Читать книгу Weil Schottlands Herz für die Freiheit schlägt - Bettina Reiter - Страница 7
2. Kapitel
ОглавлениеDezember, 1294 - zehn Jahre später
„Verdammt!“ König Edward schlug mit der Faust auf den wuchtigen Schreibtisch. Papierrollen fielen auf den Boden. Das Tintenfass kippte um. Sein Bruder Edmund, der ihm gegenüber saß, sank tiefer in den Sitz. „Verflucht sollst du sein!“, steigerte sich Edward weiter in seinen Jähzorn gegen Frankreich hinein und ahnte gleichzeitig, dass sein Bruder den Ausbruch auf sich selbst münzen würde.
„Es tut mir leid, dass ich dir keine bessere Nachricht überbringen konnte.“ Edmunds mitfühlende Stimme machte ihn noch wütender.
„Ich verabscheue die Franzosen.“ Edwards Stimme überschlug sich fast. „Wie viel Energie habe ich darauf verwendet, Aquitanien und vor allem die Gascogne aus dem Lehnverhältnis zu lösen. Ich könnte unseren Vater erwürgen, wäre er nicht schon längst tot. Wie konnte er die Ländereien dem französischen König überlassen? Ausgerechnet ihm?“ Wieder traf seine Faust den Schreibtisch. „Den monatelangen Aufenthalt in der Gascogne hätte ich mir sparen können!“
„Du sprichst, als wäre alles umsonst gewesen. Vergiss nicht, dass du durch deine Anwesenheit zumindest deine Stellung festigen konntest“, zwitscherte Edmund wie ein besänftigendes Vöglein.
„Hör auf. Wir wissen beide, dass ich wieder ganz am Anfang stehe.“ Edward stöhnte unwillig auf. „Ich wünschte, Eleonore wäre jetzt hier.“ Seine Frau war vor vier Jahren gestorben. Mit ihr eine kluge Beraterin und treue Gefährtin. Ihr Tod hatte ihm zugesetzt, und erst vor einigen Monaten hatte er sich dazu durchgerungen, wieder zu heiraten. Blanche von Frankreich sollte es sein. Nicht nur aufgrund ihrer vielgerühmten Schönheit, auch politisch konnte er bei dieser Verbindung aus dem Vollen schöpfen. Blanches Halbbruder Philipp hatte sich einverstanden erklärt, sich aber zwei Rechte vorbehalten: Die Gascogne sollte vollständig in französische Hände gegeben werden, und ein Waffenstillstand wurde gefordert. Natürlich hatte er dem vorerst zugestimmt, dann war sein Bruder Edmund nach Frankreich gereist, um Blanche zu holen.
„Niemand konnte ahnen“, fuhr Edmund fort, „dass man uns Blanche schmackhaft macht, obwohl sie Rudolf von Böhmen versprochen ist.“ Er verzog das Gesicht, bevor er sich vorsichtig zurücklehnte. Vermutlich die üblichen Rückenschmerzen. Sein zinnoberrotes Überkleid hatte schon bessere Tage gesehen. Schweiß stand auf seiner wächsernen Stirn. Sie hatten nur das gewellte schulterlange Haar gemeinsam, den Vollbart und die dunklen Augen. Ansonsten waren sie grundverschieden wie ihre Beinamen: Edmund wurde seit seiner Beteiligung am Kreuzzug ´Crouchbackˋ genannt, er aufgrund seiner imposanten Körpergröße ´Longshanksˋ. Etwas, worauf Edward stolz war. Im Gegensatz zu seinem linken Oberlid, das nach unten hing und seine Sicht einschränkte.
„Zu allem Überfluss bieten sie mir Margarethe an.“ Edward konnte es immer noch nicht fassen und stieß ein trockenes Lachen aus. „Eine Zwölfjährige! Sie mag im heiratsfähigen Alter sein, aber sie ist in Frankreich aufgewachsen und vermutlich völlig unreif. Die dortige Erziehung ist mit der unseren nicht zu vergleichen. Blanche hätte dieser Kleinen wenigstens Liebreiz vorausgehabt.“ Das mittägliche Rindfleisch mit Kräuterbrei lag ihm plötzlich schwer im Magen. „Also was soll ich mit ihr? Spielen? Sie erziehen? Ich bin über fünfzig und will eine Frau. Mit Kindern bin ich dank Eleonore zur Genüge gesegnet.“
„Möchtest du meinen Rat hören?“
„Lass mich raten: Ich soll mich mit Frankreichs lächerlicher zweiter Wahl zufriedengeben und den Schwanz einziehen?“
„Ob Blanche oder Margarethe, in beiden Fällen hättest du Vorteile“, sprach Edmund ihm ins Gewissen. „Außerdem soll Margarethe ihrer Schwester in nichts nachstehen, weder in Schönheit noch in Reife. Man nennt sie sogar die ´Blume von Frankreichˋ.“
„Und wenn schon. Die Franzosen neigen seit jeher zu maßloser Übertreibung.“ Der Stuhl flog nach hinten, als sich Edward erhob. „Vermutlich ist Margarethe hässlich wie die Nacht. Oder hast du sie gesehen und kannst das Kompliment bestätigen?“
Jetzt wirkte Edmund wie ein Häufchen Elend. „Nur von Weitem konnte ich einen Blick auf sie erhaschen … allerdings trug sie einen Schleier vor dem Gesicht.“
„Einen Schleier?“, erboste sich Edward. „Und trotzdem willst du sie mir schmackhaft machen? Du bist ein elender Dummkopf!“ Speicheltröpfchen besprenkelten den Tisch. Sein Bruder wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Edward zog herrisch an seinem roten Umhang, auf den er gestiegen war. Auf einmal war ihm heiß, gleichzeitig fror er. Fluchend durchmaß er mit kraftvollen Schritten den düsteren Raum. „Ich wünsche, dass du ein Schreiben verfasst.“ Edward baute sich vor dem großen Fenster auf und verschränkte die Arme im Rücken. „Mit folgendem Inhalt: Der König von England lehnt nicht nur eine Verlobung mit Margarethe ab, sondern erklärt Frankreich hiermit den Krieg.“ Der tiefe Atemzug seines Bruders verunsicherte ihn kurz. „Der Brief soll umgehend aufgesetzt werden. Je eher dem französischen König klar wird, mit wem er sich angelegt hat, desto besser. Danach wirst du den königlichen Rat informieren. Ich erwarte die Lords im Ratssaal.“
„Obwohl ich deinen Ärger verstehe, bitte überlege dir diesen Schritt. Du weißt um die Finanzen unseres Haushalts. Zu viele Kriege haben bereits ein großes Loch in Englands Staatskasse gerissen.“
„Zerbrich dir nicht meinen Kopf“, fuhr Edward ihm über den Mund. „Ich habe vor, die Zölle zu erheben, insbesondere jene der Wolle. Außerdem wird künftig die Hälfte aller kirchlichen Einnahmen in die königliche Schatzkammer fließen. Der Reichtum unserer Obrigkeiten ist ohnehin kaum zu ertragen.“
„Der Papst wird dem nicht zustimmen.“
„Wer braucht den Papst? Der Klerus wird mir aus der Hand fressen, sobald ich bei Nichtbefolgung mit Ächtung drohe.“
„Du wagst dich weit hinaus, Bruder. Aber dein Wort in Gottes Ohr.“
„So sei es. Ach ja, noch etwas: Lass Schottlands König Balliol herzitieren. Vordergründig, um mir über die Steuern Rechenschaft abzulegen. Sobald er hier ist, werde ich ihm von der Wendung mit Frankreich berichten. Der schottische König soll an meiner Seite kämpfen.“
„Was, wenn sich Balliol sträubt? Wie dir bekannt sein dürfte, ist er dir längst nicht mehr so wohlgesonnen wie bei seiner Thronübernahme. Es brodelt in Schottland.“
„Wie dir bekannt sein sollte, ist es im Tower kaum auszuhalten. Solltest du mich also weiterhin mit Nebensächlichkeiten plagen, kannst du dir einen Kerker mit Balliol teilen.“.
Edmunds Stuhl knarzte über den Marmor. Als Edward das leise Schließen der Tür hörte, entspannte er sich. Der Blick auf seinen sandfarbenen Palast tat sein Übriges. Majestätisch erhob sich das Schloss auf Thorney Island, wie er das Gebiet noch immer nannte, obwohl es inzwischen als Westminster bekannt war. Früher ein Sumpfgebiet, durch das sich die Themse schlängelte.
Unwillkürlich dachte Edward an die rauschenden Feste in der Westminster Hall, an die vielen Siege, die er dort gefeiert hatte. Auch Frankreich würde er besiegen und die Schotten weiterhin in Schach halten, deren König vor acht Jahren bei einem Sturm in Kinghorn ums Leben gekommen war. Zuvor waren alle seine Kinder verstorben. Vielleicht ahnte der König seinen baldigen Tod voraus, denn zwei Jahre zuvor hatte er durchgesetzt, dass ihm seine Enkelin auf den Thron folgen sollte. Mit drei Jahren war sie schließlich zum Oberhaupt Schottlands ernannt worden, als Siebenjährige hatte man sie in ihr neues Herrschaftsgebiet geschickt. Bei der Überfahrt erlag sie nahe den Orkney-Inseln jedoch einer schweren Krankheit.
Diese Abdankung erzürnte Edward noch jetzt, weil sie das Scheitern eines perfekten Plans bedeutet hatte. Es war ihm nämlich gelungen, die Hochzeit zwischen seinem Sohn und der schottischen Thronerbin zu arrangieren. Doch es gab andere Mittel und Wege, um sich dieses Land anzueignen. Immerhin hatte man ihn bereits zu Lebzeiten der Thronerbin in Schottlands Interessen eingebunden, und da es vierzehn Anwärter auf den Thron abgesehen hatten, war er mit der Schlichtung betraut worden. Glücklicherweise stand Balliol gemäß der Erbfolge an erster Stelle, ein Verbündeter Englands. Aber selbst dieser Trottel ahnte nicht, dass er bei Weitem mehr wollte, als nur uneingeschränkter Lehnherr von Schottland zu sein. Das Volk war scheinbar schlauer als dessen König, denn die Widerstände gegen England mehrten sich. Aber das war eher amüsant als beunruhigend. Sein Vasall Balliol würde Schottland zu Englands Vasall machen, ob die Schotten wollten oder nicht. Und wieder einmal würde er bekommen, wonach ihm der Sinn stand. Balliol tanzte nach seiner Fiedel. Ebenso wie Robert the Bruce, der Zeter und Mordio geschrien hatte und Balliols ärgster Widersacher in der Streitfrage um den Thron war. Wie ein kleines Kind fühlte sich Bruce übergangen und war ihm bei kleineren Aufständen einige Male in den Rücken gefallen. Um ihn mundtot zu machen, hatte er ihn nach Irland geschickt sowie sämtliche Schulden erlassen. Einzig Comyn bereitete ihm Kopfzerbrechen, der manchen Aufstand initiiert hatte. Selbst Anwärter auf den Thron, verfolgte Comyn dieses Ziel jedoch nur halbherzig. Allerdings engagierte er sich sehr für König Balliol. Sicherlich auch, weil er mit ihm verwandt war. Doch Balliol würde den lästigen Comyn im Bedarfsfall sicher zur Raison bringen können.
„Störe ich?“
Edward fuhr herum. „Was für eine überflüssige Frage, Elizabeth.“ Und ob du störst!
Kaum ausgesprochen, trat sie ein. Lieber hätte er weiter an seine Erfolge gedacht, als sich zu unterhalten. Doch Elizabeth war die Tochter des Earls von Ulster, der zu seinen engsten Vertrauten gehörte. Wohl oder übel musste er sich ihr deshalb widmen, da der Earl einer der reichsten und mächtigsten Männer Englands war und hin und wieder seine Privatschatulle füllte.
Elizabeth verbeugte sich und erlaubte einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté. Die milchige Haut wölbte sich an pikanter Stelle hervor. Das, und die scharlachrote Farbe des seidenen Stoffes, verlieh ihr etwas Verruchtes.
„Habt Ihr Euch Eurem Vater zuliebe in Rot gekleidet?“, erkundigte sich Edward mehr aus Höflichkeit, als dass es ihn interessiert hätte. „Wie geht es meinem Freund, dem Roten Earl?“
„Gut, soweit mir bekannt ist, Sire. Leider komme ich kaum dazu, seine Briefe zu lesen.“ Sie näherte sich und Edward fragte sich im selben Atemzug, womit sie wohl beschäftigt war? Mit dem Nichtstun? Man tuschelte im Allgemeinen, dass sie bis mittags schlafen und sich gerne den einen oder anderen Becher Wein gönnen würde. Allerdings war sie bisher in seinem Beisein nicht durch Trunkenheit aufgefallen. „Welchem Umstand verdanke ich die Ehre Eures Besuchs?“ Edward stellte sich hinter seinen Schreibtisch.
„Robert the Bruce.“ Sie zog einen Schmollmund. „Wann kehrt er endlich zurück?“
Edward taxierte sie. Elizabeth war eine Frau, vor der man sich in Acht nehmen musste. Vor allem, wenn sie etwas wollte. Und wie es schien wollte sie Robert the Bruce, um jeden Preis. Was dieser Zwanzigjährige an sich hatte, dass ihm die Frauen in Scharen hinterherliefen, wusste er nicht. Doch Elizabeths Absicht kam ihm gelegen. Einen derartigen Machthunger hatte er selten bei einer Frau erlebt. Ihr verlockender Busen, der arrogante Ausdruck in den blauen Augen und ihr aristokratisch anmutendes Gesicht regten ihn zusätzlich an. Vom hüftlangen Blondhaar ganz zu schweigen. Eine makellose Schönheit, und nicht zum ersten Mal dachte Edward darüber nach, sie in sein Bett zu zitieren. Aber da sie momentan nur Augen für Bruce hatte, wäre ein Befehl dieser Art unklug gewesen. Elizabeth ließ sich ungern zu etwas zwingen und er brauchte sie noch.
„Was hat Bruce, das ich nicht habe?“, konnte sich Edward die Frage dennoch nicht verkneifen.
„Darauf wollt Ihr nicht wirklich eine Antwort.“
„Weshalb? Habt Ihr Angst um Euren schönen Kopf?“
Elizabeths Augen verengten sich. „Womöglich.“
„Also muss ich annehmen, dass Eure Antwort wenig schmeichelhaft für mich wäre?“
„Ihr kennt das ja selbst, mein König. Alles Neue hat seinen Reiz. Wir beide hingegen sind uns zu vertraut.“
„Gut gelogen, Elizabeth.“ Ihr Augenaufschlag hatte etwas Laszives. „Ich werde Robert the Bruce Eure Vorzüge wärmstens empfehlen“, versprach Edward mit Doppelsinn. „Und wenn er mich das nächste Mal aufsucht, sorge ich dafür, dass Ihr eine Weile mit ihm allein seid. Aber Ihr kennt die Hürde, die Ihr ohne meine Hilfe schaffen müsst.“
„Seid unbesorgt, ich nehme es mit jeder Frau auf.“
„Das glaube ich Euch aufs Wort. Als Lohn für meinen Einsatz hoffe ich, dass Ihr Robert in meine Richtung lenken werdet. Ein Feind weniger käme mir mehr als gelegen.“ Ihr Lächeln vertiefte sich und ihm zeigten sich strahlend weiße Zähne. „Wenn das alles war, Elizabeth, ich muss in den Robing Room.“
„Habt Ihr eine Sitzung mit dem Kronrat einberufen?“, erkundigte sie sich und nun wurde ihr Lächeln spöttisch. „Zieht England in den Krieg? Gegen die Schotten?“ Ihre Überheblichkeit, die in den Worten lag und die auch ihr Gesicht beherrschte, stieß ihn ab wie sie ihn gleichzeitig anzog. Keine Frau am Hof war so wie sie.
„Weder das eine noch das andere“, wiegelte Edward härter als gewollt ab. „Statt Euch um Englands Interessen zu kümmern, solltet Ihr lieber darüber nachdenken, wie Ihr Robert nachhaltig becircen wollt. Übrigens, ich rechne jeden Tag mit ihm.“
Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter Jodies Füßen. Schneidender Wind fuhr durch die Schichten ihrer Kleider, während sie auf die Eingangspforte ihres Elternhauses zuging. Wie jeden Nachmittag hatte sie einen Spaziergang durch den Park gemacht und über vieles nachgedacht. Über ihr Leben, das keines war, woran ihr Hinken sie bis ans Ende ihrer Tage erinnern würde. Auch bei Malcolm waren ihre Gedanken wieder gewesen, der bei einer Schlacht am ´Loudon Hillˋ in East Ayrshire vor zwei Jahren gefallen war. Niemand hatte geahnt, dass er sich schottischen Truppen anschließen würde. Ich werde immer bei dir bleiben. Heute wusste Jodie, was ihr damals entgangen war. Malcolm hatte sein Versprechen gehalten. Er war bei ihr geblieben, auf seine Art. Deswegen hatte er Molly für sie geschnitzt.
Tränen traten aus ihren Augen. Wie sehr sie Malcolm vermisste! William nicht weniger. Er war damals zwar nach einem Jahr nach Hause zurückgekehrt, doch lange hatte er es nicht ausgehalten. Zum einen hatte es ständig Streit mit dem Vater gegeben, zum anderen wollte William Schottland bereisen, was er in den letzten Jahren ausgiebig tat.
Ein knarrendes Geräusch schreckte Jodie hoch.
Die Mutter trat aus dem Haus und zog sich das graue Tuch enger um die Schultern. „Komm endlich herein, sonst erfrierst du noch.“
„Gleich“, erwiderte Jodie und fühlte sich wieder um dieses bisschen Freiheit beraubt. Seit Jahren kettete die Mutter sie regelrecht ans Haus. Inzwischen hatte sie das Gefühl, das Leben einer Einsiedlerin zu führen, sofern man von ihrer Familie und dem Personal absah.
„Nicht gleich, sondern jetzt“, beharrte die Mutter und fuhr sich ordnend über das inzwischen ergraute Haar. „Nun mach schon, Kind“, fügte sie sanfter hinzu.
„John darf in die Trinkstube und William durch Schottland ziehen, ich hingegen nicht einmal vor das Haus“, murrte Jodie und setzte sich in Bewegung.
„Das stimmt nicht ganz. Du bist draußen. Außerdem ist es nur zu deinem Besten.“
„Ja, ich weiß.“ Missmutig stieg Jodie die fünf vereisten Treppen hoch. „Du meinst es nur gut.“
„Jodie Wallace, reiß dich zusammen. Du hast keinen Grund zur Klage.“
„Was diskutiert ihr hier draußen herum?“ Der Vater tauchte hinter ihrer Mutter auf. „Geh hinein, Margarete. Du solltest inzwischen wissen, dass jegliches Diskutieren mit deiner Tochter zwecklos ist.“ Deiner Tochter. Verletzt hielt Jodie seinem Blick stand, während die Mutter ins Haus ging.
Sie standen sich gegenüber. Ihr Vater überragte Jodie um einen halben Kopf. Das kinnlange Silberhaar kräuselte sich an den Spitzen. Wie immer wirkte sein faltiges, bartloses Gesicht verkniffen. „Du bist undankbar“, warf er ihr vor und blickte zum Stall hinüber. Seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, bevor er sich wieder auf sie konzentrierte. Plötzlich fühlte sich Jodie wie das kleine Mädchen von damals, das in der Eingangspforte stand und hilflos dabei zusehen musste, wie dieser Mann ihre Mutter Richtung Stall bugsierte. Im nächsten Moment wähnte sie sich wieder im Keller. Sah sich selbst, wie sehr sie um die Liebe des Vaters bettelte oder sich in den Schlaf weinte.
„Du hast deine Mutter gehört. Also komm ins Haus“, holte der Vater sie in die Wirklichkeit zurück.
„Ich musste gerade an den Überfall denken“, entfuhr es Jodie, bevor sie es verhindern konnte.
Seine Züge froren ein. „Wie oft denn noch? Deine Mutter und ich wollen nicht darüber reden. Kannst du das nicht endlich respektieren?“ Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch das Haar. „Was genau willst du denn hören, Jodie? Wie die Sache abgelaufen ist? Meine Güte, wir könnten genauso gut alle tot sein. So gesehen sind wir glimpflich davongekommen, was dir deine Mutter schon tausendmal versichert hat. Es gibt deshalb keinen Grund, die Sache aufzuwärmen. Nebenbei gesagt wundere ich mich immer wieder darüber, wie viele Flausen dir William in den Kopf gesetzt hat.“
„Er hat nichts damit zu tun.“
„Dass ich nicht lache! Mein Sohn hat sich schon immer in Dinge eingemischt, die ihn nichts angehen und war bereits als Halbwüchsiger ein Rebell.“ Immerhin nannte er ihn seinen Sohn. „Im Augenblick stehst du William in nichts nach. Wo ist bloß die kleine Jodie geblieben, die sich mit dem zufrieden gab, was man ihr zugestand?“
Jodie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Und wo ist der Vater geblieben, der mich geliebt hat?“, flüsterte sie und schluckte hart. „Seit diesem unseligen Überfall vermisse ich ihn mehr als du ahnst. Sogar nach meinem Treppensturz hast du mich wie Luft behandelt.“ Sie zögerte. „Wieso kannst du mich nicht mehr lieben, Papa?“
„Hör auf“, kam es schmerzerfüllt zurück, als würde sie an einer Wunde reißen.
Tränenblind starrte sie ihn an. „Das kann ich nicht. Weil ich kein Kind mehr bin, sondern eine erwachsene Frau.“ Als stünde William hinter ihr, straffte Jodie ihre Schultern. „William hat mich nie gegen dich aufgehetzt. Aber er weiß etwas, soviel ist sicher, allerdings behielt er es all die Jahre für sich. Vermutlich vertraut er darauf, dass ihr das Richtige tun werdet, du und Mutter. Dass ihr mir erzählt, weshalb du mich wie eine Schuldige ansiehst und mich Mutter vom Rest der Welt abschottet. Was habe ich verbrochen?“
Seine schallende Ohrfeige traf sie unvermittelt. Jodie taumelte zurück. Entsetzt blickte sie den Vater an, der seine Hand anstarrte, als gehöre sie nicht zu ihm.
„Immerhin“, presste Jodie voller Bitterkeit hervor und lehnte sich erschöpft gegen die Wand, „hast du mich endlich wahrgenommen.“ Plötzlich sah sie Tränen in seinen Augen. Im selben Augenblick wurde ihr klar, dass sie in seiner Welt tatsächlich schuldig war. Welchen Verbrechens auch immer, es musste so schwerwiegend sein, dass er es nicht schaffte, sein eigen Fleisch und Blut zu lieben.
Eine halbe Stunde später stand Jodie immer noch wie versteinert am selben Platz. Ihr Vater war längst ins Haus gegangen. Ohne ein weiteres Wort. Etwas kitzelte in ihrem Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass es zu schneien begonnen hatte und sie völlig durchgefroren war. Als sie die Pforte hinter sich schloss, atmete sie tief ein. Es roch wie üblich nach Sandelholz, auch nach Weihrauch, den besonders die Mutter zu dieser Jahreszeit liebte.
Wie still es war. Unsagbar still.
Ihr Frösteln verstärkte sich. Schnell ging sie in die Stube, die sie leer vorfand. Aber wenigstens war es warm im Raum, der gleichzeitig als Esszimmer diente und als einziger beheizt wurde. Die Flammen fraßen sich knisternd durch die Holzscheite.
Sie blickte zu den Dolchen an der Wand. Eine Stelle war heller, die Form der fehlenden Waffe deutlich zu erkennen. William hatte den Dolch mitgenommen. Ob er tatsächlich damit tötete, wie es ihm nachgesagt wurde? ´Outlawˋ wurde ihr Bruder von allen genannt, auf den ein hohes Kopfgeld ausgesetzt war. Aber sollte er die Gräueltaten tatsächlich getan haben, musste es in Notwehr geschehen sein. Ansonsten hätte sie William nie gekannt.
Das Klappern von Töpfen war aus der Küche zu hören. Jodie beschloss hinüberzugehen, weil dieses Alleinsein erdrückend war. Wenige Augenblicke später nickte sie der siebzehnjährigen Muriel zu, bevor sie sich an den zerfurchten Küchentisch setzte. In der Mitte lag frischgebackenes Brot in einem geflochtenen Korb.
„Warst du heute auf dem Markt?“, fragte Jodie, um die Stille zu vertreiben.
„Wer sonst?“, kam es schnippisch von Muriel zurück, die das beschlagene Fenster öffnete. Im Nu erkaltete der dampfige Raum. „Bei diesem Wetter jagt man keinen Hund vors Haus, es sei denn er heißt Muriel Healy. Unsere Mary hat es sich derweil in der Küche gemütlich gemacht und ihren fetten Hintern am Feuer gewärmt.“
Die alte Köchin und Muriel verstanden sich nicht gut. Vielleicht, weil Mary schon seit über zwanzig Jahren für die Eltern arbeitete, Muriel erst seit einem halben Jahr. Obwohl die Magd entgegen ihrer sonstigen Art vor Mary kuschte, fühlte sich diese offenkundig in ihrem Terrain bedroht und führte ein umso strengeres Regiment. Außerdem war Muriel sehr gesprächig, während Mary Klatsch nicht ausstehen konnte.
„Aber bevor Ihr fragt, es gibt kaum Neues.“ Wie ein Dieb blickte Muriel zur Tür. „Der Bauernmarkt war schlecht besucht und die wenigen, die gekommen sind, hatten bei den eisigen Temperaturen sowieso keine Lust zum Plaudern.“ Muriel kam zum Tisch. „Nur die alte Stuart wusste zu berichten, dass eine Todeswelle auf uns zurollt.“
Jodie brach sich ein Stück Brot ab und schob sich den Bissen in den Mund. „Wird es zum Krieg mit England kommen?“, fragte sie kauend und musste an Malcolm denken.
„Der käme mir gelegener als die Hiobsbotschaft der Stuart. Grausige Seuchen sollen im Anmarsch sein.“ Muriel nahm ein Leinentuch vom Wäschestapel auf dem Stuhl neben sich und breitete es auf dem Tisch aus. Sie waren im selben Alter, doch die Magd hatte ihr viel voraus. Vor allem die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können.
Jodie schluckte den Bissen. „Was würde ich darum geben, an deiner Stelle zu sein.“ Sie lehnte sich zurück und spürte die harte Stuhlkante in ihrem Rücken.
„Macht Ihr Witze?“ Muriel blickte kurz zu ihr, als wollte sie sich vergewissern, nicht zu frech gewesen zu sein. Aber sie hätte sich einiges leisten können. Zu wertvoll war sie als Gesprächspartnerin, denn die Neuigkeiten vom Markt sorgten für etwas Abwechslung. Auch wenn es Jodie nicht gefiel, dass manchmal sogar über sie getratscht wurde. Viele dichteten ihr eine Geisteskrankheit an. Eigentlich nicht weiter verwunderlich, da man sie im Dorf nie wieder gesehen hatte. Trotzdem störte es sie, obwohl Muriel versicherte, dass sie die Dinge stets richtigstellen würde. „Ihr lebt in einer Burg und habt keine finanziellen Sorgen. Eure Mutter hütet Euch wie ihren Augapfel und Euer Vater ist ein umgänglicher Mensch. Davon abgesehen seid Ihr mit Schönheit gesegnet. Euer langes kastanienbraunes Haar glänzt und eure Haut ist makellos. Auf meinem Gesicht hingegen sprießen Pusteln, als würden sie ein Familientreffen abhalten. Die schmale Nase habt Ihr von Eurem Vater, die grünen Augen von Eurer Mutter. Überhaupt seid Ihr meiner Herrin wie aus dem Gesicht geschnitten. Mitsamt den langen Wimpern, den geschwungenen Lippen und Eurer zarten Gestalt. Und da hadert Ihr mit Eurem Leben? Die Anwärter um Eure Hand müssen ja förmlich Schlange stehen. Ich schätze, Euer Vater hat alle Hände voll damit zu tun, den passenden Mann zu finden.“
Jodie fuhr sich mit beiden Händen über die müden Augen. „Wie soll ich je einen Mann kennenlernen? Dazu müsste ich unter die Leute kommen, einen Ball besuchen dürfen oder etwas dergleichen. Außerdem weiht mich Mutter ohnehin ständig in die Abgründe der Männer ein. Ich werde in diesem Haus als alte Jungfer sterben.“
„Eure Mutter will eben nicht den Erstbesten, sondern dass Ihr glücklich seid.“
„In ihren Augen sind alle Männer Schweine.“
Muriel lachte verhalten. „Das wird Eurem Vater sicher nicht gefallen.“
„Wie meinen Brüdern, die sie jedoch offenkundig liebt.“
„Also können nicht alle Männer schlecht sein.“
„Das habe ich ihr auch gesagt.“
„Was hat sie geantwortet?“
„Dass sie meine Brüder erzogen hat und die drei deswegen zu den Guten gehören. Vielmehr die zwei, die uns noch geblieben sind.“
„William kenne ich nicht und der kleine John ist ziemlich grün hinter den Ohren, wenn Ihr mich fragt. Will den Helden spielen, dabei ist er ein Feigling, sobald es darauf ankommt.“ Die zweideutige Miene warf allerhand Fragen auf, doch Jodie hatte andere Sorgen als dass sie genauer nachgefragt hätte.
„John eifert William nach“, verteidigte sie ihren Bruder stattdessen. „Das hat er schon immer getan. Erst recht seitdem Malcolm gefallen ist.“
„Na ja, irgendwann wird auch John ein paar Ecken und Kanten bekommen und sich nicht mehr in die Hosen machen, sobald ihn etwas erschreckt.“ Jetzt grinste sie. „Manchmal kommt er mir vor wie ein Weib, und ehrlich gesagt, er redet auch so viel wie unsereins.“
„Apropos reden: Hast du aus Mary noch immer nichts herausbekommen?“
Muriels heitere Miene verfinsterte sich. „Sie ist verschlossen wie eine Auster. Aber ich habe langsam ebenfalls das Gefühl, dass diese Mauern ein Geheimnis hüten. Eines, das auch Mary schützt wie ein Grab.“
„Woher dieser plötzliche Sinneswechsel? Bisher hast du mich nur ausgelacht.“
„Eure Mutter und Mary kleben bei jeder Gelegenheit zusammen. Und dann diese wissenden Blicke, die sie ständig tauschen … leider ist es mir nicht gelungen, eines ihrer Gespräche zu belauschen. Mary hat Ohren wie eine Fledermaus.“
„Schade. Ich hatte gehofft, dass es wenigstens dir gelingen könnte.“
Mit eingeschnappter Miene faltete Muriel das Tuch zusammen. „Immerhin habe ich es versucht, aber wenn Ihr schon so neunmalklug seid, dann macht es doch selbst!“
„Jetzt wirst du beleidigend, Muriel.“
„Entschuldigt, ein Überbleibsel meiner schlechten Erziehung.“ Die Magd griff zum nächsten Tuch. „Meine Zieheltern haben ständig in diesem Ton mit mir gesprochen, sofern sie mich nicht geschlagen haben. Ihr hättet es also tausendmal schlechter erwischen können.“
„Was ist mit deinen Eltern?“
„Die kenne ich nicht und wurde von einem Verwandten zum nächsten gereicht. Mehr als ein Arbeitstier bin ich nie gewesen, und so bin ich auch behandelt worden. Erst seitdem ich hier bin können die Wunden heilen, die zahllose Schläge hinterlassen haben. Ich trage saubere Kleidung und bin niemandem Rechenschaft schuldig. Ausgenommen meinem Dienstherrn. Euer Vater ist gut zu mir.“
„Was ich nie in Abrede gestellt habe“, entgegnete Jodie. Natürlich fehlte es ihr an nichts. Sie trug schöne Kleider, hatte zu essen und ein Dach über dem Kopf. Doch dieses Leben war wie in Daunenfedern gepackt. Nichts drang herein, nichts nach draußen. „Mein Vater hasst mich.“ Sie rieb sich abwesend die Wange.
Muriel verschloss das Fenster. „Das bildet Ihr Euch ein.“
„Genauso wie du dir einbildest, dass wir reich sind.“
„Seid Ihr ja.“
„Wir gehören zum Landadel ohne jegliche Titel, noch dazu sind wir verarmt.“
„Trotzdem habt Ihr mehr, als Menschen wie ich je haben werden.“ Jodie zog es vor zu schweigen, denn insgeheim musste sie ihr recht geben. Zumindest in dieser Hinsicht. „Und jetzt muss ich mich sputen.“
Gedankenverloren schaute Jodie der Magd dabei zu, wie sie ein Tuch nach dem anderen zusammenlegte und aufeinanderstapelte. Als Mary zur Tür hereinrauschte, verließ sie die Küche, suchte ihre Kammer auf und betrachtete vom Fenster aus die winterliche Landschaft, bevor sie sich seufzend auf das Bett setzte.
Hellgrüne Brokatvorhänge hingen vor den Fenstern und am Himmelbett. Die Tagesdecke und der Überzug der Truhen, in denen ihre Kleider aufbewahrt wurden, waren aus rotem Brokat. Ein weinroter Teppich lag auf dem Boden, der aus dem Besitz des Großvaters stammte. Auch hier trug alles die Handschrift ihrer Mutter, die das Zimmer eingerichtet hatte. Aber was war mit ihrer eigenen? Mit ihren Wünschen und Träumen? Sehnsüchten?
„Deine Mutter braucht dich in der Küche“, hörte Jodie plötzlich die Stimme des Vaters und zuckte zusammen. Dann wandte sie sich um. „Lass sie nicht warten.“ Mit einer Kerze in der Hand stand er in der Tür. Bei jedem Atemzug flackerte die Flamme. Er wirkte erschöpft.
„Ich komme.“ Sie blieb, wo sie war.
„Das mit der Ohrfeige … ich wollte das nicht. Aber deine ständigen Fragen und Unterstellungen …“
„Unterstellungen?“, unterbrach sie ihn kaum hörbar.
„Lass uns nicht wieder damit anfangen“, bat er leise, bevor sich die Tür schloss.
Der Vollmond leuchtete am Himmel. Sein milchiges Licht hob die wenigen Möbelstücke im Schlafzimmer aus dem Dunkel. Alans gleichmäßiges Atmen war zu hören, trotzdem wusste Margarete, dass er nur so tat als würde er schlafen. Ebenso, wie sie es all die letzten Jahre getan hatte, damit er ihre Pflichten nicht einforderte. Sicherlich, einige Male war es dazu gekommen, doch im Großen und Ganzen ließ Alan sie in Ruhe. Dabei war er früher ein unersättlicher Liebhaber gewesen.
„Heute hat mich Jodie schon wieder mit ihren Fragen gequält“, drang es leise durch den Raum. Trotzdem erschrak Margarete, als hätte Alan geschrien und nicht geflüstert. Und doch, seiner Stimme hatten die Vehemenz und Härte gefehlt, die er üblicherweise an den Tag legte, sobald er über Jodie sprach. Aber vermutlich war er einfach nur müde.
„Unsere Tochter ist erwachsen“, sagte Margarete. Begleitet von einem mürrischen Ton verlagerte Alan sein Gewicht. Sie starrte auf seinen breiten Rücken. „Wunderst du dich tatsächlich, dass sie sich deine Lieblosigkeit immer weniger gefallen lässt?“ Tränen stiegen in ihre Augen. „Du kannst unserer Tochter nicht ewig die Schuld geben.“
„Ausgerechnet du machst mir Vorwürfe?“, kam es prompt zurück. Von wegen müde! „Du, die ihr ständig vor Augen hält, wie schlecht Männer sind. Die sie einsperrt wie ein Tier. Um sie vor jeglichen Übergriffen zu schützen.“
„Lieber das, als sie spüren zu lassen, dass man sie am liebsten forthaben will.“
„Wäre Jodie nicht gewesen, hättest du dich nie dazu hinreißen lassen.“
Ihr Herz zog sich zusammen. Alan hielt an dieser Aussage fest wie an einem Strohhalm. „Ich tat es unserer aller Kinder wegen.“
„Aber Jodie gab den Ausschlag.“
Diese Vorwürfe - tagein, tagaus - die das Ungeheuerliche ständig an die Oberfläche zerrten. Mitsamt den Bildern, die sie ohnehin seit damals verfolgten. Wie sehr sie George von Mar hasste! Er hatte ihr Leben zerstört. In einer einzigen Nacht. Nein, vielmehr in einer einzigen Stunde.
Blutjung war sie gewesen, als sie ihm einst auf einem Ball begegnet war. Geblendet vom Auftreten und dem jugendlichen Charme des Earl of Atholl. Ihre Eltern waren erfreut gewesen, dass er ihr den Hof machte. Sie selbst nicht weniger. George hatte Einfluss, war einer der reichsten Männer Schottlands und ein begehrter Junggeselle gewesen. Kein Mädchen auf dem Ball hätte ihm widerstanden. Nicht anders war es ihr ergangen. Noch am ersten Abend hatte sie sich hinter einer Eiche zu ihrem ersten Kuss hinreißen lassen. Ein Kuss, der sie zu den Wolken hinaufgetragen hatte. Aufregend und neu war ihr das Leben plötzlich erschienen und sie hatte sich fürchterlich erwachsen gefühlt.
Eine Woche später hatte George sie in ihrem Elternhaus aufgesucht und seinen Neffen mitgenommen. Es war ein fröhlicher Nachmittag, und wie üblich war George zuvorkommend und höflich gewesen. Das änderte sich allerdings, als er sie eines Abends besuchte und alleine vorfand. Ihre Eltern waren ausgegangen …
Seine Küsse waren fordernder geworden, wie seine fast brutalen Berührungen. Deshalb hatte sie es mit der Angst zu tun bekommen und ihn mit der Ausrede zurückgewiesen, dass ein Beischlaf vor der Ehe Sünde wäre. Aber George hatte sie ausgelacht. Er war kein Mann, der ein Nein akzeptierte. In dieser Nacht hatte er sie zum ersten Mal vergewaltigt!
Danach zog sie sich zurück. Sobald er zu Besuch kam, sperrte sie sich in ihrem Zimmer ein. Ihre Eltern waren ratlos gewesen, sogar zornig auf sie und über ihre Abweisung George gegenüber. Bis sie es eines Tages nicht mehr ausgehalten und ihnen von seiner Tat erzählte hatte. Von der Panik, schwanger zu sein. Daraufhin hatte ihr Vater George bei seinem nächsten Besuch wie einen Hund davongejagt. Solltest du dich jemals wieder herwagen, werde ich dich eigenhändig umbringen, hatte er ihm gedroht. Wie mutig er gewesen war!
Das Vermögen des Vaters war im Vergleich zu Georges lachhaft, trotzdem hatte er sich schützend vor sie gestellt. Ebenso wie die Mutter. Das würde sie ihren Eltern nie vergessen, die leider kurz nach ihrer Hochzeit mit Alan starben. Bis dahin hatte George nie wieder etwas von sich hören lassen. Sogar ein befürchteter Racheakt war ausgeblieben. Aber als er damals plötzlich mit seinen Komplizen bei ihrer Burg auftauchte, war ihr bewusst geworden, dass er seine Rache nur aufgeschoben hatte. Um sie dort zu treffen, wo sie am verletzlichsten war: In ihrem Zuhause. Vor Alans Augen, und mit Sicherheit hätte er auch vor den Kindern nicht Halt gemacht. Georges Plan war aufgegangen. Er wollte ihr Leben vergiften und hatte es geschafft.
Bis zu diesem Zeitpunkt war sie glücklich gewesen. So unsagbar glücklich. Denn als Alan in ihr Leben getreten war, geriet Georges erste Vergewaltigung allmählich in den Hintergrund. Vom ersten Augenblick an hatte sie sich in Alan Wallace aus Ayrshire verliebt, dessen Berührungen sie genossen und dem sie sich voller Leidenschaft hingegeben hatte.
Doch diese Leidenschaft, sein Begehren, ihr gemeinsames Lachen - es war alles verschwunden. Jede Zärtlichkeit, jeder Kuss. George hatte mit der neuerlichen Vergewaltigung im Stall sein Ziel erreicht, aber anders als gedacht. Nicht sie dachte ständig an ihn. Alan war es, der die Tragödie nicht mehr aus dem Kopf bekam, die wie ein Geschwür in ihm wucherte. Mitsamt der Schwangerschaft, die sie festgestellt hatte, bevor Jodie über die Kellertreppe gestürzt war. Während ihre Tochter mit zwei gebrochenen Beinen im Bett gelegen hatte, ließ sie sich von einer Engelmacherin das Kind wegmachen. Danach hatte sie wochenlang unter den Nachwirkungen gelitten, an hohem Fieber und Schmerzen. Selbst da hatte es ihr Mann nicht der Mühe wert gefunden, ihr zur Seite zu stehen. Im Grunde war diese Ehe nur noch eine Farce.
„Weißt du, was ich mich manchmal frage?“ Alan drehte sich zu ihr um.
„Nein.“
„Was hast du empfunden, als George … ich meine …“
Scharf sog sie den Atem ein. „Du willst mir jetzt nicht allen Ernstes unterstellen, dass ich es genossen habe?“ Das konnte nicht wahr sein! Fühlte er sich etwa wie ein Betrogener? War es das, was ihn all die Jahre von ihr ferngehalten hatte?
„Immerhin bist du einmal in ihn verliebt gewesen.“
„Bis ich gemerkt habe, was für ein Scheusal er ist. Wie kannst du nur im Entferntesten annehmen, dass ich mich George freiwillig hingegeben hätte? Hast du denn vergessen, was ich dir erzählt habe? Warum es zum Bruch zwischen uns gekommen ist?“
„Du bist meine Ehefrau und trotzdem hat er dich da berührt, wo ich dich berührt habe. Aber dem nicht genug. Der Albtraum ist weitergegangen. Du wurdest sogar schwanger von ihm.“ Seine Stimme war voller Bitterkeit. „Umso mehr bleibe ich dabei: Es hätte andere Mittel und Wege gegeben, um die Sache zu verhindern.“
„Zwei gegen fünf? Was hätten wir beide gegen sie ausrichten können?“
„Wir beide nichts, aber hätte mir jemand aus dem Dorf geholfen, hätten wir die Schweine zum Teufel jagen können.“
„Bin ich jetzt etwa auch schuld daran, dass dir niemand die Tür geöffnet hat?“ Alan war im Dorf unten gewesen, um Hilfe zu holen. Vergeblich.
„Das habe ich nicht gesagt, doch mir wären zig andere Möglichkeiten eingefallen. Nur nicht das, was du getan hast.“
„Ich hasse diesen Mann und empfinde nur Abscheu für ihn“, sagte sie mit bebenden Lippen und Tränen in den Augen. „Alles was zählte war das Leben unserer Kinder.“
„Nichts als leere Drohungen, um ans Ziel zu kommen.“
„George ist kein Mann leerer Drohungen.“
„Stimmt. Er hat sein Wort gehalten und es dir besorgt.“
Alans Worte trafen sie nicht weniger, als hätte er mit einem Messer zugestochen. „Warum fühle ich mich plötzlich wie eine Hure?“ Margarete suchte nach Worten. Seine Augen funkelten im seichten Licht. „Hast du jemals darüber nachgedacht, was Georges Tat in mir auslöste?“
„Ich mache seit damals nichts anderes.“
„Und reimst dir eine ungeheuerliche Geschichte zusammen. Das ist nicht fair, Alan. Das ist einfach nicht fair.“ Margarete setzte sich auf und starrte zum Mond. Dabei sah sie den Stall vor ihrem geistigen Auge. George, wie er sich über sie beugte. Seine Kälte hatte sie gelähmt und sein Lachen war, als hätte ihr jemand die Kehle zugedrückt. Hart und roh war er in sie eingedrungen, jeder Stoß war von immenser Brutalität gewesen. Als er sich in ihr ergossen und seinen schwitzenden Leib von ihr heruntergerollt hatte, war der nächste an die Reihe gekommen. Alle fünf Männer hatten sie vergewaltigt. Alle fünf! George, Roger de Montfort, William Green, Walter Steward und Patrick the Bruce. Bis heute wusste Alan nichts davon und das würde so bleiben, denn dieses Geheimnis musste sie mit ins Grab nehmen. Die halbe Wahrheit hatte bereits genug zerstört - vor allem, was die Kinder betraf.
Margarete seufzte. Wie sehr sie ihre Tochter liebte, und ihre Söhne. Aber auch hier hatte das Schicksal genommen statt zu geben. Herr im Himmel, hatte sie nicht genug gelitten? Hatten ihre Kinder nicht genug ertragen müssen? Allen voran Jodie?
„Wir müssen den Kindern reinen Wein einschenken, Alan. So kann es nicht weitergehen.“ Schon lange trug sie sich mit dieser Absicht. Nicht zuletzt wegen Marys Zureden, die sie nach der Vergewaltigung verarztet und in deren Armen sie sich alles von der Seele geweint hatte.
„Das ist nicht dein Ernst!“, fuhr er sie an.
„Und ob. Gerade Jodie braucht die Wahrheit. Nur dann wird sie verstehen können, weshalb ich sie an mich kette und du voller Kälte bist.“
„Wenn du das tust, dann …“
„Dann was?“, flüsterte sie. „Willst du mich verlassen? Oh Alan, das hast du längst getan. Bisher dachte ich, dass du George nicht aufhalten konntest, würde dich am meisten belasten. Seit heute weiß ich, dass du mir Betrug unterstellst.“
„Ich kann es nicht ändern“, gab Alan zu. „Da sind Bilder in meinem Kopf, die sich nicht verdrängen lassen. Sie machen mich wahnsinnig. Ja, ich fühle mich, als hättest du mich mit George betrogen und frage mich, warum du es zugelassen hast. Gleichzeitig hadere ich mit mir, weil ich es nicht verhindern konnte. Ich drehe mich im Kreis und finde einfach nicht hinaus.“ Margarete verdrängte das aufkeimende Mitleid. Nicht nur er hatte gelitten! „Nach meinem Saufgelage habe ich versucht, wieder auf euch zuzugehen. Besonders auf Jodie. Doch dann bist du schwanger geworden und ich … ich bin schuld, dass unsere Tochter hinkt.“
„Du hast Jodie nicht absichtlich gestoßen, sondern warst aufgebracht“, kam sie ihm entgegen, obwohl er es nicht verdient hatte, aber Recht musste Recht bleiben. „Genau wie ich. Jodie würde das verstehen. Deswegen müssen wir mit ihr reden.“
„Es ist zu spät, dazu ist zu viel passiert. All die Jahre habe ich ihr den Vater vorenthalten. Sie hat mir heute selbst gesagt, wie sehr sie mich gebraucht hätte. Wie könnte sie mir je verzeihen? Ich kann es ja nicht einmal selbst. Und du scheinst bei allem zu vergessen, dass William die Wahrheit kennt. Seine Worte haben mich tief getroffen. Dem will ich mich nicht erneut aussetzen.“
„Lieber steckst du weiterhin den Kopf in den Sand. Ganz unrecht hat William nicht gehabt.“ Sie wusste, dass sie ihn damit verletzte, aber Alan machte sich die Sache viel zu einfach. „Ich muss ertragen, dass du mich wie eine Hure behandelst“, fuhr sie fort, „du musst ertragen, dass dir William vorwirft, nicht wie ein Mann gehandelt zu haben.“
„Wer hätte ahnen können, dass auch er damals Zeuge …“ Alan brach ab. „Wie bewegungslos er vor dem Stall stand.“
Als Alan ihr davon erzählt hatte, wäre sie beinahe durchgedreht und war von der Heidenangst beherrscht worden, dass ihr Sohn mehr gesehen hatte als sie ertragen hätte. Doch nie hatte William ein Wort darüber verloren - bis er zu einem Mann herangewachsen war und das Thema anschnitt. Zu ihrer Erleichterung hatte ihr Sohn allerdings nur nach dem Namen des Mannes gefragt, der sie zum Stall gezerrt hatte.
Es hätte keinen Sinn gemacht, ihm den Namen vorzuenthalten. William hätte nicht aufgegeben - das tat er nie. Doch am selben Tag war es zum endgültigen Bruch zwischen ihm und seinem Vater gekommen. Dem voraus ging ein Streit zwischen ihr und Alan. Ihr Mann hatte sie angebrüllt, weil sie Georges Namen genannt hatte. William hatte sie verteidigt und Alan seinerseits heftige Vorwürfe gemacht. Wegen seiner Haltung zu König Edward und wegen Jodie. Dann war William gegangen, und seitdem zog er als Rebell gegen König Edward und voller Hass auf England durch das Land. Sie ahnte, dass ihn sowohl Malcolms Tod antrieb als auch der Übergriff auf sie. Vielleicht hat er außer Georges Namen alle anderen Antworten längst gehabt und deswegen nicht weiter nachgefragt, kam es ihr jäh in den Sinn. „Für einen Neubeginn ist es nie zu spät, Alan. Doch dafür muss man reinen Tisch machen.“
„Meine eigene Wahrheit ist zu lange ein Teil von mir, als dass ich sie ablegen könnte wie eine zweite Haut. Ob du es glaubst oder nicht, ich liebe euch. Dich und Jodie, unsere Jungs. Aber ich bin verbittert geworden und schlage lieber um mich, als dass ich Gefühle zulassen würde. Hart zu sein ist einfacher, auch wenn man sich schäbig fühlt. Doch dann kann man wenigstens nicht mehr verletzt werden.“
„Und verletzt dafür andere? Hörst du dir eigentlich selber zu? Würden alle so denken, wäre es arm um die Menschheit bestellt.“
„Vielleicht ist es besser, wenn Jodie das Haus verlässt.“ Seine Stimme klang selbstquälerisch. „Dann könnte mein kleines Mädchen endlich glücklich werden.“
„Du willst sie fortschicken?“, fragte Margarete, erneut den Tränen nahe.
„Wenn man jemanden liebt - ihn aber nur unglücklich macht - sollte man ihn gehen lassen. Wir beide haben Jodie lange genug eingesperrt.“
„Ihr seid am Zug, werter George von Mar.“ Elizabeth deutete auf das Spielfeld. Sie befanden sich im Vorzimmer zu ihren Gemächern. Anheimelnd brannte Feuer im Kamin. Silberne Rüstungen schmückten den Raum, Lanzen und Schwerter die Wände. Seit jeher umgab sie sich lieber mit nützlichen Dingen als mit weibischem Dekor. Selbst ihre Hofdamen konnte sie kaum ertragen, weil sie sich ständig ausstaffierten, als wären sie zu einem Ball geladen. Das störte sie immens, weil sie Konkurrenz neben sich nicht ausstehen konnte. „George, habt Ihr mich nicht gehört?“ Abrupt hob er den Kopf. „Eure geistige Abwesenheit ist unhöflich. Wärt Ihr nicht mein Freund, müsste ich Euch auspeitschen lassen.“
„Verzeiht, aber meine Ländereien beschäftigen mich.“
„Schwierigkeiten?“ Elizabeth lehnte sich zurück. Der Stuhl knarrte.
„Nicht der Rede wert“, wiegelte er ab. „Im Gegensatz zu anderen Entwicklungen. Wie man hört, verschärft sich die Situation zwischen König Edward und Frankreich.“
„Mag sein, aber in dieser Hinsicht wisst Ihr vermutlich mehr als ich. Außerdem interessiert mich Politik nicht im Geringsten. Trotzdem bin ich neugierig, woher Eure Information stammt.“
„Ich habe meine Quellen.“
„Die Ihr nicht verraten möchtet?“
Lächelnd beugte er sich halb über das Spielfeld und schaute ihr tief in die Augen. „Vielleicht später, wenn Ihr nackt vor mir liegt.“
Ein süßes Ziehen im Unterleib ließ Elizabeth erschauern. George war ein willkommener Gegner im Shatranj-Spiel und ein ebenso willkommener Liebhaber. Obwohl er in die Jahre gekommen war, an Erfahrung hatte er jedem Jüngeren viel voraus. Außerdem mochte sie seine ungestüme Art und die Härte, eine Frau voll und ganz einzunehmen. Zu guter Letzt konnte sie sich dank George die Zeit bis zu Roberts Rückkehr auf angenehme Weise vertreiben. „Nichts als leere Versprechungen. Im Bett wart Ihr nie ein Mann vieler Worte.“
„Ich denke, meine Zunge sagt Euch genug.“
„Über Eure Zunge will ich mich bestimmt nicht beklagen.“ Entspannt griff sie zum Weinbecher.
„Ihr solltet die Trinkerei lassen“, wurde sie prompt bevormundet. Erbost hielt Elizabeth in ihrer Bewegung inne. „Man spricht bereits hinter vorgehaltener Hand darüber.“
„Passt auf, was Ihr sagt, George! Dass wir uns hin und wieder auf demselben Laken wälzen, gibt Euch noch lange nicht das Recht mich zu maßregeln. Sogar mein Vater hält sich aus meinem Leben heraus, oder besser gesagt interessiert er sich erst gar nicht für mich. Ihr tätet gut daran, Ersteres ebenfalls zu beherzigen. Wie ich lebe geht nur mich etwas an.“
George hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte Euch keinesfalls maßregeln.“ Versöhnliche Worte, doch wie üblich schwang etwas Lauerndes in seiner Stimme mit. Auch seine leicht mandelförmigen blauen Augen wirkten listig. Davon abgesehen war er jedoch ein attraktiver Mann mit graumeliertem Haar, einem energischen Zug um den unersättlichen Mund und hochgewachsen. Sogar die unförmige Nase schmeichelte ihm eher als dass sie störte. Vielleicht, weil sie Indiz dafür war, dass er keinem Gegner aus dem Weg ging. Bereits zweimal war sie ihm bei Auseinandersetzungen gebrochen worden. Das machte ihn nur interessanter. „Aber wie man hört, sorgt sich Euer Vater und schreibt Euch jeden Monat. Von wegen er interessiert sich nicht für Euch.“
Sie trank hastig einige Schlucke, bevor sie das Gefäß mit Nachdruck neben das Spielbrett stellte, auf dem einige Spritzer Wein landeten. „Seine Briefe haben nur einen Inhalt: Eine Liste meiner Ausgaben. Abgesehen von Geld interessiert meinen Vater nur sein guter Ruf. Glaubt mir, seine angebliche Sorge ist nichts als eine Farce. Er genießt es, wenn er im Mittelpunkt steht und lässt sich gern von aller Welt bedauern, dass er eine solch undankbare Tochter hat. Ich bin also bloß Mittel zum Zweck.“
„Trotzdem solltet Ihr es Euch nicht mit ihm verscherzen. Schließlich ist Euer Vater Herr über ein beträchtliches Vermögen, das eines Tages Euch gehören soll. Er ist bekannt dafür, dass er mit seinen Feinden nicht zimperlich umgeht.“
„Ihr zählt mich zu dieser Gruppe?“
„Zu dieser oder zu seinen Freunden. Ein Urteil würde ich mir nie erlauben, aber Euer Vater behandelt alle Menschen mit derselben Verachtung, wenn sie ihm in die Quere kommen. Ich schätze, innerhalb der Familie wird er nicht plötzlich zum Lämmchen werden.“
„Ich hätte seinen Charakter nicht besser beschreiben können.“ Elizabeth nahm den König vom Spielfeld und drehte ihn zwischen ihren Fingern hin und her. Bei jeder Bewegung blitzten ihre wertvollen Ringe auf. „Mein Vater hat ein überschäumendes Temperament, was vor allem Mutter zu spüren bekommt. Er brüllt sie an, verdrischt und beleidigt sie.“
„Frauen brauchen eine harte Hand.“
Der König schoss in seine Richtung und traf ihn unter dem rechten Auge. Ein Schmerzenslaut entfuhr George, während sich seine Hände zu Fäusten ballten.
„Wagt nie wieder eine solche Respektlosigkeit meiner Mutter gegenüber!“, herrschte sie ihn an. „Ansonsten werdet Ihr am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn jemand zurückschlägt. Seitdem ich es getan habe, bin ich für Vater Luft. Ja, seht mich nur verdutzt an. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich alles stillschweigend gefallen lassen. Vater wird meine Schläge ebenso wenig vergessen wie Mutter und ich die seinen.“
„Ihr habt Euren Vater geschlagen?“ George pfiff durch die Zähne. „Alle Achtung. Ich traute Euch ja viel zu, aber das sprengt jedes Fass.“
„Nun“, erneut genehmigte sie sich einige Schlucke und spürte, wie sich die Wirkung langsam in ihrem Körper entfaltete. „Die Ignoranz meines Vaters hat mich nie gestört. Weder als Kind noch jetzt“, log sie.
„Dann ist es ja gut. Trotzdem möchte ich Euch nicht vorenthalten, dass Euer Vater vorgestern beim König vorgesprochen hat. Angeblich Euretwegen. Der Grund für dieses Gespräch ist mir aber nicht bekannt.“
„Eure Quellen scheinen nicht so zuverlässig zu sein wie Ihr mir glauben machen wolltet.“ Sie lächelte, obwohl ihr zum Weinen war. Der Grund, weswegen ihr Vater König Edward aufsuchte, war ihr egal. Für sie ging es um weit mehr. Stets hatte sie versucht, den Ansprüchen ihres Vaters zu genügen. Nun, da sie aus der Reihe tanzte und nicht mehr unter seinen Fittichen stand, erinnerte er sich plötzlich an sie. War ihm ihr Hang zum Trinken zu Ohren gekommen? Wusste er, dass sie das Zeug noch vor dem Frühstück aus sich herausspie und dass die Spuckschüssel einen festen Platz neben ihrem Bett hatte? Doch was hätte sie anderes tun sollen, als sich jeden Tag zu betrinken? Angesichts dessen, dass sie einen solchen Vater hatte, der ihr eine lieblose und harte Kindheit bescherte?
Elizabeth nahm George wieder in Augenschein. Ein roter Fleck prangte unter dem Auge. Der König lag auf seinem Schoß, ein süffisantes Lächeln auf seinem Mund. „Ihr habt mich belogen!“, wurde ihr auf einmal klar. „Von wegen Ihr wüsstet nicht, wieso Vater beim König war. Raus mit der Sprache, bevor Ihr platzt.“
„Ihr kennt mich gut.“
„Euch weniger, aber Verschlagenheit ist eine Eigenschaft, die mir ziemlich geläufig ist.“
„Es geht um Bruce“, antwortete er bereitwillig, als hätte er die ganze Zeit auf seinen Einsatz gewartet. „Euer Vater ist nicht begeistert von Euren Ambitionen, ihn zu ehelichen. Er hofft, dass es König Edward gelingt, Euch davon abzubringen.“
„An Edward wird er sich die Zähne ausbeißen“, entgegnete sie voller Schadenfreude. „An mir genauso und nebenbei gesagt: Je mehr Vater dagegen ist, desto mehr spornt mich das an.“
„Was, wenn ich Euch sage, dass ich die Ansicht Eures Vaters teile?“
„Das ändert natürlich alles“, sagte sie in honigsüßem Ton.
„Ich meine es ernst, Elizabeth.“
„Ich auch“, entgegnete sie kalt. „Robert und ich gehören zusammen. Das lasse ich mir weder von Euch noch von jemand anders ausreden.“
„Ihr kennt meinen Einfluss.“
„Worauf spielt Ihr an? Auf Eure vier Marionetten? Steward hat sich erhängt, nachdem man seinen Sohn aufgeschlitzt hat. Patrick the Bruce verjubelt sein ganzes Vermögen in Freudenhäusern, Green kann sich vor Fettleibigkeit kaum bewegen und Montfort hält eher zu Robert als zu Euch. Wenigstens dieser Mann weiß, auf welcher Seite er stehen muss.“ In Wahrheit konnte sie Montfort nicht ausstehen, weil er ihr ständig Avancen machte. Als sie sich im letzten Jahr auf einem Hofball begegnet waren, hatte er sie mit Blicken förmlich ausgezogen. Obwohl sie keine Kostverächterin war und der Einfluss dieses Mannes - besonders auf Robert - von Vorteil sein konnte, ignorierte sie seine Annäherungsversuche, denn er hatte die Attraktivität einer Ratte.
„Montfort steht auf meiner Seite, so lange er nichts von unserer Affäre weiß“, erwiderte George. „Er ist in Euch verliebt und beklagt sich oft über Eure Distanziertheit. Aber das ist nicht mein Problem, und davon abgesehen habe ich weitaus einflussreichere Verbündete, Elizabeth.“
„Glaubt Ihr? Nun, auch mein Arm ist ziemlich lang, werter George. Womöglich länger als Euer Blick reicht.“ Kurz fixierte sie die Spielfiguren. „Ihr spielt gern mit Eurem Leben, wie es aussieht.“
„Lady Isabella von Mar ist meine Nichte“, lenkte er ein, obwohl sein Ton drohend blieb.
„Und sie ist Roberts Verlobte, ich weiß. Habt Ihr etwas, das wirklich von Belang ist?“
„Meine Familie unterstützt diese Verbindung. Eure tut das nicht.“
„Mutter will, dass ich glücklich bin. Was andere sagen interessiert mich nicht.“
„Und ich will, dass Isabella glücklich ist. Sie bedeutet mir sehr viel.“
Elizabeth lachte trocken auf. „Glaubt Ihr selbst, was Ihr da sagt? Nicht ein Wort davon ist wahr! Ihr seid zu tieferen Gefühlen weniger fähig als eine Schmalzfliege. Aus Euch spricht lediglich der Wunsch, den künftigen König von Schottland in Eurer Familie zu haben. Es würde den Stammbaum derer von Mar erheblich adeln.“
„Balliol ist König.“
„Was nur eine Frage der Zeit ist. Das wissen wir alle, Ihr zuallererst. Robert wird ihm bald den Thron streitig machen. Er ist kein Mann, der sich auf Dauer fernhalten lässt.“
George legte den König auf den Tisch, bevor er sich erhob und einige Schritte hin und her ging. Dabei verschränkte er die Arme im Rücken. „Was redet Ihr da? Robert the Bruce ist ein Weichling, er wird es nie zum König bringen. Nebenbei gefragt: Wie könnte ein Mann wie er ein solches Vorhaben bewerkstelligen? Will er Balliol etwa mit einer Rose vom Thron stürzen?“
„Dennoch haltet Ihr an seiner Verbindung mit Lady Isabella fest. Beleidigt mich deswegen nicht länger, indem Ihr versucht, mich für dumm zu verkaufen. Einige Einwände mögen zutreffen, aber alles was Robert braucht ist eine starke Frau an seiner Seite.“
„Die hat Bruce.“
„Lady Isabella ist für ihre Nachgiebigkeit bekannt. Eine Frau mit laschem Händedruck, während ich zupacken kann.“
„Ihr solltet mich ebenfalls nicht für dumm verkaufen. Euch geht es letztlich auch nur um den Thron. Von wegen Euch würde Politik nicht interessieren.“
„Wenn sie mir persönliche Vorteile verschafft, ist das Gegenteil der Fall. Insofern hätte ich nichts dagegen schottische Königin zu werden, denn warum sollte ich mich mit der Hälfte begnügen, wenn ich alles haben kann? Den Thron und die Liebe?“
George blieb vor ihr stehen. „Liebe? Das ist nicht Euer Ernst.“
„Weshalb nicht?“
„Weil Ihr aus demselben Holz geschnitzt seid wie ich. Ihr könnt nicht lieben.“
„Oh doch, George.“ Elizabeth erhob sich. Nur wenige Zentimeter trennten ihre Gesichter voneinander. „Ich kann es, und bin mir sicher, Ihr konntet es ebenso. Liege ich richtig in der Annahme, dass Eure Gefühlskälte auf einer tiefen Enttäuschung beruht?“ Als sich sein Gesicht verschloss, wusste Elizabeth, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. „Wer ist sie? Kenne ich sie?“
„Die Frau verkehrt nicht in unseren Kreisen.“
„Ist sie eine Hure?“
Elizabeth schrie auf, als er ihr Handgelenk ergriff und schmerzhaft zudrückte. „Diese Frau hat Ehrgefühl, Schönheit und Wärme.“
„Umso besser verstehe ich, weshalb sie den Platz an Eurer Seite meidet“, fauchte Elizabeth. „Aber ich habe nichts dagegen, wenn Ihr in Gedanken bei Ihr seid, sobald Ihr mich besteigt. Na los, worauf wartet Ihr? Schließt Eure Augen und küsst sie. Nehmt Euch, was Euch gehören sollte. Ohne Rücksicht.“ Elizabeths Atem ging keuchend, weil sein Aufstöhnen ihre Erregung steigerte. „Ihr könnt mich sogar bei ihrem Namen nennen, wenn das Eure Leidenschaft anregt.“
Er ließ sie los. Ungeduldig schob er ihr Kleid hoch und küsste sie hart auf den Mund. Dabei drängte er sie auf den Stuhl zurück, bog ihre Schenkel auseinander und öffnete die Schnüre seiner Hose. Erwartungsvoll schaute Elizabeth auf sein steifes Glied, bevor er in sie stieß. „Margarete, oh Margarete“, rief er aus, und plötzlich wurde sein Gesicht zu einer Grimasse. Seine Stöße wurden ungeahnt hart, doch das steigerte Elizabeths Lust. „Wie konntest du diesen Wallace heiraten?“, zischte er, bevor er sie in Besitz nahm wie nie zuvor …
Jodie saß vor dem Fenster. Der Himmel schwitzte Düsterkeit aus. Zwielicht beherrschte die verschneite Landschaft und schien sogar ins Haus vorzudringen, obwohl Kerzen die Stube erhellten. Die frischen Scheite knackten mitsamt dem Reisig, den die Mutter hineinwarf.
„Soll ich dir wirklich nicht helfen?“, fragte Jodie und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Gleichzeitig fragte sie sich, weshalb die Mutter sie herunterzitiert hatte.
„Nein, ich muss ohnehin kurz verschnaufen.“ Seufzend erhob sich ihre Mutter und setzte sich in den abgewetterten Stuhl vor dem Edelholztisch. Ihr Kinnband flatterte, als würde jemand auf den zarten Stoff hauchen. Abwesend fuhr sie sich an die weiße Haube, unter der sie ihr Haar verbarg. Dabei betrachtete sie das Paar neuer Lederschuhe auf dem Tisch. Einen davon nahm sie in die Hand und drehte ihn mit der Naht nach innen.
„Vater wird es nicht gefallen, dass du schon wieder Schuhe für William machst.“
„Wer sollte es ihm verraten?“
„Natürlich, wer soll es ihm verraten“, murmelte Jodie und fuhr lauter fort. „Nirgends sind Geheimnisse so gut aufgehoben wie in unserer Familie.“
Abrupt hob die Mutter den Kopf. Ihre Hände zitterten. „Manche Dinge sind nicht einfach zu erklären. Man weiß nie, was man damit auslöst.“
„Einen Versuch wäre es wert.“ Jodie richtete sich etwas auf.
„Manchmal geschieht etwas im Leben, das so tiefgreifend ist, dass man es am liebsten vergessen möchte.“ Ihre Mutter legte den Schuh auf den Tisch. „Dazu gehört auch der Tod deines Bruders. Malcolm hat seine Liebe zu Schottland bitter bezahlt.“ Traurigkeit lag in ihrer Stimme, trotzdem wuchs Jodies Ungeduld. „Was gäbe ich darum, meinen Jungen noch einmal sehen zu dürfen.“
„Hast du mich deswegen holen lassen? Um mit mir über Malcolm zu reden? Oder ist da etwas anderes?“
Sie schaute Jodie an, als verstünde sie die Frage nicht. „Ich wollte mich lediglich mit meiner Tochter unterhalten.“
„Gut, dann lass uns reden, Mutter. Darüber, wie lange du mich noch hier festhalten willst.“ Jodie war von der Heftigkeit ihrer Worte selbst überrascht, aber sie konnte nicht anders. Einerseits fühlte sie sich erschöpft, andererseits hielt sie diese Scheinheiligkeit einfach nicht mehr aus. „Hast du dich deshalb geweigert, mir Lesen und Schreiben beizubringen, obwohl ich dich förmlich angebettelt habe, es zu tun? Um mich noch enger an dich zu binden? Ganz ehrlich, Mutter, ich will das alles nicht mehr.“
„Möchtest du mir absichtlich wehtun?“
„Natürlich nicht“, versicherte Jodie, der die harten Worte schon wieder leidtaten. „Dafür liebe ich dich zu sehr. Aber versteh mich bitte. Ich möchte endlich am Leben teilnehmen. Natürlich weiß ich, dass du nur mein Bestes willst, aber was glaubst du hält mich noch hier? Deine Verbote? Vaters Distanz? Gestern hat er mir sogar eine Ohrfeige gegeben.“
„Alan hat dich geohrfeigt?“ Ihre Stimme war kaum hörbar.
„Das ist nicht schlimmer als sein Desinteresse.“ Jodie holte schnell Luft, bevor sie der Mut verließ. „Ich habe beschlossen, euer Schweigen zu respektieren. Aber im Gegenzug solltet ihr respektieren, dass ich endlich ein eigenständiges Leben führen möchte. Keinen Tag länger als nötig halte ich es hier aus.“
Die Mutter war kreidebleich geworden. „Hat dein Vater mit dir gesprochen?“
„Nein, warum?“ Jodie faltete ihre Hände ineinander. „Ich schätze, ihn trifft es zuletzt wenn ich fortgehen würde. Deswegen werde ich ihn bitten mich zu verheiraten. Ich muss endlich meinen eigenen Weg gehen.“
Die Mutter zog sich die Haube vom Kopf. „Du hast ja recht“, lenkte sie unerwartet ein und legte die Haube auf den Tisch. Ihr erneutes Seufzen schien aus dem tiefsten Inneren zu kommen. „Als … uns diese Männer überfallen haben“, begann sie mit brüchiger Stimme und wich ihrem Blick aus, „das war kein …“
Lautes Gepolter drang zu ihnen. Ein Blick in das verschlossene Gesicht der Mutter sagte alles. Der Mut, endlich alles zu sagen, war so schnell verschwunden wie er gekommen war. Jodie wäre John und dem Vater am liebsten an die Kehle gesprungen, als sie plaudernd zur Tür hereinkamen. Wie eine ertappte Sünderin erhob sich die Mutter und strich sich das braune Kleid glatt.
„Sieh an, die Damen des Hauses lungern faul herum, während wir für das Abendessen gesorgt haben“, stellte John fest und spitzte die wulstigen Lippen. Seine Wangen hatten die Frische des Winters, die braunen Augen funkelten und die abstehenden Ohren glühten. Über seine rechte Schulter lagen zwei tote Kaninchen, die er an den Pfoten festhielt. An seiner Hand klebte eingetrocknetes Blut wie auch am erdfarbenen weiten Umhang. Die Gugel hing schräg auf dem Kopf, unter der sein schwarzer Haarschopf hervorlugte. Auf der hohen Stirn zeigten sich Spuren feuchter Erde. Johns Blick war stolz wie der eines Triumphators, der nicht zwei hilflose Tiere erlegt hatte, sondern bedrohliche Drachen.
„Was für ein herrlicher Tag.“ Schwungvoll entledigte sich Jodies Vater seines Bogens und legte ihn auf den Tisch. Dann fiel sein Blick auf die Schuhe und er runzelte die Stirn. „Neu?“, fragte er, während er den feuchten Umhang auszog und ihn mit Nachdruck auf die Schuhe warf. Seine gute Laune war wie fortgeblasen. „Der Größe nach zu urteilen wieder einmal für William. Schade um das gute Rindsleder und die vergeudete Zeit.“ Der Vater schnaufte einige Male tief durch, als müsste er sich zur Ruhe zwingen. „Wie viele zum Teufel willst du noch für ihn machen? William streunt wie ein Verfolgter durch die Wälder und ich bin es leid, mich seinetwegen vor jedermann rechtfertigen zu müssen.“
Die Mutter fasste sich ans Herz. „Wie sprichst du von deinem Sohn?“
„Genauso, wie es ihm gebührt.“
„Versündige dich nicht, Alan Wallace!“
„Ach, hör doch auf. Eine umfassende Bildung habe ich dem Lümmel ermöglicht, aber was tut er? Lebt seine Abscheu gegen die Engländer aus, ohne dabei an uns zu denken. Sein rücksichtsloses Handeln bringt uns alle in Gefahr.“
„Du bist so …“, die Mutter stockte und hob hilflos die Arme. „Ich bin stolz auf ihn. Auf jedes unserer Kinder. Und William tut das, was tausende Schotten machen: Er tritt für die Freiheit unseres Vaterlandes ein. Wenn du mich fragst, hat er mehr Mumm in den Knochen als manch anderer, der sich nur mit einer Ohrfeige zu helfen weiß.“
Die Zornesfalte auf der Stirn des Vaters vertiefte sich. „Pack die Schuhe weg! So lange sich William nicht besinnt, will ich ihn weder im Haus haben noch seinen Namen hören. Und jetzt sag in der Küche Bescheid. Comyn und Menteith haben ihren Besuch angekündigt. Sie werden zum Abendessen eintreffen.“
„Comyn und Menteith? Was wollen sie hier?“ Die Mutter griff zu ihrer Haube.
„Männersache.“ Schlurfenden Schrittes verließ Jodies Vater das Zimmer, der blass gewordene John folgte ihm. Nach einigem Zögern verließ auch die Mutter den Raum. Als sich die Tür schloss, war Jodie den Tränen nahe. Selbst die klägliche Scherbe, die von ihrer Familie übriggeblieben war, zerbrach vor allen Augen. Wie konnten ihre Eltern das zulassen?
Zornig warf Elizabeth den Brief auf das zerwühlte Bett. „Zum Teufel, Mutter, das kannst du nicht allen Ernstes von mir verlangen!“, wütete sie, wobei sich ihr strafender Blick auf die alte Marquise heftete, die in der Ecke des Zimmers auf ihren Einsatz wartete. „Was gafft Ihr so?“
„Habt Ihr eine schlechte Nachricht erhalten?“ Die heisere Stimme der Hofdame schürte Elizabeths Wut. Ihre geduckte Haltung, der Geruch nach Siechtum und die unnütze Frage taten ihr Übriges. Andererseits war sie die Einzige, deren Nähe sie ertrug. Die Alte zog stets dieselben Roben an, als würde sie sie bis zum bitteren Ende auftragen wollen. Dabei hieß es, dass sie vermögend sei. Aber ihr vernachlässigtes Äußeres machte sie erträglicher, wobei das schönste Kleid ohnehin nichts genützt hätte. Die verknöcherte Marquise hatte ihr Leben fast hinter sich, was man ihr deutlich ansah.
„Eure Beobachtungsgabe ist bemerkenswert, Marquise.“
Beschämt senkte sie den rattengrauen Kopf. „Verzeiht, ich wollte Euch nicht zu nahe treten.“
„Immerhin seid Ihr einsichtig.“ Elizabeth schnappte sich das Pergament und warf es in die heiße Glut im Steinkamin. Zufrieden schaute sie zu, wie sich der Brief aufrollte und an den Rändern braun verfärbte. Feiner Rauch kräuselte sich in die Höhe.
Bisher hatte sie sich über jede Nachricht ihrer Mutter gefreut, weil ihr jede Zeile Geborgenheit schenkte, von Sehnsucht und Liebe sprach. Diesmal hatte sie jedoch einen Bittbrief erhalten. Inständig flehte die Mutter sie darin an, sich die Sache mit Robert zu überlegen, da der Vater fuchsteufelswild sei. Lebhaft konnte sich Elizabeth vorstellen, was das für ihre Mutter bedeutete. Genau deswegen war sie wütend. Weil ihm die Mutter nicht die Stirn bot, obwohl sie ihr vor der Abreise das Versprechen abgenommen hatte. Vielmehr ließ sie sich wieder vom Vater vor den Karren spannen. Sicher, sie zog es vermutlich vor, ihm nach dem Mund zu reden statt sich schlagen zu lassen, aber war ihr das Glück der Tochter so egal? Etwas mehr Kampfeslust hätte ihr durchaus gut gestanden, aber ein Wort von ihm und sie knickte ein wie ein Grashalm. Dabei hatte sie versichert, ihre Pläne zu unterstützen und es hatte gutgetan, mit jemandem über die Liebe zu Robert reden zu können. Das konnte sie sich allerdings künftig sparen, weil es klar auf der Hand lag, dass der Vater jeden Brief abfangen würde. Also war sie ab jetzt auf sich allein gestellt.
Als vom Pergament nur noch graue Asche übrig war, wandte sie sich wieder der Marquise zu. „Fragt nach, ob Robert the Bruce inzwischen angekommen ist.“ Edward hatte ihr kein Sterbenswörtchen davon gesagt, dass Robert heute im Schloss erwartet wurde. Wäre die Marquise nicht gewesen, hätte sie nichts gewusst. So viel dazu, dass ihr der König seine Unterstützung zugesagt hatte. Glaubte er denn, dass sie Robert aus der Ferne erobern würde?
„Sehr wohl, Mylady.“ Die Marquise knickste, bevor sie den Raum verließ. Elizabeth stellte sich zum Frisiertisch und griff zum Zinnkrug. Den bereitgestellten Becher übersah sie geflissentlich und trank ein paar Schlucke des schweren Weins, bevor sie den Krug wieder neben die Schmuckschatulle stellte. Mit dem Handrücken wischte sie sich über den Mund und ordnete dann die Falten ihres roten Seidenkleides. Das Haar hatte ihr die Marquise kunstvoll hochgesteckt und sie trug den schweren Familienschmuck: Eine Goldkette mit Smaragden und dazu passende Ohrringe. Heute würde sie nichts dem Zufall überlassen, sondern selbst die Initiative ergreifen. Auch wenn sie in Roberts Gegenwart regelmäßig ihre übliche Courage verließ. Aber mit etwas Wein im Magen würde sie bestimmt sicherer auftreten.
Zehn Minuten später durchquerte Elizabeth mit klopfendem Herzen das Schloss. Ihr war etwas schummrig, was sicher von der Hektik kam. Von der Marquise war sie darüber informiert worden, dass Robert seit einer Stunde im Schloss war, jedoch umgehend nach Glamis Castle weiterreisen wollte. Wo er sich mit dem König aufhielt, wusste die Marquise allerdings nicht zu sagen. Wie ärgerlich! Das Schloss war so weitläufig, dass sie auf ihr Glück setzen musste.
Das Seidenkleid raschelte über den Boden, als Elizabeth am Robing Room vorbeiging. Daneben befand sich die Royal Gallery, in der sich einige Würdenträger aufhielten. Hastig nickte sie ihnen zu und eilte weiter. Auch in den nächsten Räumlichkeiten fehlte von den beiden jede Spur, aber als sie sich dem Prince’s Chamber näherte, hörte sie Roberts wohlklingende Stimme. Ihr Puls raste förmlich als sie anklopfte, und ohne eine Antwort abzuwarten betrat sie das Vorzimmer. Eine Holzvertäfelung schmückte die Wände, ließ den Raum aber auf erdrückende Weise kleiner wirken. Ein wuchtiger Dunkelholztisch stand in der Mitte, sechs Stühle mit Brokatbezug reihten sich um ihn. An den Mauern hingen riesige Gemälde. Die meisten zeigten Edward mit seinem Schwert. Er ließ sich gern gemäß der Artussage malen.
„Elizabeth, Euer Besuch ist ungünstig.“ Edward lehnte vor dem raumhohen Fenster und zog die Nase kraus, doch sie blickte sofort zu Robert, der sich ihr zuwandte und sich schließlich erhob.
„Das ist mir durchaus bewusst, mein König“, erwiderte sie und trat auf Robert zu, den der Geruch frischer Winterluft umwehte. „Dennoch wollte ich es mir nicht nehmen lassen, Robert the Bruce persönlich zu begrüßen.“
Als Robert ihre entgegengestreckte Hand ergriff und küsste, brannte die Stelle auf der Haut wie Feuer. Nie zuvor hatte sie solche Empfindungen gehabt. Wie erstarrt schaute sie ihn an, als er sich wieder aufgerichtet hatte und ihre Hand losließ. Als wäre sie willenlos, verlor sie sich in seinen unergründlichen Bernsteinaugen. Das dunkelblonde Haar fiel ihm in die Stirn und reichte bis zu den Schultern. Ein gepflegter Vollbart zierte sein jungenhaftes Gesicht, in dem sich markante Züge andeuteten. Die Natur hatte die Zeit seiner Abwesenheit auf verschwenderische Weise genutzt und ihn noch attraktiver gemacht.
„Ihr starrt mich an wie einen Geist, Teuerste.“
Elizabeth riss sich zusammen. „Entschuldigt, ich war in Gedanken.“
„Worüber zerbrecht Ihr Euch den hübschen Kopf?“
Er fand sie hübsch! Ein guter Anfang, obwohl ihr das Wort schön besser gefallen hätte. Aber immerhin, es war ein Anfang. „Über Englands politische Lage und Schottlands Rolle darin“, schnitt sie auf.
Ein Schmunzeln lag um Roberts Lippen. „Ihr interessiert Euch für Politik?“
Sie nickte. „Mir ist bewusst, dass das eigentlich den Männern vorbehalten ist, aber ich finde solche Dinge spannender als dass ich wie andere Frauen über Schmuck oder die neueste Mode debattieren möchte.“
„Tatsächlich?“ Der spöttische Klang in seiner Stimme irritierte sie.
„Ihr dürft Euch gerne selbst ein Bild über mich machen. Ich hätte Zeit.“
„Eine Meinung über Euch habe ich mir schon gebildet, Lady Elizabeth. Wir sind uns ja häufig genug über den Weg gelaufen.“ Nun lachte Robert leise auf. „Fast scheint es, als würdet Ihr meine Gegenwart suchen.“
„Und wenn es so wäre?“ Den lasziven Blick hatte sie tausendmal vor dem Spiegel geübt. Robert zog einen Stuhl unter dem Tisch heraus und bedeutete ihr, sich zu setzen. Erfreut folgte Elizabeth seiner Aufforderung, wobei sie kurz auf das Dokument und das Tintenfass auf dem Tisch blickte. „Ihr seid sehr aufmerksam und überaus charmant.“
„Eine Tugend, die viele Frauen an mir schätzen“, lobte sich Robert selbst, was Edward mit einem genervten Stöhnen quittierte und in Elizabeth die Eifersucht schürte.
„Können wir fortfahren?“, gab der König übellaunig von sich. „Ich habe nicht ewig Zeit.“
Robert deutete auf Elizabeth. „In Gegenwart einer Dame wäre es äußerst unhöflich, über Geschäfte zu sprechen.“
„Ihr habt Elizabeth gehört. Sie hat eine Schwäche für Männerdomänen.“ Edward warf ihr einen höhnischen Blick zu. „Außerdem schadet es nicht, wenn ich eine Zeugin habe. Ihr seid ziemlich wankelmütig.“ Edward verließ seinen Platz und beugte sich wenige Augenblicke später über den Tisch, um Robert das Dokument zuzuschieben.
„Ich habe den Treueschwur bereits dreimal geleistet“, belehrte Robert ihn mit hochgezogenen Brauen. „Ein viertes Mal die Ragman Roll zu unterschreiben finde ich reichlich übertrieben.“
„Ihr habt den Schwur dreimal gebrochen. Das finde ich reichlich übertrieben. Eigentlich müsste ich Euch in den Tower werfen lassen.“ Edward klopfte mit dem Zeigefinger einige Male auf das Dokument. „Ein viertes Mal werde ich nicht dulden. Hütet Euch also, erneut die Seiten zu wechseln und Schottlands Aufstände zu unterstützen.“
Elizabeth unterdrückte ein Gähnen.
„Würdet Ihr nicht dasselbe für Euer Vaterland tun?“
„Natürlich.“ Edward schob das Tintenfass näher zu Robert und sah ihm dabei eindringlich in die Augen. „Ich würde es tun. Ihr hingegen hüpft von einer Seite zur anderen. Je nachdem, welcher Ihr die größere Chance auf den Sieg einräumt. In England nennt man das Feigheit.“
„Ein Wort, das wir Schotten nicht einmal buchstabieren können.“ Robert grinste.
„Weil die meisten ungebildet sind - oder vergessen, dass Hochmut vor dem Fall kommt. Auch Ihr schmückt Euch gern mit Attributen, die bei genauem Hinsehen verdunsten. Noch habe ich allerdings die Geduld, Euch für meine Sache gewinnen zu wollen. Aber treibt es nicht zu weit!“
„Dann sagt mir, worum es wirklich geht.“ Roberts Belustigung verschwand. „Balliol zeigt zum ersten Mal Widerstand gegen England und versammelt Mitstreiter um sich. Früher oder später braucht Ihr einen neuen König. Comyn wird es nicht sein, soviel steht fest. Also bleibe nur ich.“
„Die Schotten hassen Euch so sehr, dass sie sogar den Krönungsstein zerhacken würden, ehe man Euch dort zum König ernennt. Dabei ist der ´Stone of Sconeˋ das Heiligtum jedes Schotten.“
„Die Abneigung gegen mich habe ich zum größten Teil Euch zu verdanken.“
„Um keine Ausrede verlegen, was? Aber ich habe Euch nie zur Unterschrift gezwungen. Auch jetzt könnt Ihr frei entscheiden, ob Ihr mir die Treue schwört.“
„Sicher.“ Robert lachte zynisch auf. „Wie viele Soldaten stehen vor den Toren des Palace of Westminster mit dem Befehl mich festzuhalten, sollte ich nicht unterschreiben? Zwanzig? Fünfzig?“
Edwards Gesicht glättete sich. „Ein Mann reicht vollkommen aus. Bei einem talentlosen Kämpfer wie Ihr einer seid, wollte ich es nicht übertreiben.“
„Eine Unterhaltung mit Euch ist immer wieder erfrischend, Sire. Doch wir wissen beide, dass ich auf dem Kampffeld nicht der Schlechteste bin.“
„Mag sein“, räumte Edward zähneknirschend ein, bevor er sich zu einem Lächeln durchrang. „Ich danke Euch übrigens für die Information über Balliol. Ich hatte keine Ahnung, dass er einen Aufstand anzetteln will. Nun kann ich mich darauf vorbereiten und werde natürlich im Bedarfsfall durchsickern lassen, wer mir den entscheidenden Hinweis gegeben hat. Und jetzt unterschreibt, damit ich mich wichtigeren Dingen widmen kann. Außerdem möchte ich Euch und Elizabeth etwas Zeit gönnen.“
„Wozu?“, wollte Robert mit säuerlicher Miene wissen.
„Man kommt sich schnell näher in diesem intimen Raum.“
„Ich bin verlobt und ein Ehrenmann, obwohl ich Euer Bemühen zu schätzen weiß, Sire.“
„Als ob Eure Verlobung ein Hindernis wäre“, belustigte sich Edward. „Ihr seid Lady Isabella genauso wenig treu wie Euren sonstigen Versprechen.“
Robert griff zur Feder und tauchte sie ins Tintenfass. Zügig setzte er seine Unterschrift unter die Roll, legte die Feder ab und verbeugte sich vor Elizabeth. „Wisst Ihr, was mich am wenigsten reizt?“, fragte er dann an den König gewandt.
„Ihr werdet es mir sicher gleich sagen.“
„Wenn man mir etwas anpreist wie billige Ware. Egal in welcher Hinsicht. Und nun entschuldigt mich. Die Dämmerung bricht bereits herein und ich habe eine weite Heimreise vor mir.“ Kaum ausgesprochen, war Elizabeth mit dem König allein.
„Meinen Glückwunsch! Ihr versteht es, Robert für mich zu begeistern“, fuhr sie auf.
In aller Seelenruhe nahm Edward die Papiere an sich. „Erstens solltet Ihr Euch nicht im Ton vergreifen und zweitens: Fragt Euch selbst, weshalb er Euch verschmäht. Bruce ist bekannt dafür, dass er jede Frau begattet, die ihm in den Schoß fällt. Die Sache mit der billigen Ware ist ein Seitenhieb in Eure Richtung gewesen. Fakt ist, dass Ihr scheinbar keine Beute seid, die er jagen will. Vielleicht, weil er Euch nicht jagen muss. Darum rate ich Euch dringend, Eure Zuneigung nicht so offen zur Schau zu tragen - und in Zukunft solltet Ihr nüchtern sein.“
„Ich bin nüchtern, Sire.“
„Sicher.“ Sein Blick konnte alles und nichts bedeuten. „Traut Euch nie wieder, mir in diesem Zustand gegenüberzutreten! Bruce habt Ihr damit vermutlich erst recht vergrault.“
„Mit mir hat sein Aufbruch wenig zu tun“, gab sich Elizabeth selbstsicherer als sie war. „Ihr wolltet ein Stelldichein arrangieren und das auf so offenkundige Weise, dass sich jeder überrumpelt gefühlt hätte.
Edwards Zornesfalte vertiefte sich. „Dass ich mich Eurem Vater freundschaftlich verbunden fühle, mag Euch Narrenfreiheit geben. Aber sie hat Grenzen. Also mäßigt Euch gefälligst und zwar in jeder Beziehung, sonst sind Eure Tage an meinem Hof gezählt. Denn ich brauche Euch nicht. Es werden sich genügend andere Frauen finden, die meine Pläne unterstützen. Und ich bin mir sicher, der einen oder anderen wird es eher gelingen, Robert für sich zu begeistern.“
Seine Worte waren verletzend und am liebsten wäre sie ihm ins Gesicht gesprungen. Doch das wäre fatal gewesen. Den König gegen sich zu haben war gleichbedeutend mit dem Ende ihrer Zukunftsvisionen. „Verzeiht meinen Ton und meinen Zustand, Sire. Ich war so aufgeregt und habe mir einen halben Becher Wein gegönnt. Leider vertrage ich nicht viel und merke jetzt selbst, dass ich tatsächlich nicht ganz bei mir bin. Aber erlaubt mir eine Feststellung: Um einen Mann zu erobern, braucht es Gelegenheiten. Wie soll ich Robert für mich gewinnen, wenn er nie da ist? Davon abgesehen habt Ihr mir nicht einmal gesagt, dass er heute kommt.“
„Nun“, die Zornesfalte glättete sich, „in dieser Hinsicht gebe ich Euch sogar recht. Deswegen werdet Ihr in nächster Zeit unter einem Vorwand nach Glamis geschickt. Dort habt Ihr reichlich Zeit, Robert von Euch zu überzeugen. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass er angeblich Ende des nächsten Jahres heiraten will. Insofern erwarte ich vollen Einsatz von Euch, wenn Ihr versteht, was ich meine.“
„Natürlich, Sire“, antwortete Elizabeth lächelnd. „Wann soll ich abreisen?“
„Bald.“
Elizabeth stöhnte innerlich auf. „Warum nicht sofort?“
„Weil sich Euer Vater angekündigt hat. Er bat mich um eine Unterredung, bei der Ihr dabei sein sollt. Sobald das getan ist, könnt Ihr nach Glamis reisen.“
„Und das ist wichtiger als der schottische Thron?“ Wie sehr sie ihren Vater hasste, weil er immer wieder in ihr Leben pfuschte.
„Akzeptiert Ihr meinen Wunsch etwa nicht?“ Da war sie wieder, die Zornesfalte.
„Selbstverständlich ist mir Euer Wunsch Befehl“, beeilte sie sich zu versichern. Wie sie dieses Kuschen hasste, und Däumchen drehen bis zu ihrer Abreise überstieg schon jetzt ihre Geduld. Jemand musste sie zwischenzeitlich über Roberts Leben auf dem Laufenden halten und ihr fiel auch schon der geeignete Komplize dafür ein …