Читать книгу Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt - Bettina Reiter - Страница 6
1. Kapitel
ОглавлениеEs roch modrig. Jodie kauerte wimmernd an der kalten Kellerwand. Völlige Dunkelheit umgab sie, denn es gab kein Fenster. Der Vater hatte sie hier eingesperrt, als sie zu ihrer Mutter laufen wollte. Noch immer schmerzten ihre Arme von seinem harten Griff.
Etwas raschelte. Jodie begann zu zittern und dachte an die Ratten, die hier unten hausten. An die lauten Rufe, die schon seit geraumer Zeit verstummt waren. Warum holte sie niemand? Wo waren ihre Brüder? Ihre Eltern? Und was hatten diese Männer mit ihrer Mutter getan? Wieso hatte sie der eine regelrecht zum Stall bugsiert?
Jodie schluchzte auf, weil ihr die Angst die Kehle zuschnürte. Die Angst, dass etwas Schreckliches geschehen war. Nie zuvor hatte sie ihren Vater so böse erlebt. Er war sogar auf die Männer losgegangen. Noch jetzt saß der Schock tief in ihren Gliedern, weil die Männer brutal auf ihn eingeschlagen hatten. Doch ihr Vater hatte sich losgerissen und war zu ihr gerannt. Und jetzt saß sie hier und hatte keine Ahnung, was los war. Gleichzeitig hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.
Jetzt raschelte es dicht neben ihr. Jodie rutschte beinahe hysterisch zur anderen Seite, bis sie an eine Kiste stieß. Darin lagerten Kartoffeln. Also musste sie sich in der Nähe der Tür befinden. Atemlos tastete sie über die Kisten. Auf einmal spürte sie etwas auf ihrer Haut. Spinnweben? Im nächsten Moment krabbelte etwas über ihre Hand. Panisch schlug sie um sich, rappelte sich hoch und stolperte im nächsten Moment über eine Kiste. Hart schlug sie am Boden auf, doch sofort war sie wieder auf den Beinen. Vorsichtig machte sie einen Schritt nach dem anderen und streckte einen Arm aus, bis sie ein Hindernis spürte. Ihre Hände glitten darüber. Die Tür. Da war die Tür!
„Papa“, rief sie, „hol mich hier raus!“ Sie klopfte gegen das sperrige Holz. Unzählige Male, bis sie irgendwann regelrecht dagegenhämmerte. Dazwischen horchte sie, doch es rührte sich nichts. Nur dieses Rascheln war zu hören. „Bitte“, flüsterte Jodie und ihr Kopf sank gegen die Tür. „Hol mich endlich aus dem Keller.“
Erschöpft setzte sie sich auf den Boden und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Bisher war ihr Vater immer für sie dagewesen. Wieso kam er jetzt nicht? Schreckliche Bilder taten sich vor ihrem geistigen Auge auf. Sie sah ihren Vater am Boden liegen, voller Blut. „Nein“, hallte ihre eigene Stimme wider, „Papa holt mich bald und dann wird alles gut.“
Allmählich wurden Jodies Lider schwer. Sie schlief ein, bis sie von einem Schrei geweckt wurde, der ihr durch Mark und Bein ging. Es war der Schrei ihres Vaters. Wund, wie der eines Tieres.
Jemand nestelte am Schloss. Vielleicht waren Minuten vergangen. Vielleicht sogar Stunden. Jodie rieb sich über die brennenden Augen und konnte sich nicht bewegen. Unvermittelt traf sie die Tür ins Gesäß.
„Aua!“, rief sie aus und rieb sich die schmerzende Stelle.
„Warum liegst du auch hier herum?“ Ihr dreizehnjähriger Bruder Malcolm trat mit einer Kerze in der Hand herein. Jodie stand schnell auf.
„Vater hat mich eingesperrt.“ Sie eilte an ihm vorbei, denn sie wollte nichts als raus aus dem dunklen Verlies. Malcolm folgte ihr. „Sind die Männer fort? Hast du Vater gesehen? Oder Mutter?“
„Äh, nein. Aber von welchen Männern sprichst du?“
Die schrecklichen Bilder kamen zurück. „Von denen, die uns überfallen haben“, half Jodie ihm auf die Sprünge, während sie die Stufen hinaufeilte.
„Hast du etwas getrunken? Was für ein Überfall denn?“
„Heute waren Männer hier, Malcolm.“ Sie beschleunigte ihre Schritte. „Ich bin vom Geschrei wach geworden und nach draußen gegangen. Mutter …“ Jodie konnte nicht weitersprechen, weil sie oben war und vom Tageslicht geblendet wurde, das durch die offene Eingangstür fiel. Sie kniff die Augen zusammen und blieb stehen. Malcolm prallte gegen sie.
„Kannst du nicht aufpassen?“, schimpfte er. „Und von wegen Geschrei. Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier.“
Jodie ließ ihn stehen und öffnete die Küchentür. Aus dem Topf über der Feuerstelle stieg dampfender Rauch in die Höhe.
„Wo sind Mutter und Mary?“
Malcolm blies die Kerze aus und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Gerade waren sie noch da. Wie üblich wollte ich dich dann wecken, aber du warst nicht in deinem Bett. Deshalb habe ich dich gesucht. Aber wieso bist du denn so hysterisch?“
„Wo ist Vater?“, überging sie seine Frage und öffnete die Stubentür. Auch hier war niemand.
„Der ist in die Trinkstube gegangen“, hörte sie William hinter sich und wirbelte zu ihm herum. Blass stand er vor ihr und sah aus, als hätte er im Gegensatz zu Malcolm kein Auge zugetan. Aber das war im Augenblick nicht so wichtig wie die Erkenntnis, dass es ihrem Vater gut zu gehen schien.
„Um diese Zeit?“, wunderte sich Malcolm. „Langsam bin ich etwas verwirrt. Jodie spricht von einem Überfall, im ganzen Haus sind alle wie vom Erdboden verschluckt und Vater zieht es schon zur Morgenstunde in die Trinkstube. Was zum Teufel ist los?“
William ballte die Hände zu Fäusten. Seine Gesichtszüge wurden zu einer Grimasse. „Wir sind tatsächlich überfallen worden“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Diese Schweine!“
„Hat man uns beraubt?“, fragte Malcolm erschrocken und legte die Kerze auf den Esstisch.
„Nein“, antwortete William eisig.
„Gott sei Dank.“ Malcolm blickte zur Wand gegenüber dem Kamin. Dort hingen unzählige wertvolle Dolche, die der Vater im Laufe der Jahre gesammelt hatte. „Unser alter Herr hat sie vermutlich alle davongejagt.“
„Vater ist weit entfernt von dem Helden, für den wir ihn bisher gehalten haben.“ William lehnte sich gegen den Kamin, als hätte er keine Kraft mehr und suchte Jodies Blick, die ihn verwundert anstarrte. Nie zuvor hatte er so abwertend über den Vater gesprochen. „Du solltest zu Mutter gehen, damit sie weiß, dass du wohlauf bist.“
„Dazu müsste ich wissen, wo sie ist.“ Jodie ließ ihren Bruder nicht aus den Augen. William, den sie kannte wie ihre Westentasche, war ihr plötzlich fremd. Weil sie zum ersten Mal keine Ahnung hatte, was in ihm vorging.
„Sie liegt in ihrem Bett und ruht sich aus“, gab William Auskunft. „Die Sache hat sie ziemlich mitgenommen.“
Jodie zögerte, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und die Stufen hinauflief. Das Elternzimmer lag neben ihrem. Ohne anzuklopfen öffnete sie die Tür und trat ein. Bei ihrem Erscheinen ließ Mary die Hand ihrer Mutter los und erhob sich von der Bettkante.
„Jodie“, wisperte die Mutter, deren Lächeln kläglich misslang. Die Augen waren rotgeweint, ihre Haut leichenblass. Sie sah furchtbar aus. Fragend schaute Jodie zu Mary hoch, die ebenfalls aussah, als hätte sie geweint.
„Eure Mutter braucht Euch jetzt, Jodie“, sagte die alte Köchin. „Kümmert Euch um sie und kommt dann zu mir in die Küche. Ich werde eine Hühnersuppe kochen, die Ihr Eurer Mutter nachher bringen könnt.“
Jodie nickte und während sie zum Bett trat, verließ Mary den Raum.
Tränen traten aus den Augen der Mutter, die ihr wortlos die Arme entgegenstreckte. Im nächsten Moment lag Jodie neben ihr im Bett und kuschelte sich an sie. Liebevoll strich ihr die Mutter über das Haar und barg ihr Gesicht darin. „Ich bin Gott unendlich dankbar, dass euch allen nichts geschehen ist“, flüsterte sie mit belegter Stimme.
„Vater hat mich in den Keller gesperrt.“ Jodie schluckte die Tränen hinunter. „Aber ich hatte keine Angst“, schwindelte sie, weil sie ihre Mutter nicht noch trauriger machen wollte.
„Da bin ich froh. Du musst nämlich wissen, dass dich dein Vater nicht bestrafen, sondern beschützen wollte. Aber das hat er dir bestimmt gesagt, als er dich wieder geholt hat.“
„Malcolm hat mich aus dem Keller geholt.“
„Malcolm?“ Jodie spürte, wie sich der Körper ihrer Mutter anspannte. „Aber wo ist dein Vater?“
„In der Trinkstube.“
Das Streicheln endete abrupt. Es dauerte, bis sie in ihrem Tun fortfuhr. „Wir werden das alle gemeinsam überstehen“, versprach sie plötzlich, als müsste sie sich selbst Mut machen.
„Warum waren die Männer hier, Mutter?“, fragte Jodie stotternd und rückte etwas von ihr weg, um sie ansehen zu können.
Die Lippen der Mutter begannen zu zittern. Blanke Angst stand in ihren grünen Augen. „Wir sind glimpflich davongekommen“, erwiderte sie und drückte Jodie fester an sich. „Das ist das Wichtigste. Alles andere wird sich weisen, denn niemandem wird es gelingen, uns auseinanderzubringen. Nicht einmal …“
Im nächsten Moment ließ die Mutter sie los, würgte einige Male, bevor sie sich zur Seite rollte und sich über die Bettkante erbrach.
Das und ihre Worte verfolgten Jodie den restlichen Tag. Weil sie nichts damit anfangen konnte. Ihre Mutter hatte zwar wiederholt beteuert, dass alles in Ordnung sei, doch ihr Zustand sprach keineswegs dafür und die Aussagen verwirrten sie mehr, als dass sie Klarheit schafften. William schien es anders zu gehen, dem sich Jodie am Nachmittag anvertraute. Er wirkte nicht durcheinander. Eher wie jemand, der mehr wusste. Aber trotz hartnäckigem Fragen blieb ihr auch er eine Erklärung schuldig und ging schließlich mit Malcolm zur Jagd. Nur John - der jüngste ihrer Brüder - saß mit ihr am Esszimmertisch, während sie auf den Vater wartete. Doch sie schwiegen sich an. John war anders als Malcolm und William. Deshalb tat sie sich schwer, ihm genauso nahe zu sein. Vielleicht auch deshalb, weil John eifersüchtig auf sie war. In seinen Augen war sie der Liebling ihres Vaters. Ein wenig mochte er damit recht haben, das musste sie zugeben. Wenn sie sich mit den Brüdern zankte, half der Vater meistens zu ihr und nahm sie öfter als die Brüder in seine Arme.
„Jodie ist ein Mädchen und Mädchen behandelt man anders“, pflegte der Vater zu sagen. „Ihr hingegen seid Burschen, die zu harten Männern heranwachsen sollen. Das schafft man aber nicht auf dem Schoß des Vaters, sondern indem man gefordert wird.“ Der Vater lehrte den Brüdern vieles. Wie gern wäre Jodie manchmal zur Jagd mitgegangen, hätte Bogenschießen gelernt oder den Umgang mit dem Schwert. Nur zum Holzhacken nahm der Vater meistens sie mit. Anfangs hatte sie ihm nur zugeschaut, inzwischen durfte sie mit einer zweiten Axt mithelfen. Doch mit dem Ausschluss von der Jagd und anderen Dingen konnte sie besser umgehen als mit der Tatsache, dass Bildung fast ausschließlich den Männern vorbehalten war. Aber es gab Ausnahmen und man hörte immer wieder, dass in manchen Familien auch Mädchen Lesen und Schreiben lernen durften. Doch ihre Eltern hielten am alten Denkmuster fest. So gesehen hätte sie ebenfalls eifersüchtig sein können und zugegeben, sie war es auch ab und an.
Als die Dämmerung hereinbrach, saß Jodie alleine in der Stube. John war auf sein Zimmer gegangen. Ängstlich fixierte sie den Kerzenstumpen. Bald würde die Flamme verlöschen. Mit der herannahenden Dunkelheit kamen die Stunden im Keller zurück. Schatten tanzten über die Wände. Plötzlich glaubte sie ein Rascheln zu hören und schaute auf den Boden, obwohl sie wusste, dass es Einbildung war. Genauso wie die Schreie, die durch ihren Kopf hallten. Ob die der Männer oder des Vaters. Trotzdem hatte sie eine Gänsehaut und versuchte an ihre Mutter zu denken. Am Nachmittag hatte sie immer wieder bei ihr nach dem Rechten geschaut. Die Hühnersuppe hatte sie nicht angerührt. Aber wenigstens schlief sie, obwohl sie sich unruhig hin und her gewälzt, manchmal sogar gewimmert und unverständliche Worte gemurmelt hatte.
Stimmen näherten sich. Jodie sprang von ihrem Platz hoch und eilte in die Halle hinaus. Die Tür öffnete sich. William und Malcolm stapften herein.
„Vater ist immer noch nicht da“, beklagte sich Jodie sofort bei ihnen.
„Wir freuen uns auch, dich zu sehen“, amüsierte sich Malcolm und warf seinen grauen Umhang auf den Stuhl neben der Esszimmertür.
„Macht ihr euch keine Sorgen?“, schimpfte Jodie. Manchmal waren ihre Brüder wie Gesteinsbrocken.
„Gönn ihm die Abwechslung.“ Malcolm drückte sie an sich. Sofort vergaß sie das mit den Gesteinsbrocken. „Vater wird schon kommen und du solltest dich fürs Bett fertig machen, Lowland.“
„Nenn mich nicht immer so“, beschwerte sich Jodie gespielt böse. „Ich bin kein kleines Mädchen mehr.“
„Das halte ich für ein Gerücht, du Zwerg“, mischte sich William ein. Er war zwei Jahre jünger als Malcolm, überragte ihn jedoch bereits um fast zwei Köpfe. Aus William würde ein Riese werden, wenn er nicht aufhörte zu wachsen. Doch wie es aussah, hatte ihm der Jagdausflug gutgetan, obwohl sie wie üblich mit leeren Händen zurückgekommen waren. „Aber Malcolm hat recht. Wir müssen alle etwas zur Ruhe kommen. Du solltest wirklich ins Bett gehen.“
„Ich möchte auf Vater warten“, beharrte sie.
„Bis zu seiner Heimkehr kann es noch Stunden dauern.“ Malcolm ließ sie los. „Ich gehe in die Küche. Die Jagd hat mich hungrig gemacht. Kommst du mit?“, erkundigte er sich an William gewandt, der den Kopf schüttelte.
„Ich werde unsere Schwester nach oben bringen. Ich schätze, sie braucht nach der Nacht im Keller jemanden, der ihre Hand hält.“ William legte seinen Arm um Jodies Schultern. Keiner kannte sie besser als er.
Seite an Seite stiegen sie über die Treppe hinauf. Als Jodie wenig später im Bett lag, saß William im Stuhl neben ihr und schnarchte. Die dunkelbraunen Locken fielen ihm in die Stirn. Er hatte abstehende Ohren, am Kinn eine Kerbe in der Größe eines Pennys, eine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen und wie es aussah, einen gesunden Schlaf.
Sie beneidete ihn, denn sie bekam kein Auge zu. Irgendwann hörte sie plötzlich lautes Poltern über die Stiege herauf. Dann näherte sich jemand hustend ihrem Zimmer. Ihr Vater war zurück! Erleichtert verließ Jodie das Bett und sauste voller Vorfreude in den Gang hinaus.
Mit torkelnden Schritten kam ihr der Vater entgegen. Die Laterne in seiner Hand baumelte. Jodie wurde unsicher, weil sie ihn in diesem Zustand noch nie gesehen hatte, und blieb stehen. Als er fast bei ihr war, bemerkte sie Blessuren in seinem Gesicht. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist, Papa“, wisperte sie und klammerte sich an ihn.
„Lass mich los, Jodie“, lallte er und hielt die Arme etwas vom Körper weg, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Verletzt löste sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück, weil er bedenklich schwankte.
„Was ist mit dir?“
Ihr Vater sank an die Wand. „Was mit mir ist?“, höhnte er und lachte plötzlich unkontrolliert. „Nichts“, meinte er, „was soll schon mit mir sein?“ Er neigte sich etwas zur Seite. Jodie befürchtete, dass er hinfallen würde. Mit beiden Händen fasste sie nach seinem Arm, um ihn notfalls zu halten.
„Du sollst mich loslassen!“, herrschte er sie an und schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt. Jodie stand wie vom Donner gerührt vor ihm. Seine Gestalt verschwamm vor ihren Augen. „Ich schlafe unten“, fügte er ruhiger hinzu und machte kehrt. Sie blickte ihm schluchzend hinterher, als sich plötzlich eine warme Hand auf ihre Schulter legte.
„Geh wieder ins Bett“, hörte sie William sagen. „Und lass Vater seinen Rausch ausschlafen. Morgen ist er wieder ganz der Alte, du wirst sehen.“
In den folgenden Tagen bekam Jodie ihren Vater kaum zu Gesicht, weil die Trinkstube sein zweites Zuhause wurde. Und wenn sie ihm begegnete, war er so sturzbetrunken, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Manchmal wurden sogar Malcolm oder William geholt, um ihn nach Hause zu bringen. Meistens legten sie ihn dann auf die harte Bank in der Stube, die vor dem Fenster stand.
Die Mutter hingegen erholte sich von Tag zu Tag mehr. Zumindest körperlich. Aber dieser Überfall schien auch sie verändert zu haben. Sie, die immer gern gelacht hatte, brachte kaum noch ein Lächeln zustande. Zwar verrichtete sie ihre gewohnten Tätigkeiten, aber jeder Handstrich wirkte kraftlos. So, als würde sie lediglich funktionieren.
Jodie war völlig überfordert und hatte keine Ahnung, wie sie mit der veränderten Situation umgehen sollte. Es lag eine seltsame Spannung in der Luft. Nur ein falscher Laut, und alles würde über ihren Köpfen zusammenstürzen. Und dass der Vater auf einmal so kühl war, machte ihr zusätzlich zu schaffen.
„Komm schon, Lowland. Sei kein Mädchen!“, rief Malcolm zu ihr herüber. Sie saß auf den Stufen der Burg. „Wer schneller oben ist.“
„Es ist der falsche Baum“, wiederholte sie zum dritten Mal und bewunderte ihren Bruder, der behände von einem Ast zum anderen kletterte. Obwohl sie ansonsten jede Wette annahm, die morsche Eiche neben der Familienkapelle war ihr nicht ganz geheuer.
„Angsthase“, zog Malcolm sie auf und verschwand in den dichten Zweigen. „Du hast keine Ahnung, was du versäumst.“
„Ich kann es mir lebhaft vorstellen“, rief sie abwesend und blickte zum Dorf hinunter. Die Burg ihrer Eltern befand sich auf einer kleinen Anhöhe. Der Old Patrick plätscherte daran vorbei, hohe kahle Bäume umsäumten das Grundstück, zu dem auch einige Ländereien in der Umgebung gehörten. Das Dorf lag am Fuße des Hügels. Oft beobachtete sie die Menschen, wie sie im Herbst durch erdige Straßen eilten oder sich am Brunnen trafen. Im Winter emsige Schritte im Schnee hinterließen und im Frühjahr ihre Gesichter lachend der Sonne zuwandten. Der Sommer schien alle endgültig aus dem Haus zu treiben. Besonders in den Vormittagsstunden wirkte das Dorf häufig wie ein Ameisenhaufen. Oft spielten ihre Brüder und sie mit den Kindern bis die Sonne unterging. Beim Gedanken daran musste sie lächeln.
„Sieh an, dir scheinen zur Abwechslung angenehme Gedanken durch den Kopf zu gehen.“ William schlenderte auf sie zu. Mit einem geschulterten Leinenbeutel, den er knapp vor Jodies Füßen auf den Boden hievte. Vermutlich war er wieder im Stall gewesen, wie so oft in letzter Zeit. Oder in der Familienkapelle, die sich gleich daneben befand. „Sieht schwerer aus als er ist“, meinte er grinsend.
„Hast du Malcolm eingepackt, um ihn beim Markt zu verkaufen?“
William lachte schallend und auch Jodie musste lachen. Es tat so gut, obwohl sie sich auf Malcolms Kosten amüsierten. Aber da der älteste Bruder selbst gerne austeilte, würde er es verschmerzen können.
„Dein Witz wird mir fehlen, Jodie.“
Ihr Lachen endete und sie blickte in Williams ernstes Gesicht. „Du willst fort?“ Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
William blickte an ihr vorbei. „Aye. Ich muss raus hier.“
Es war, als würde eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen greifen. „Das geht nicht“, entfuhr es Jodie und sie erhob sich langsam. „Du kannst mich nicht alleinlassen, William. Was soll ich ohne dich tun?“
„Malcolm und John sind auch noch da.“
„Aber sie sind nicht du“, flüsterte sie.
Nun schaute er ihr in die Augen. „Ich komme bald zurück, versprochen. Aber ich brauche etwas Abstand.“ Ehe sie sich’s versah, nahm er ihre Hände. „Warte bitte bis ich fort bin, bevor du unseren Eltern Bescheid sagst.“
„Du willst dich nicht von ihnen verabschieden?“
„Nein.“ Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. „Vater würde es in seinem derzeitigen Zustand ohnehin kaum mitbekommen, und Mutter, na ja, du kennst ihre Überredungskunst.“
„Was ist mit deiner Ausbildung?“
„Von Anfang an hat sie mir keine Freude bereitet. Aus mir wird nie ein Geistlicher werden, Jodie.“, bekannte William mit gesenktem Kopf. „Das ist mir in den letzten Tagen klargeworden. Denn wenn es einen Gott geben würde, hätte er niemals zugelassen, dass … ach, das ist jetzt auch egal.“
„Nein, das ist es nicht“, brach es aus Jodie heraus. „Obwohl Mutter behauptet, dass wir glimpflich davongekommen sind, ist sie ein völlig anderer Mensch geworden. Mit Vater ist dasselbe geschehen und bei dir ist es nicht anders. Doch niemand spricht mit mir darüber oder beantwortet meine Fragen. Auch du weißt mehr als du zugibst“, unterstellte sie ihm. „Was ist wirklich geschehen, William?“
„Glaub mir, manchmal ist es besser, einiges nicht zu wissen. Ich wäre gern an deiner Stelle, Lowland.“ Nie würde sie Williams Blick vergessen, der voller Schmerz war, aber auch voller Hass. „Ich bin der Falsche für dieses Gespräch.“ William küsste sie ins Haar, dann nahm er den Beutel und ging mit ausladenden Schritten Richtung Wald - als könnte er es nicht erwarten, endlich fort zu sein. Am liebsten wäre sie ihm hinterhergelaufen.
In den darauffolgenden Nächten weinte sich Jodie oft in den Schlaf, weil sie William so vermisste. Weil die Mutter weiterhin jeder Frage auswich. Aber am schlimmsten war es, dass der Vater - dessen Besuche in der Trinkstube von heute auf morgen aufgehört hatten - sie wie eine Aussätzige behandelte, wenn sie sich wie früher an ihn schmiegen wollte.
„Hier, damit du nicht so alleine bist.“ Malcolm war unbemerkt in die Kapelle hereingekommen und hielt Jodie eine Holzfigur unter die Nase. Verwundert schaute sie darauf, erhob sich und machte das Kreuzzeichen. „Sie heißt Molly. Ich habe sie selbst geschnitzt.“ Malcolm lächelte stolz und schien neben John der einzige zu sein, der nach wie vor der Alte geblieben war.
„Danke.“ Jodie nahm die Holzfigur und betrachtete sie. Ihr Bruder hatte ihr sogar ein lachendes Gesicht gemalt. „Molly sieht lustig aus“, bemerkte sie und erwiderte Malcolms Lächeln, obwohl ihr Herz von einer seltsamen Wehmut erfüllt war.
„Das wird schon wieder, Jodie.“
„So ähnlich hat William geklungen, bevor er fortgegangen ist.“ Prüfend schaute sie ihm ins Gesicht.
„Mach dir keine Sorgen, Jodie. Ich werde immer bei dir bleiben.“ Unbeholfen klopfte er ihr auf die Schulter, bevor er sie wieder alleine ließ. Fest drückte sie Molly an sich, kniete sich erneut vor die Heilige Madonna nieder und weinte still vor sich hin.
Die Wochen vergingen. Bald färbten sich die Blätter auf den Bäumen. Nebel zog über die Wiesen und Felder. Manchmal regnete es tagelang, begleitet von böigem Wind. An einem dieser tristen Tage hatte Malcolm das Elternhaus verlassen.
John war es, der Jodie darüber informierte und bekam unschuldigerweise ihren ganzen Zorn zu spüren. Sie schrie ihn sogar an und schleuderte Molly von sich. Wie hatte Malcolm das tun können? Obwohl er das Gegenteil versprochen hatte? Sogar in einer Kapelle? War ihm denn gar nichts heilig? Nie zuvor hatte sich Jodie verlassener gefühlt. Wen hatte sie jetzt noch? Keinem schien sie wichtig genug, und alle waren mit sich selbst beschäftigt. Gingen ihre eigenen Wege, so wie William und Malcolm.
Beim Abendessen schaute sie ständig auf die leeren Stühle, während ihr Vater und John darüber diskutierten, wohin Malcolm gegangen sein könnte. Die Mutter saß schweigend daneben und stocherte in ihrem Getreidebrei herum. Erst als sich der Vater enttäuscht über Williams abgebrochene Ausbildung äußerte, schien Leben in sie zu kommen.
„Die beiden sind alt genug, um selbst über ihre Zukunft zu entscheiden“, hielt sie dem Vater entgegen.
„Das mag für Malcolm gelten, aber nicht für William. Immerhin habe ich ein halbes Vermögen für seine Ausbildung ausgegeben.“
„Er hat von klein auf gesagt, dass er eines Tages nur einer Instanz dienen möchte: Seiner Heimat Schottland. William wird unserer Familie auf andere Weise Ehre machen, sei unbesorgt.“
Daraufhin erhob sich der Vater und verließ das Esszimmer. Auch die Mutter zog sich zurück. Jodie und John aßen schweigend zu Ende.
„Mein Ausbruch heute Nachmittag tut mir leid“, entschuldigte sich Jodie.
Johns überraschter Blick streifte sie. „Schon gut, ich bin auch zornig gewesen. Wenigstens von mir hätten sie sich verabschieden können. Aber ich war sowieso immer nur der Kleine.“
„Dann sind wir schon zwei.“
„Stimmt.“ John spielte mit dem Löffel. „Eigentlich bewundere ich die beiden. Nie hätte ich mich das getraut. Doch eines Tages werde ich so mutig sein wie sie. Vor allem wie William.“ Unverhohlene Bewunderung sprach aus seinen Worten. „Bis dahin sollten wir zusammenhalten, Jodie.“ Er wurde verlegen. „Mir ist klar, dass ich es nie mit unseren Brüdern aufnehmen kann, aber ich will mein Bestes versuchen. Wenn du also jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da. Auch wenn ich nur schmale Schultern habe.“
Jodie fasste gerührt nach seiner Hand. „Danke.“
Mit etwas mehr Zuversicht ging sie ins Bett. Trotzdem konnte sie nicht einschlafen. Wie einige Male zuvor schlich sie sich mit Molly in der Hand in die Stube. Ihr Vater verbrachte die Nächte nach wie vor auf der Bank. Leise setzte sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber und zog sich das Tuch enger um ihre Schultern. Mit ängstlichem Blick auf den Vater. Jeder geringste Laut riss ihn aus dem Schlaf. Das wollte sie vermeiden. Zu kostbar waren diese Momente, in denen sie ihn für sich alleine hatte. Nur für sich. Und auch in dieser Nacht starrte sie auf seine starken Hände und flehte Gott an, ihr zu helfen. Denn nach nichts sehnte sie sich mehr, als dass ihr der Vater wieder über den Kopf streichen würde, so wie früher.
Er rührte sich. Jodie hielt den Atem an, als er die Augen aufschlug.
„Jodie“, raunte er verschlafen. Wie sanft seine Stimme klang. Auch sein Blick war liebevoll. „Habe ich dir nicht gesagt, dass ich es nicht mag, wenn du mich im Schlaf beobachtest?“ Als kämen mit dem Wachwerden unliebsame Erinnerungen zurück, runzelte er die Stirn.
„Entschuldige, Vater.“ Sie senkte den Kopf und schaute auf ihre Hände im Schoss, die Molly hielten. „Ich konnte nicht schlafen.“
„Weshalb du mich wecken musstest?“
Jodie wischte sich grob mit Tuch über die Augen, hob den Blick und flüsterte: „Ich war ganz leise, Papa.“
„Geh ins Bett“, forderte er und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Sie starrte auf seine Hände und schluckte hart. Auf einmal öffnete sich die Tür. John kam verschlafen herein. Mit nassen Beinlingen. Fast jede Nacht nässte er ins Bett.
„Wieder einmal in die Hosen gemacht?“, fragte der Vater seufzend und erhob sich. „Na komm, lass uns Mutter Bescheid sagen.“ John schaute zu ihm auf, wie Jodie es tat.
„Ich könnte John helfen“, bot sie an. „Mutter schläft bestimmt schon.“
Der Blick ihres Vaters war nicht zu deuten. „Ach Jodie“, murmelte er und hob seine Hand, als ob er ihr über den Kopf streichen wollte. Doch bevor es dazu kam, verließ er mit John den Raum.
Es war Ende Oktober. Jodie schichtete hinter der Burg das Holz in der Remise auf. Trotz der Anstrengung waren ihre Finger klamm. Immer wieder pustete sie in ihre Hände, aber das half nicht viel. In den letzten Tagen hatte es unaufhörlich geschneit. Mit dem viel zu frühen Wintereinbruch war auch klirrende Kälte gekommen.
„Meine Güte, John“, schallte die Stimme des Vaters zu ihr. „Du sollst das Holz spalten und nicht streicheln. Weiß der Himmel, ob aus dir jemals ein richtiger Mann wird. Da hackt ja Jodie besser Holz als du.“
Sein Lob ging ihr runter wie Öl, weil sich an der Kluft zu ihrem Vater trotz der vielen Wochen nichts geändert hatte. Aber seit jenem Abend war sie nie wieder zu ihm in die Stube gegangen.
„Nein, so wird das nichts. Du darfst die Axt nicht wie einen Kamm halten, Junge.“ Vor kurzem hatte John seine Eitelkeit entdeckt und machte vor allem um seine Frisur viel Aufhebens. Sie kannte niemanden, bei dem sie so perfekt saß. „Jodie, komm her“, rief der Vater.
Sie ließ das Scheit fallen und eilte zu ihm. Als er ihr die Axt reichte, kam Stolz in ihr hoch. Obwohl es ihr an Ausdauer und Kraft fehlte, im Zielen war sie unschlagbar. Jodie hob die Axt in die Höhe, ließ sie nach unten sausen und spaltete das Scheit mit einem Schlag.
Der Vater nahm die zwei Hälften und warf sie auf den bereits ansehnlichen Haufen. „Siehst du, John, genauso macht man das.“
Jodie lächelte ihren Vater an, aber seine Miene blieb starr. Doch als er ihr die Axt aus der Hand nahm, legte er seine Hand kurz auf ihre Schulter.
„Kein Wunder, dass Jodie zuschlägt wie ein Mann“, meldete sich John zu Wort und schniefte. Seit Tagen kämpfte er mit einem hartnäckigen Schnupfen. „Sie durfte dir ja ständig helfen.“
„Eifersüchtig?“, belustigte sich der Vater.
John machte ein Gesicht, als hätte er sich in die Zunge gebissen. „Ich bin doch keine Frau.“
„Dein Wort in Gottes Ohr.“ Jetzt lächelte der Vater, und Jodie fühlte die Kälte nicht mehr. Zuversicht erfüllte sie, dass Malcolm recht gehabt haben könnte. Vielleicht würde tatsächlich alles gut werden.
„Du lernst es sicher noch“, sprach sie John Mut zu. „Ich konnte es auch nicht von einem Tag auf den anderen.“
„Siehst du“, wandte sich John an den Vater. „Kein Meister fällt vom Himmel.“
„Schon gut, Sohn.“ Er tätschelte Johns Wange. „Wie weit bist du eigentlich in der Remise, Jodie?“ Der Vater rieb seine Hände aneinander.
„Fast fertig.“
„Dann lass es gut sein für heute. Den Rest können wir morgen erledigen. Es wird Zeit, dass wir etwas zwischen die Zähne bekommen.“
Einträchtig wateten sie durch den Schnee und saßen kurz darauf am Küchentisch. Zu Mittag aßen sie manchmal hier. Vor allem im Winter, weil kein Raum so warm war wie die Küche. Mary goss Suppe in die Schüsseln und stellte eine nach der anderen vor sie hin. Fast gleichzeitig griffen sie zu ihren Löffeln und begannen zu essen. Dabei schielte Jodie immer wieder zu ihrem Vater. Manchmal fing sie seinen nachdenklichen Blick auf, doch er senkte ihn sofort.
„Falls noch jemand Hunger hat, es ist genügend da.“ Mary schaute wohlwollend von einem zum anderen.
„Ich könnte einen weiteren Happen vertragen.“ Der Vater deutete auf die fast leere Schüssel. „Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen, Mary.“
Die Köchin grinste. Kurz danach stellte sie die aufgefüllte Schüssel auf den Tisch.
Der Vater schob sie näher zu sich und widmete sich seiner zweiten Portion. „Wo ist eigentlich Margarete?“, erkundigte er sich zwischen zwei Bissen.
„Sie hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen, Sir“, unterrichtete Mary ihn. „Soviel ich weiß schreibt sie einen Brief an Euren Schwager Ronald.“
Jodie spürte wieder den Wunsch in sich, lesen und schreiben zu können. Ob sie die Mutter fragen sollte? Abgesehen von der Bildung würden sie endlich mehr Zeit miteinander verbringen, so wie sie es beim Holzhacken mit dem Vater tat. Irgendwie schien er gelöster und ihr ging es ebenfalls besser. Außerdem schadete es keinem Mädchen, wenn es mehr konnte als von ihm erwartet wurde.
„Was ist mit Euch, Kinder? Mögt Ihr Nachschlag?“ Mary stemmte die Hände in die Hüften. Johns und Jodies Schüssel waren inzwischen leer.
„Für eine zweite Ladung habe ich keine Zeit“, lehnte John ab.
„Wieso? Möchtest du weiter Holz hacken?“ Der Vater lachte verhalten, bevor er sich den Löffel in den Mund schob. Dann schluckte er und ließ den Löffel sinken. „In letzter Zeit habe ich mich ziemlich gehen lassen.“ Mit jedem Wort war der Vater leiser geworden, bevor er den Blick hob und Jodie ansah. Fast so wie früher. Nur mit dem Unterschied, dass Bedauern in seinen braunen Augen lag.
„Hier riecht es nach Schweiß“, meldete sich John zu Wort und vertrieb diesen schönen Moment. „Ob das Jodie ist? Außerdem würde es mich nicht wundern, wenn sie Läuse hätte. Bei dem verfilzten Haar.“
„Wieso bist du so gemein?“, patzte sie ihn an, obwohl sie den Grund für seine Beleidigung ahnte. Es passte ihm vermutlich nicht, dass der Vater bei seiner Aussage nur sie angesehen hatte.
„Wer hart arbeitet, riecht nach Schweiß. Warum du nach Rosenblüten duftest, solltest du umgehend hinterfragen, Junge.“ Der Vater tauchte den Löffel in die Suppe. Sein Goldring am kleinen Finger blitzte auf. „Und Läuse hattest du öfter als deine Geschwister, wenn ich dich daran erinnern darf.“
„Immer hilfst du zu Jodie“, maulte John und sandte ihr einen grimmigen Blick.
„Das stimmt nicht. Ich helfe dem, der ungerecht behandelt wird. Und wiederum muss ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Wie oft habe ich Malcolm und William ausgeschimpft, weil sie sich einen Spaß mit dir erlaubt haben?“
John nahm eine gerade Haltung an. „Die zwei haben alles zurückbekommen“, behauptete er, aber alle am Tisch wussten es besser.
Zwischen den Brüdern war es regelmäßig zu Raufereien gekommen, aus denen John chancenlos hervorging. Andererseits hatten sich auch Malcolm und William nichts geschenkt, weil sich Malcolm oft darüber geärgert hatte, dass William der Größere und Stärkere war. Dann wiederum waren die zwei wie Pech und Schwefel gewesen. John hatte es schwer, seinen Platz unter den Brüdern zu finden. Kein Wunder, dass er sich anderen Dingen zuwandte. Trotzdem hatte Jodie keine Lust, dass er seine schlechte Laune an ihr ausließ.
„Alan.“ Plötzlich stand die Mutter mit aschfahlem Gesicht in der offenen Tür. Auf die übliche Haube hatte sie verzichtet. Strähnen lösten sich aus ihrem hochgesteckten kastanienbraunen Haar. „Könntest du bitte kommen?“
Der Vater legte den Löffel ab und stand auf. „Ist etwas geschehen?“
Statt zu antworten, drehte sie sich um und ging davon. Der Vater eilte ihr nach. John und Jodie sahen sich fragend an.
Mary sandte einen Blick nach oben. „Herr im Himmel, lass diesen Kelch an uns vorübergehen“, sprach sie inbrünstig aus. „Kredenze ihn jedem anderen, nur nicht uns.“
„Was redest du da für dummes Zeug?“, fragte John kopfschüttelnd.
Marys Blick war undefinierbar. „Ich bete immer, wenn ich das Gefühl habe, dass sich über diesem Haus etwas zusammenbraut.“
„Was soll sich denn …“
„Du bist was?“, wurde John vom Gebrüll des Vaters unterbrochen.
„Jesus Maria“, Mary machte das Kreuzzeichen. „Als hätte ich es geahnt.“
Jodie hielt nichts mehr in ihrem Stuhl. Als sie in die Halle kam, standen sich die Eltern wie Kampfhähne vor der Kellertreppe gegenüber.
„Wie konnte das geschehen?“, brüllte der Vater.
Die Mutter schluchzte auf. „Bitte quäle mich nicht weiter, Alan.“
„Wer hier wohl wen quält“, höhnte er. „Dabei habe ich gedacht, dass wir das Schlimmste hinter uns hätten.“
„Du bist so selbstgerecht!“ Die Mutter schlug sich die Hände vor das Gesicht und weinte hemmungslos.
Jodie lief zu ihr hin, legte einen Arm um ihre Taille und schaute zum Vater hoch. „Bitte, Papa, hört auf zu streiten“, bettelte sie.
„Misch dich gefälligst nicht ein.“ Der Vater fasste nach Jodies Arm. „Mach, dass du in dein Zimmer kommst. Das hier geht nur deine Mutter und mich etwas an!“ Heftig zerrte er sie von der Mutter weg, als Jodie plötzlich stolperte und im nächsten Augenblick polternd über die Kellertreppe hinunterfiel. Unten krachte sie gegen die Tür. Ein greller Schmerz fuhr durch ihre Beine und ihren Rücken.
„Was hast du getan, Vater?“, hörte sie John rufen.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen.