannten – Schwester. Angeblich hatte er Stunden in Messalinas Kammer verbracht, sobald sie kränkelte, und nicht nur dann. Das gab Voltaire viel Pulver für schlüpfrige Gedichte. Einer der Gründe für die Verbannung aus Paris.
„Trotz allem hast du eine jährliche Sondervergütung von meinem Schwiegervater erhalten und bewegst dich wie selbstverständlich in Adelskreisen“, kramte Louis in Voltaires Leben, der sich keinen Deut um Konventionen scherte. „Man hat einige deiner Werke zensiert, die du postwendend unter falschem Namen veröffentlich hast. Außerdem pflegst du eine jahrelange Freundschaft mit der einflussreichen Marquise de Prie. Sie protegiert dich, wo sie kann, und hat dir sogar den Zugang zum Hof ermöglicht. Dann wiederum hast du Chevalier de Rohan diffamiert, der dich zusammenschlagen ließ, bist in der Bastille gelandet und nach deiner Freilassung nach England ausgewandert.“ Der Bader legte ein paar Holzscheite in den Ofen, der sich in ihrer Nähe befand. Ein Heißwasserkessel stand darauf. „Du bewunderst die Engländer für ihren Fortschritt, hast dir dort einen Namen gemacht, sogar die Sprache gelernt und …“
„Ich bin nach wie vor fasziniert von diesem Land“, fiel Voltaire ihm ins Wort. „Die Willkür des Königs und des Adels sind eingeschränkt, der Glaube gehört nur einem selbst und die Wirtschaft ist bemerkenswert.“ Voltaire hob seinen Fuß aus dem Wasser. Die Haut war runzlig wie ein verschrumpelter Apfel. Wohlig seufzend streckte er die behaarten Beine neben dem Eimer aus. „Aber was willst du mir eigentlich sagen? Ich kenne mein Leben. Du musst es mir nicht haarklein erzählen.“
„Du scherst dich um gar nichts. Sogar der Kerker juckt dich nicht. Hast du eigentlich etwas daraus gelernt?“
„Oh, nein.“ Voltaire rückte von ihm ab und hob abwehrend die Hände. An den Kuppen der Zeigefinger und Daumen hatte er eine dicke Hornhaut. „Machst du dir etwa Sorgen um mich, mein Freund?“
„Manchmal sollte man lieber den Mund halten.“ Louis überlegte kurz. „Würdest du wegen einer guten Geschichte auch unsere Freundschaft vergessen?“
Voltaires Miene verfinsterte sich. „Ah, du machst dir um dich selbst Sorgen, und wieder einmal um dein Ansehen. Aber meine Antwort lautet nein, denn du bist mein Freund. Allerdings spielst du nicht zum ersten Mal darauf an. Vielleicht solltest du mich einweihen.“
„Worin?“, fragte Louis, der zornig auf sich selbst war. Schlafende Hunde sollte man lieber nicht wecken! „Ich bin nur neugierig, wie weit du für den Applaus gehen würdest.“
„Selbst mir ist nicht ständig nach Applaus, schon gar nicht auf Kosten unserer Freundschaft. Außerdem genieße ich zurzeit mein beschauliches Leben in der Champagne, habe in Émilie eine wunderbare Geliebte und alles andere im Sinn, als zu flüchten oder aus Paris verbannt zu werden, wofür du mit Sicherheit sorgen würdest. Womit es also einige Gründe gibt, die gegen ein Gedicht über dich sprechen. Außerdem wüsste ich nichts, das dich bloßstellen würde.“
„Ich auch nicht“, schwindelte Louis. „Aber was nicht ist, könnte ja noch werden.“ Zwar traute er Voltaire keinen Verrat zu, aber diese Bescheidenheit klang überhaupt nicht nach ihm.
Sein Freund kratzte sich am Bauchnabel. „Ob ich die Kirche oder unseren König kritisiere, spöttische Gedichte und respektlose Aufführungen inszeniere, selbst ich habe meine Grenzen. Obwohl ich ein Glückskind bin und immer wieder davonkomme.“ Das war wieder der Voltaire, den Louis kannte. „Viele beneiden mich um meine guten Verbindungen zum Adel und zu den Preußen“, schnitt er weiter auf. „Friedrich ist ein angenehmer Mann und einer meiner größten Wohltäter. Mir geht es gut, und in den vierzig Jahren meines Lebens habe ich viel erreicht. Darauf bin ich stolz. Trotzdem fühle ich mich manchmal zu alt, um mich zu ändern und dann wiederum zu jung, um es nicht zu tun. Aber es gibt Prinzipien, denen ich treu bleibe. Wenn es auch nicht viele sind.“
„Was immer du Louis damit sagen willst“, mischte sich Denis ein, der sich auf den umgedrehten Holzeimer vor dem Ofen setzte. Der Bader stand in voller Montur neben ihm. „Himmel, diese Hitze hält ja kein Mensch aus.“ Denis sprang sogleich wieder hoch. Die Rippenknochen zeichneten sich deutlich unter dem weißen Fleisch ab. Auf seiner Hühnerbrust zeigte sich kein einziges Haar, denn er rasierte sich regelmäßig. Auch andere Stellen, an denen sich Läuse einnisten konnten, fielen der Rasur zum Opfer. Anders verhielt es sich mit seinem Kopfhaar. Mit nur achtundzwanzig Jahren litt er an kreisrundem Haarausfall und beneidete Voltaire um dessen Lockenpracht, die sich weit über die Schultern hinunterkräuselte, obwohl er dessen ungeachtet mit Vorliebe Perücken trug.
„Wärst du eine Mahlzeit, würde ich kaum satt“, brummte Voltaire. „Wenn ich mir Louis dagegen ansehe … bei ihm ist alles groß. So wie bei mir.“
Louis schlug ihm mit der flachen Hand auf den Arm. Als er wieder zu Denis blickte, suchte dieser mit beleidigter Miene seine Kleidung zusammen.
„Deine Vorliebe für Blau ist mittlerweile in ganz Paris legendär, wusstest du das?“, schmeichelte Louis ihm, weil er Denis gut genug kannte, um zu wissen, dass ihn Voltaires Aussage getroffen hatte. In vielerlei Hinsicht. „Damit machst du dich unverwechselbar.“ Denis trug bevorzugt Westen, Hosen, Unterkleider und Taftmäntel in dieser Farbe. Das meiste schenkte ihm Voltaire entweder aus seinem Privatbestand oder aus dem Fundus des Théâtre–Français.
„Trotzdem stehe ich immer im Schatten von anderen. Vor allem was meine Arbeit betrifft.“ Denis – der durchaus über Humor verfügte – verstand in dieser Hinsicht keinen Spaß und dass der fleischgewordene Erfolg leibhaftig vor seiner Nase saß, tat sicher sein Übriges. Denn während Voltaire tonangebende Mäzene um sich scharte, hielt sich Denis mit der Schriftstellerei mehr schlecht als recht über Wasser. Deswegen nahm er jeden Auftrag an, den er kriegen konnte. „Ich hasse diese stupiden Arbeiten“, wetterte Denis los und knüllte die Hose zu einem Bündel zusammen. „Das Übersetzen von sinnfremden Texten langweilt mich zu Tode. Dabei hätte ich viele Ideen, um sie interessanter zu machen. Mon dieu, manchmal frage ich mich, ob ein Theologiestudium nicht doch der bessere Weg gewesen wäre.“
„Deine Liebe zum Schreiben ist so stark wie meine“, äußerte sich Voltaire, der den Ernst der Lage scheinbar auch erkannt hatte. „Und um deine Liebe zu Nanette beneidet dich ohnehin jedermann. Du hast also durchaus etwas vorzuweisen, worauf du stolz sein kannst.“
In dieser Hinsicht hätte Louis gern widersprochen, was er jedoch Denis’ zuliebe unterließ. Aber die Wäscheverkäuferin war alles andere als attraktiv und die Letzte, worum er seinen Freund beneidete. Zumal Nanette weniger Brust hatte als Denis. Nur die Liebe zwischen den beiden suchte tatsächlich seinesgleichen, denn sein Freund hatte viel auf sich genommen, um sie zu heiraten. Sogar gegen den Vater hatte er sich gestellt, der ihm die Ehe nicht nur verboten hatte, sondern ihn in einem Kloster gefangen halten ließ, um sie zu verhindern. Seitdem war auch Denis nicht mehr gut auf die Kirche zu sprechen, dem letztendlich die Flucht gelang. Kurz danach hatte er das einfache Mädchen geheiratet. Doch die Ehe litt unter der Kinderlosigkeit, da besonders Nanette den Tod ihrer Tochter kurz nach der Geburt nicht verwinden konnte. Zu allem Überfluss war sie bislang nicht mehr schwanger geworden, was Denis in seiner Männlichkeit kränkte.
„Manchmal beneide ich euch tatsächlich“, stellte Louis fest.
„Wieso das denn?“ Denis knöpfte sich die Hose zu, während der Bader hinauseilte, und setzte sich dann zu ihnen. „Du gehörst dem Oberhaus des Parlaments an und bist Ludwigs Cousin. Schon diese Tatsache lässt uns weit hinter dir. Von deinem Titel als Prinz ganz abgesehen. Wenn also jemand neidisch sein könnte, sind wir das.“
„Aber Adel verpflichtet.“
„Na und? Wir müssen uns das Ansehen hart erarbeiten, einer wie du genießt es von Geburt an und vom vielen Geld kann unsereins nur träumen.“
Wenn er wüsste! „Geld ist vergänglich.“
„Da müsste man schon dumm sein, um ein solches Vermögen in den Wind zu schießen.“ Denis machte eine theatralische Geste. „Ich sehe die Überschrift schon förmlich vor mir: Der Prinz de Conti am Bettelstab.“ Louis sandte ihm einen grimmigen Blick und wurde wütend. „Keine Angst, ich habe dich und Voltaire vorhin gehört und stehe zu hundert Prozent hinter seiner Aussage. Für kein Geld der Welt würde ich unsere Freundschaft verkaufen. Aber wir sind nicht die einzigen, die reißerische Texte schreiben.“
Wie Louis das hasste! Was, wenn sie tatsächlich alles verlieren würden? Umso mehr hieß es die Zähne zusammenzubeißen und Geld heranzuschaffen. Egal wie. Denn er war ein Prinz von Geblüt. Der Gedanke zum verarmten Adel zu gehören, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Dafür war er zu gerne reich und genoss sein Ansehen, womit es ebenfalls vorbei wäre. Verdammt! Lottis Lebenswandel war wie eine Kettenreaktion, die auch ihn ruinieren könnte. Aber mit Henriettes Hochzeit wäre zumindest ein kleiner Anfang gemacht.
„Vielleicht übernimmst du tatsächlich irgendwann den Thron.“ Voltaire löste das moosgrüne Band, das seine Haarpracht zu einem Pferdeschwanz zusammengehalten hatte. „Du könntest es bis ganz nach oben schaffen. Ehrgeiz genug hast du ja.“ Er ließ das Band durch seine Finger gleiten. „Nicht umsonst nennt man dich mitunter ´Frondeurˋ. Du solltest deinen Einfluss nutzen und eine Opposition gründen, statt Ludwig dabei zu helfen, die Prinzen in Schach zu halten.“ Voltaire legte das Band neben sich und fuhr sich glättend über das Haar.
„Das ist im Augenblick mein geringstes Problem“, rutschte es Louis heraus.
„Also hast du doch Sorgen.“ Voltaire beugte sich nach vorne und stützte seine Unterarme auf die Oberschenkel auf. „Dein abweisendes Gesicht macht allerdings deutlich, dass du nicht darüber reden willst. Aus Erfahrung weiß ich jedoch, dass alles irgendwann ans Licht kommt. Doch bis dahin könnten wir für deine Zerstreuung sorgen. Mir schwebt ein Besuch im Procope vor. Anschließend hätte ich einen Vorstoß zu Madame Gourdan geplant.“ Voltaire grinste Denis an, der sich auch hin und wieder ein Amüsement im Hurenhaus gönnte.
Louis’ Lust hielt sich in Grenzen, zumindest was den Besuch bei Madame Gourdan betraf. Die alte Frau betrieb ein Freudenhaus in der Rue de Deux Portes. Zu ihren Kunden gehörten hohe Adelige, Geistliche und reiche Privatmänner. Am beliebtesten war der schalldichte ´Salon du Vulcanˋ, in dem sich die Gäste an Stühle fesseln ließen und ihren Neigungen nachgingen.
Zusätzlich besserte sich Madame Gourdan ihre Einkünfte mit einem regen Handel von ´Godemichésˋ auf, wie sie die Rute ohne dazugehörigen Mann nannte, die aber spuckte wie überlaufende Milch. Madame Gourdans Geschäft florierte. Sie belieferte insbesondere die umliegenden Klöster mit dem ´religiösen Schmuckˋ, wie die Godemischés offiziell genannt wurden. Zudem besaß sie einen Landsitz und verkaufte von dort aus die Kinder ihrer Huren. Für horrende Preise, aber auch hier stimmte angeblich der Umsatz. Was für Louis unerklärlich war, denn es musste sich um gutsituierte Familien handeln, die sich das leisten konnten. Doch wer holte sich freiwillig eine Brut ins Haus, die aus dem Bauch einer dreckigen Hure stammte?
„Madame Gourdan widert mich an.“ Louis schüttelte sich, als hätte ihn der Tod gestreift. „Vermutlich spürt sie meine Abneigung, denn ihre feindseligen Blicke sagen alles.“ Umsichtig erhob er sich, damit er sich nicht erneut den Kopf anschlug und griff nach dem blauen Tuch, das auf der speckigen Bank über ihm lag. Es fühlte sich feucht an.
„Du hast ihr Haus seit deiner Hochzeit mit Diana nur selten besucht und gehst etwaigen Abenteuern lieber woanders nach. Einer geschäftstüchtigen Frau wie der Gourdan missfällt das vermutlich.“ Voltaire verließ ebenfalls seinen Platz. „Ich lege mich kurz in den Kaltwasserbottich.“ Sprach´s und verschwand hinter der Nische, gleichzeitig kam der Bader zurück. Er hatte sein Hemd ausgezogen.
„Möchtet Ihr eine Rasur? Aderlass? Schmerzt ein Zahn?“, fragte er. Wie Denis schüttelte auch Louis den Kopf, was der Bader wohl als Aufforderung sah, sie wieder alleinzulassen.
„Jetzt da wir unter uns sind, kannst du offen sprechen“, sagte Denis leise. „Du weißt, dass ich kein Verräter bin.“
Louis trocknete sich ab, ließ das Tuch auf den Boden fallen, bückte sich und zog seinen ledernen Beutel unter der Bank heraus. „Das ist nicht einfach für mich“, erwiderte er, während er die Bänder lockerte und nach seinen Strümpfen suchte. Seit jeher hatte er mit Denis mehr besprochen als mit Voltaire, obwohl er beide mochte. Doch Denis hatte nicht Voltaires spitze Zunge. „Henriette wird Dianas Neffen Philippe I. heiraten“, rückte er mit einem Detail heraus und unterdrückte gleichzeitig den Wunsch, ihm auch den Rest zu erzählen.
„Daher deine Einsilbigkeit. Du machst dir Sorgen um Henriette. Berechtigte, wie ich finde. Dieser Mann ist nicht gerade beliebt in der hiesigen Gesellschaft.“
Louis musste zugeben, dass ihm tatsächlich nicht ganz wohl war bei der Sache. Seit Luc fort war, hatte Henriette ihn bewusster wahrgenommen und er mochte sie. Doch die Hochzeit mit Philippe war auch finanziell gesehen wichtig wie erforderlich und letztendlich war es ohnehin nötig, dass Henriette so schnell wie möglich heiratete, damit sie aus der Schusslinie war.
„Das ist nicht alles, habe ich recht?“, erkundigte sich Denis.
So ist es, hätte Louis am liebsten gesagt. Mein verdorbener Bruder hegt verbotene Gefühle für Henriette! Sein Mund fühlte sich trocken an, weil er wieder an Dianas Vater denken musste. Voltaire konnte sagen, was er wollte. Eine Nachricht wie diese würde sich auch er irgendwann zunutze machen. Dieser verdammte Mistkerl Luc! Warum konnte er nicht auf dem Schlachtfeld sterben? Was Louis jedoch am meisten aufregte, war die Tatsache, dass die Mutter seinem Besuch zugestimmt hatte. Eigentlich müsste sie Luc verdammen. So, wie es Lotti und er taten. „Doch, das ist alles“, antwortete Louis. „Außer, dass ich müde bin. Es gab viel zu tun in Paris.“
„Zu müde?“ Denis zwinkerte ihm zu.
„So gefragt … für Madame Gourdans Huren bin ich wach genug.“
Je weniger von Lucs Zuneigung wussten, desto besser. Sein Schwiegervater, der während seiner Amtszeit durchaus gute Arbeit für Frankreich geleistet hatte, war das beste Beispiel dafür, dass selbst große Siege durch menschliche Schwächen zerstört werden konnten. Auch in hundert Jahren würde seine Regentschaft mit dem Wissen besudelt sein, dass er seine Gelüste mit dem eigenen Fleisch und Blut ausgelebt hatte. Das hatte Louis sogar kurzzeitig schwanken lassen, ob er Diana überhaupt zur Frau nehmen sollte. Bis er sich in sie verliebte und ungeachtet dessen waren sie ohnehin miteinander verwandt. Er wurde so oder so mit dem Schwiegervater in Verbindung gebracht. Doch das war eine Sache. Eine völlig andere war es jedoch, ähnliche Abgründe in der eigenen Familie zu haben. Damit würde er niemals fertig werden. Wie sehr er Luc hasste! Schon immer war er ihm ein Dorn im Auge gewesen. Nun wusste er auch weshalb: Sein Bruder war krank. Wie sonst ließ sich das erklären?
Der Samstagvormittag war erfüllt mit hektischem Treiben, da am Abend der Ball stattfinden sollte. In der großen Eingangshalle im Ostflügel und im Gardensaal – mit den beeindruckenden Deckenmalereien, die wie Marmor wirkten – roch es nach Seifenlauge.
Auch die große Galerie im Südteil war eindrucksvoll, die Henriette kurze Zeit später betrat. Die Großmutter legte großen Wert darauf, dass alles festlich geschmückt war und hatte ausgerechnet sie dazu verdonnert, alles zu inspizieren. Dabei wäre sie lieber in ihrem Zimmer geblieben, denn sie fühlte sich unwohl unter den vielen Höflingen. Wenigstens verwickelte sie niemand in ein Gespräch. Das führten die Herrschaften lieber unter sich und unterhielten sich unweit von Henriette über die Brüsseler Tapisserien, die es im Schloss Ussé überall zu bestaunen gab. Manche standen bei der Büste von Ludwig XIV., die sich in der Mitte des Raumes befand und sprachen über die neuen Entwicklungen in Nordamerika.
Und da war noch Philippe! Henriette fing seinen Blick aus sicherer Entfernung auf. Demonstrativ drehte sie sich um und schob die zurückgestülpten Ärmel nach vorne. Kalte Schauer jagten über ihren Rücken, weil sie seinen bohrenden Blick zu spüren glaubte. Doch als sie sich umwandte, weil sie vom Grafen von Milloy nach dem Weg zum Gardensaal gefragt wurde, stellte sie erleichtert fest, dass Philippe fort war.
Freundlich gab sie dem Grafen Auskunft, beruhigte sich allmählich und nahm das polierte Silberbesteck in Augenschein. Währenddessen trug das Personal Tische und Stühle für die über hundert geladenen Gäste herein. Auf Blumendekoration mussten sie allerdings zum Leidwesen der Großmutter verzichten. Über Nacht hatte es geschneit und die Temperaturen waren empfindlich gesunken. Ein harter Schlag für die Bauern und viele andere, die ohnehin nicht viel hatten. Es hieß, dass die Ärmsten unter ihnen sogar Unkrautsamen zu Mehl vermahlen und gekochtes Gras sowie Ungeziefer essen würden. Hunger und der Mangel an Reformen sowie hohe Zinsen führten zu einer immer stärker werdenden Unzufriedenheit unter dem Volk. Es ging die Angst um, dass es über kurz oder lang zu einer Revolution kommen würde.
Eine Revolution, die führte auch sie innerlich, denn es musste doch eine andere Lösung geben als Philippe! Aber vorerst galt es gute Miene zum bösen Spiel zu machen, bis sich die erhitzten Gemüter beruhigt hatten. Einschließlich ihrem eigenen. Dann wollte sie ein Gespräch mit Lotti und der Mutter suchen, um in Ruhe darüber zu reden. Gemeinsam würden sie bestimmt einen Kompromiss finden, der allen gerecht wurde. Und immerhin war da noch Luc. Egal, wie sehr sie sich voneinander entfernt hatten, früher hatte sie immer auf ihn zählen können. Hoffentlich kam er bald zurück!
„Kindchen, da bist du ja.“ Henriette blickte hoch. Ihre Tante Alexandrine, die am Vorabend angereist war, rauschte auf sie zu. Scheinbar war sie in Hochstimmung und merkte deswegen nicht, dass ihr pikierte Blicke folgten. Sie trug lediglich die Chemise! „Ich habe dich überall gesucht.“
„Brauchst du meine Hilfe beim Anziehen?“, fragte Henriette schmunzelnd. Ihre Tante war ziemlich vergesslich, hatte blondes kurzes Haar, einen dunklen Flaum über den wulstigen Lippen und ihr faltiges Gesicht wirkte wie zerknittertes Pergament. Außerdem reichte sie normal gewachsenen Menschen kaum bis zur Brust.
„Das schaffe ich schon selbst, so alt bin ich auch wieder nicht. Außerdem habe ich meine Zofe dabei. Aber mir ist langweilig. Hast du Lust auf ein Spielchen? Deine Großmutter und Babette sind so beschäftigt, dass ich meine ganze Hoffnung in dich setze. Irgendwie muss ich mir die Zeit bis zum Ball vertreiben.“
„Zuerst werde ich dich auf dein Zimmer bringen. Du trägst lediglich ein Unterkleid“, klärte Henriette ihre Tante auf. „Deine Zofe scheint ziemlich nachlässig zu sein, sofern dich tatsächlich eine begleitet hat.“ Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Alexandrine eine dabeigehabt hatte, da es wie in jedem Jahr genügend Kammermädchen im Schloss gab, die den Gästen zur Verfügung standen.
„Welche Zofe?“, fragte Alexandrine wie zur Bestätigung und schaute an sich herunter. „Ach herrjeh, ich habe ja kaum etwas an“, entsetzte sie sich dann, grinste jedoch, als sie den Kopf hob. „So schlecht sehe ich gar nicht aus für mein Alter.“
„Stimmt.“ Henriette lachte. „Deswegen sollten wir dringend zusehen, dass wir wegkommen, bevor einige Damen ungehalten werden, weil ihren Männern die Augen aus dem Kopf fallen.“
Geschmeichelt schweifte Alexandrines Blick durch den Saal, bevor sie ihn mit Henriette verließ. Im Schlafzimmer angekommen, suchte die Tante ein Kleid in ihrem üppigen Bestand. Allerdings dauerte es, bis sie sich entschieden hatte. Doch schließlich reichte sie Henriette ein rotes Seidenkleid.
„Wenn mein Mann das noch erleben könnte“, brach es nach einer Weile aus Alexandrine heraus, als Henriette das Kleid im Rücken verschnürte. „Wie gern würde ich ihn heute Abend bei mir haben. Und sei es nur für einen Tanz.“
„Das wäre schön.“ Eine schlichte Lüge, denn keiner kannte diesen ominösen Ehemann. Alexandrine behauptete jedoch vehement, geheiratet zu haben. Doch seinen Namen hatte sie nie preisgegeben und anscheinend war er nur einen Tag nach der Hochzeit gestorben.
Was sich in Alexandrines Kopf abspielte, konnte man deshalb nur erahnen. Sie puderte ihr Haar statt der Perücke, zog Pantoffeln zu Galaroben an, nippte an Suppentellern und schöpfte mit dem Löffel Weingläser leer. Oder sie trug wie vorhin nur ein Unterkleid.
„Fertig.“ Henriette richtete sich auf und wollte die Bauschärmel ordnen, aber die Tante gab ihr einen Klaps auf die Finger.
„Schluss jetzt, schöner werde ich in diesem Leben nicht mehr. Allerdings täte mir ein Mittagsschlaf gut. Sag Lotti und Babette bitte, dass ich mich lieber hinlegen möchte, statt mit ihnen Karten zu spielen. Sie werden sich die Zeit bis zum Ball schon anderweitig vertreiben können.“ Alexandrine gähnte ungeniert. Zwischen den Zähnen zeigten sich Essensreste.
„Natürlich“, versprach Henriette lächelnd, zog einen Augenblick später die Tür hinter sich zu und entschloss sich spontan dazu, Élisabeth einen Besuch abzustatten. Seit ihrer Ankunft hatten sie kaum fünf Sätze miteinander gesprochen. Davon abgesehen liefen die Vorbereitungen ohnehin wie am Schnürchen. Sie konnte ja später noch einmal nach dem Rechten sehen.
Als sie an Élisabeths Tür klopfte, hörte sie ein kaum hörbares „Herein“. Henriette betrat das Zimmer. Dianas Schwester saß auf der Chaiselongue neben dem Fenster. Ihre schmucklosen Hände lagen untätig im Schoß. Trotz der Uhrzeit trug sie einen Morgenrock in glänzend blauer Seide, was wunderbar mit ihrem kupferfarbenen Haar kontrastierte.
„Wie geht es dir?“, erkundigte sich Henriette, machte die Tür zu und setzte sich neben Élisabeth, nachdem diese zur Seite gerückt war. Ihr Gesicht wirkte aufgequollen wie die Hände. Ob sie an Wassereinlagerungen litt?
„Es geht“, erwiderte Élisabeth lächelnd und strich mit der rechten Hand über die weiche Stofflehne. „Ich habe ja die letzten Jahre ziemlich zurückgezogen im Palais du Luxembourg gelebt. Deswegen graut mir ein wenig vor heute Abend. So viele Menschen sind ungewohnt für mich. Andererseits freue ich mich darauf, denn ich fühle mich seit langem wieder lebendig. In der Stille meines Palais habe ich nämlich fast vergessen, wie schön die Welt ist. Da ist das Singen der Vögel, das Rauschen des Windes, ich rieche den Schnee und sehe die ersten Frühlingsboten. Man stumpft ab, wenn man sich nur mit sich selbst beschäftigt.“
Henriette nahm Élisabeths Hand in ihre und drückte sie sanft. Obwohl sie sich kaum kannten, hatte sie trotzdem das Gefühl, als wäre es anders.
„Es ist lange her, dass mir jemand nahe war.“ In Élisabeths Augen schwammen plötzlich Tränen. „Glaubst du, manche kommen auf diese Welt, um bestraft zu werden?“, sprach sie weiter und schniefte. „Schon nach der Geburt wurde ich beiseitegeschoben. Dieses Desinteresse zog sich wie ein roter Faden durch mein gesamtes Leben. Deswegen war ich ein trotziges Kind, für das Gewalt an der Tagesordnung stand. Aber wenigstens wurde ich wahrgenommen, und sei es nur einige Schläge lang. Mit zwölf musste ich den spanischen Thronfolger heiraten. Du hast ja keine Ahnung, welche Hölle mein Leben in Madrid war. Vom Volk wurde ich verunglimpft und von der königlichen Familie gehasst. Mein Spiegelbild zeigte damals eine junge Frau, die sogar mir fremd war.“ Henriette war überrascht, dass Élisabeth so viel von sich preisgab. Andererseits brauchte sie vielleicht jemanden, mit dem sie darüber reden konnte und sie war eben zufällig da.
„Diana hat gesagt, dass du nur einige Monate Königin gewesen bist“, warf Henriette zaghaft ein. „Zu kurz, um sich zu beweisen.“
Élisabeth löste die Berührung und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Manchmal habe ich meinen Mann dafür verflucht, dass er an Pocken starb.“ Sie stieß ein heiseres Lachen aus. „Weil er aus diesem Leben erlöst wurde, während ich zu allem Übel auch noch kinderlos zurückblieb. Wenigstens durfte ich nach Frankreich heimkehren, aber die Zeit in Madrid werde ich nie vergessen.“
„Hast du dich deshalb regelrecht von der Außenwelt abgeschottet?“
„Je weniger ich mit Menschen konfrontiert bin, desto weniger kann man mich verletzen. Aber die Einsamkeit war manchmal genauso unerträglich wie das andere. Nun habe ich einen Schritt nach draußen gewagt und bin hier, Henriette. Es tut mir übrigens leid, wie sich meine Mutter aufführt.“
„Dafür kannst du nichts“, beteuerte Henriette. „Du bist anders. Genau wie Diana.“
Jetzt war ihr Lächeln verlegen und Élisabeth zeigte eine Reihe gelber Zähne. Plötzlich hörte Henriette jemanden würgen. Das Geräusch kam aus dem Nebenzimmer. Sie wollte aufspringen, aber Élisabeth hielt sie am Arm zurück. „Das ist Charlotte“, teilte sie ihr mit der Selbstverständlichkeit einer Eingeweihten mit.
„Es hört sich an, als würde sie sich übergeben“, folgerte Henriette. „Ist sie krank?“
„Wie man es nimmt. Meine Schwester hat das, was Maria einst hatte.“
„Messalina?“ Henriette schlug sich mit einer Hand auf den Mund. „Verzeih, ich wollte deine verstorbene Schwester nicht beleidigen.“
„Die Bezeichnung trifft durchaus zu“, beruhigte Élisabeth sie. „Ich habe Maria um ihre Schönheit beneidet, ihre Art jedoch verabscheut. Die vielen Abenteuer, Orgien … wie Mutter sprach sie dem Alkohol zu und hat sich damit systematisch selbst zerstört. Vielleicht lag es an den Fehlgeburten, an ihrem spielsüchtigen Mann oder …“ Eine Träne löste sich aus Élisabeths Augen. „Mit zwanzig begann Maria das Essen zu erbrechen, das sie vorher förmlich in sich hineingeschaufelt hat. Sogar bei Tisch kam es mitunter vor. Meine Güte, ich sehe sie jetzt noch vor mir: Das Erbrochene lag im Teller, haftete an ihrem Kinn und auf ihrem Kleid. Trotzdem stopfte sie sich gleich danach mit bloßen Händen wahllos Fleisch, Süßspeisen und Gemüse in den Mund. Kaum fähig, die enormen Mengen schlucken zu können. Alles in ihrem Dasein ging weit über jede Grenze hinaus. Sie konnte nicht anders, auch wenn sie es gewollt hätte, denn wir Schwestern sind fürs Leben gezeichnet. Auf die eine oder andere Art.“
Wieder hörte Henriette das Würgen von Charlotte.
Élisabeths Blick verlor sich. „Es war Juni. Die Luft war lau, durchzogen von den Gerüchen des Festessens, das Maria eigens für unseren Vater ausgerichtet hat. Auf einmal sank sie vom Stuhl.“ Élisabeth war die Ungläubigkeit förmlich ins Gesicht geschrieben, trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen waren. „Verstehst du? Sie sank einfach auf den Boden. Lautlos, ohne Vorwarnung. Sie lag da wie ein Leichnam, aber man konnte ihren Puls fühlen. Einige Ärzte glaubten, dass sie ein Schlag getroffen hätte. Dann kam sie zu sich, fühlte sich müde und schwach. Kurz darauf kamen die Schmerzen in den Beinen. Ihre fürchterlichen Schreie hallen Nacht für Nacht durch meine Träume. Jede Berührung ihrer Haut ließ sie brüllen, als würde sie jemand mit einem heißen Feuereisen quälen. Nach einigen Wochen hatte sie das Gewicht eines Kindes, aber ihr Bauch war gebläht wie der einer Hochschwangeren. Maria hat unendlich gelitten, bis der Tod endlich ein Einsehen hatte.“ Élisabeth schluchzte auf. Henriette strich ihr beruhigend über den Rücken. „Die Ärzte haben sie aufgeschnitten wie ein Tier. Meine Schwester war tatsächlich schwanger gewesen, ihr Inneres übersät mit Geschwüren und Eiter. Mein Gott, es war schrecklich.“
Henriette fehlten die Worte. Nie hatte jemand so offen über Messalina gesprochen. Natürlich munkelte man viel über die verdorbene Tochter aus dem Hause Orléans, aber die Geschichte aus erster Hand zu hören ging Henriette unendlich nahe. Messalinas Verhalten und die Süchte hatten sicherlich einen verhängnisvollen Ursprung. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was auch Diana in dieser Familie alles erdulden musste.
„Es tut mir leid, dass ich mich bei dir ausweine. Aber momentan kommen so viele Dinge in mir hoch. Keine Ahnung, warum das so ist.“
„Ich bin gern für dich da“, sagte Henriette.
Élisabeth schaute sie dankbar an. „Weißt du, für Maria tat ich nichts, weil wir uns nie verstanden haben. Doch nun ist Charlotte auf dem besten Weg, es ihr gleichzutun.“ Sie seufzte entmutigt. „Seitdem ihre Liebe zu Herzog von Richelieu zerbrochen ist, hat sie sich sehr verändert.“
Henriette kratzte sich sacht an der Schramme, die der Zweig in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Die Wunde verheilte zwar gut, juckte jedoch manchmal. „Es stimmt also, dass sie seinetwegen zurückgekommen ist?“
Élisabeth nickte. „Schon mit siebzehn hat sie sich unsterblich in ihn verliebt. Seitdem führen die beiden eine Liaison. Nicht einmal Charlottes Heirat hat etwas daran geändert. Richelieu besuchte sie sogar als Hausierer getarnt in Modena. Doch jetzt hat er sie verlassen, weil ihm seine Frau das Messer angesetzt hat. Angeblich mit den Worten, dass sie ihn lieber mit jeder Hure der Stadt teilen würde als mit Luzifers Tochter. Aber ich glaube nicht, dass das der Grund für Richelieus Entscheidung war. Er ist kein Mann, der sich etwas von einer Frau sagen lässt. Eher gehe ich davon aus, dass sich seine Gefühle geändert haben. Nicht nur das Leben, auch die Liebe ist vergänglich und stirbt früher oder später.“
„Das muss nicht sein“, begehrte Henriette auf.
„Nenn mir ein positives Beispiel“, forderte Élisabeth und wartete Henriettes Antwort erst gar nicht ab. „Dir fällt niemand ein, genauso wenig wie mir.“
„Diana und Louis.“
„Dein Bruder vergnügt sich außerhalb des Ehebettes, das ist allgemein bekannt. Aber könntest du jemanden betrügen, den du von Herzen liebst?“ Henriette senkte den Kopf. „Ach Mädchen, Liebe ist nicht nur schön. Vor allem dann, wenn sie unerreichbar ist. Das ist die schlimmste Form der Liebe. Aber bevor ich dich ganz verschrecke, sollte ich lieber meinen Mund halten. Egal, wie ich persönlich darüber denke, dir soll es anders gehen.“ Élisabeth warf ihr einen aufmunternden Blick zu.
Auf einmal hörte Henriette, dass Diana ihren Namen rief.
„Deine Schwester sucht mich.“ Sie kämpfte gegen das schlechte Gewissen an. Einerseits hatte sie mit Diana eine Verabredung, andererseits brauchte Élisabeth jemanden zum Reden. „Wir wollten einen Spaziergang machen, bevor das Fest beginnt. Möchtest du uns begleiten?“ Henriette stand auf und strich sich glättend über den veilchenblauen Faillestoff ihres Kleides. Dianas Rufe entfernten sich.
„Ich schaue lieber nach Charlotte“, schlug Élisabeth ihr Angebot aus. „Sie mag es zwar nicht, wenn man sich einmischt, aber ich habe lange genug zugesehen und will denselben Fehler nicht noch einmal machen.“
Nach längerem Suchen fand Henriette ihre Schwägerin in der Küche, wo sie sich gerade über ein Stück Brot hermachte. Ihre Haut war blasser denn je. Über dem rechten Arm lagen zwei Umhänge, wovon sie Henriette einen reichte.
„Ich habe das ganze Schloss nach dir abgesucht.“ Kauend schaute Diana zum Brotlaib, der neben dem Herd lag. Die schwitzende Köchin beugte sich über die dampfenden Töpfe. Auf dem Boden lagen Federn und Bedienstete mit blutbesudelten Schürzen und toten Gänsen in den Händen hetzten an ihnen vorbei. Henriette schaute den Mägden angewidert nach, denn das Essen vor dem Verzehr blutüberströmt zu sehen nahm ihr jeglichen Appetit.
Ansonsten war sie gern in der Küche, die eine flämische Tapisserie verschönerte. Der Duft von allerlei Gewürzen lag in der Luft. Im tonnenartigen Gewölbe hallten die Befehle der Köchin wider oder manchmal fröhliche Lieder der Dienstboten. Es gab sogar eine Geheimtür, die in unterirdische Räume führte oder in den Wald. Ob Lotti auf diesem Weg Wertgegenstände aus dem Schloss schmuggelte?
„Ich war bei Élisabeth“, setzte Henriette zu einer Erklärung an. „Du siehst übrigens schlecht aus“, fügte sie sorgenvoll hinzu und schlüpfte wie Diana in den Umhang aus warmer Futaine. Mit den toten Tieren vor Augen konnte sie es kaum erwarten, die Küche zu verlassen.
„Danke für das Kompliment.“
„Du weißt, wie ich das meine.“
„Sicher.“ Diana legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, bevor sie aus der Küche gingen. „Ich habe nicht gefrühstückt, aber jetzt geht es mir besser.“
Henriette glaubte ihr nicht. Diana verharmloste gern Dinge. Dabei litt sie an geschwollenen Füßen. Auch ihr Rücken tat weh und seit einigen Tagen wurde sie von heftigen Kopfschmerzen geplagt. „Aber du hast mir erzählt, dass …“
„Du solltest mein Gerede nicht allzu ernst nehmen“, riet ihre Schwägerin mit forschem Ton. „Es ist alles in Ordnung. Eine Schwangere pendelt eben ständig zwischen Himmel und Hölle, das ist völlig normal. Eines Tages wirst du an meine Worte denken.“ Diana hakte sich bei Henriette unter, als sie aus dem Schloss traten. Die Luft war kalt und frisch. Den Winter mochte Henriette lieber als den Sommer, weil sie das Gefühl hatte, dass die Kälte alles reinigte. Auch die Gedanken.
„Hast du Lotti und Babette heute schon gesehen?“, begann Diana ein Gespräch, als sie über die Stufen hinunterstiegen.
„Nur kurz.“
„Und? Hast du ihnen die Meinung gesagt?“
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee gewesen wäre. Im Augenblick sind wir alle zu aufgewühlt. Deswegen warte ich lieber ab. Und du? Konntest du mit deiner Mutter sprechen?“
„Eher friert die Hölle ein, als dass ich noch ein Wort mit ihr wechsle. Es sei denn, um ihr zu sagen, dass sie zum Teufel gehen kann. Das gilt auch für Charlotte.“
„Manchmal sind die Dinge anders, als sie scheinen.“ Henriette dachte an Messalina.
„Verteidigst du die beiden Hexen etwa?“
„Deine Mutter nicht.“
„Aber Charlotte?“
Einige Höflinge kamen des Weges, als sie in Richtung Wald marschierten. Henriette war froh, dadurch einer Antwort zu entgehen, denn sie war durcheinander und hatte keine Ahnung, ob sie Diana von Charlottes Problemen erzählen sollte. Wer wusste, ob es Élisabeth überhaupt recht wäre? Auf der anderen Seite hätte Dianas Schwester wenigstens noch jemanden, mit dem sie über ihre Schwester sprechen könnte.
Doch bei allem Mitleid für Charlotte, Élisabeth hatte auch kein einfaches Leben gehabt, trotzdem war sie ein warmherziger Mensch. Dasselbe galt für Diana. Charlotte war in dieser Hinsicht anders, und eine lebenslange Abneigung schlug nicht plötzlich in Sympathie um. Denn Mitleid war das eine, jemanden zu mögen das andere. Dazwischen lagen Welten. Aber Charlotte hatte zumindest an Schrecken verloren.
Die Männer zogen ihre Hüte, die Damen deuteten einen Knicks an. Henriette und Diana erwiderten die Grüße und übersahen die stehengebliebenen Frauen geflissentlich, als hätten sie sich abgesprochen. Unter ihnen befand sich auch die Marquise de Lion. Sie ging am Stock und wärmte mit Vorliebe alte Gerüchte auf. Begleitet wurde sie von Lottis Busenfreundinnen Madame de Rohan, die eine Vorliebe für Puder hatte, und deren Schwester Rosalie.
Als sie die Damen hinter sich ließen, hörte man entrüstete Ausrufe, dann ein Tuscheln. Henriette konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Frauen ihre Köpfe zusammensteckten und lästerten.
„Ich habe überhaupt keine Lust auf den Ball“, bekannte Diana, als sie im Wald waren. Kurz trennten sie sich voneinander, da ihnen ein kolossaler Felsen im Weg stand. Der Schnee war ungehindert auf die kleine Lichtung gefallen. Auf beiden Seiten des Monuments wuchs Moos, einige Pilze ragten heraus. Die meisten waren abgebrochen. Als Henriette und Diana den Stein hinter sich ließen, lächelten sie sich an und hakten sich erneut unter.
„Unsere Fußabdrücke haben sich verewigt“, stellte Henriette mit einem Blick über ihre Schulter fest.
Diana wandte kurz den Kopf. „Stimmt.“
„Ich rede Blödsinn, entschuldige. Aber ich muss mich irgendwie ablenken.“
„Was schwer sein dürfte, denn ich schaffe es auch nicht. Ich könnte Mutter nämlich den Hals umdrehen“, bekannte ihre Schwägerin wütend. „Auch deinetwegen. Es muss doch eine Möglichkeit geben, diese haarsträubenden Pläne zu verhindern.“
„Niemand kann uns zu irgendetwas zwingen.“
„Wenn es so einfach wäre! In der Familienhierarchie steht meine Mutter über uns allen. Außerdem glaubt sie immer noch, dass sie die wahre Königin Frankreichs ist.“ Vorsichtig stiegen sie über einige Wurzeln hinweg. „Du magst der Enkel Frankreichs sein, ich aber bin die Tochter Frankreichs“, zitierte Diana. „Das hat sie einmal zu meinem Vater gesagt. Wie überheblich sie ist! Aber sie hat enormen Einfluss, obwohl mir nicht in den Kopf will, dass vor allem deine Mutter die Pläne unterstützt. Das sieht ihr gar nicht ähnlich, denn dass sie dich liebt, sieht ein Blinder. Umso mehr müsste ihr daran liegen, nicht derart gegen deinen Willen zu handeln. Trotzdem bleibt sie standhaft bei ihrer Entscheidung und wir stehen auf verlorenem Posten. Deshalb …“, sie blieb stehen und zwang auch Henriette dadurch dazu, „solltest du zusehen, dass du schnell erwachsen wirst.“
„Wenn erwachsen sein bedeutet, dass man keine Träume mehr haben darf, dann bleibe ich lieber ein Kind“, konterte Henriette und ging weiter. Diana folgte ihr.
„Man kann nicht ewig ein Kind bleiben, denn das Leben ist keines deiner Märchen.“ Sie waren wieder auf gleicher Höhe.
„Was haben meine Bücher damit zu tun?“
„Sie entspringen der Fantasie“, fauchte Diana sie auf einmal an, „und nicht der Wirklichkeit.“
„Als ob ich das nicht wüsste.“ Auch Henriette wurde wütend. „Aber jeder behandelt mich so, wie es ihm gerade passt. Will ich eine Erklärung, bin ich zu jung dafür. Möchte ich nicht heiraten, heißt es, ich wäre alt genug.“
„Du hast ja recht“, lenkte ihre Schwägerin ein. „Entschuldige. Ich habe meinen Zorn an dir ausgelassen.“
Die Luft kühlte Henriettes erhitzte Wangen. „Schon gut, wir stehen im Augenblick alle etwas neben uns.“ Plötzlich blieb Diana stehen und taumelte leicht. „Was ist mit dir?“ Sofort war Henriette bei ihr und fasste nach ihren Armen, um sie zu stützen.
„Keine Ahnung.“ Diana schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, atmete sie tief durch und auf einmal erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. „Fühl mal.“ Sie fasste nach Henriettes Hand und legte sie auf ihren Bauch.
Das Kind bewegte sich. „Es ist sehr kräftig“, stellte Henriette fest und lächelte ebenfalls.
„Ich werde sie Claire nennen.“ Dianas Lachen hatte etwas Ansteckendes. Das mit Hölle und Himmel schien tatsächlich zu stimmen. „Es wird nämlich ein Mädchen.“
„Du klingst so überzeugt, dass ich dir beinahe glauben möchte.“
„Ich bin überzeugt. Als Mutter hat man oft einen siebten Sinn.“
„Es ist wunderbar, dich so gelöst zu sehen“, stellte Henriette fest, bereute ihre Aussage jedoch in der nächsten Sekunde, weil Diana die Stirn runzelte.
„Seit Mutters Ankunft denke ich ernsthaft darüber nach, mit Louis und den Kindern woanders ein neues Leben zu beginnen“, gestand sie. „So wie Luc. Er hat das Richtige getan.“
Henriette schluckte hart und zog ihre Hand zurück. „Er ging, ohne sich zu verabschieden und das findest du in Ordnung?“
„Luc ist kein Mann, der sich verbiegen lässt. Weder von Lotti noch von deiner Mutter. Lieber ist er fortgegangen. Aber langsam könntest du ihm verzeihen.“
„Das habe ich längst getan.“
„Du hörst dich aber an wie eine verlassene Ehefrau.“
Henriette setzte sich in Bewegung. Sie konnte nicht mehr stillstehen. Mit zwei Schritten hatte Diana sie eingeholt. „Was für einen Blödsinn redest du da?“, verteidigte sie sich. „Darf eine Schwester nicht wütend sein? Außerdem hast du keine Ahnung, wie kalt Luc vor seinem Verschwinden gewesen ist. Das hat wehgetan. Genau wie die Tatsache, dass ich mir sein Verhalten bis heute nicht erklären kann.“
„Es musste nicht zwangsläufig etwas mit dir zu tun haben. Sieh mich an, ich habe dich vorhin auch angefahren, obwohl du das zuletzt verdient hast.“ Ihre Schwägerin schwieg kurz. „Du erzähltest von seinem Streit mit Lotti. Manchmal ist man auf einen Menschen böse und lässt es alle anderen spüren. Erst recht jene, die einem am nächsten sind. Nun, Luc kommt ja bald wieder. Und mit ihm die Wahrheit.“ Äste knackten unter ihren Schritten. „Bis dahin werde ich versuchen, einen Ausweg für uns alle zu finden. Zumal Louis niemals freiwillig seine Heimat verlassen würde. Dazu hängt er zu sehr an diesem Leben. Doch vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, denn ich werde das Gefühl nicht los, dass an der Sache mit Philippe irgendetwas faul ist.“ Diana legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. „Sollte es tatsächlich so sein, werde ich es herausfinden, verlass dich darauf.“
„So kämpferisch kenne ich dich gar nicht.“
„Ich mich auch nicht“, erwiderte ihre Schwägerin ernst, „aber es Zeit, dass ich mich endlich zur Wehr setze. Ich habe mir schon viel zu viel von meiner Mutter gefallen lassen.“
Auf einmal zerriss ein Schuss die Stille. Diana und Henriette fuhren erschrocken auseinander und schauten um sich.
„Vermutlich sind einige Höflinge auf der Jagd“, fasste sich Henriette als Erste. In Dianas Zustand war jede Aufregung Gift. „Wir sollten lieber ins Schloss zurückgehen.“ Sie drehten um und eilten durch den Wald. Als ein weiterer Schuss fiel, beschleunigten sie ihre Schritte. „Kommt Jeanne eigentlich auch zum Ball?“, erkundigte sich Diana schnaufend. „Ich würde sie gern kennenlernen, nachdem du so viel von ihr erzählt hast.“
„Ja, diesmal wird Jeanne dabei sein“, erwiderte Henriette und war plötzlich von Freude erfüllt. „Sie und ihr Mann wollen einige Tage bleiben.“