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Оглавление2 Theoretische Grundlagen
In dem Kapitel 2.1 der theoretischen Grundlagen werden zuerst Begriffe geklärt, die für das Verständnis der vorliegenden Untersuchung zentral sind. Hiernach werden unter 2.2. die textanalytischen Herausforderungen beschrieben, die sich bei der Recherche von Quellen zur ‚Geduld‘ stellen. Danach werden relevante Aussagen zur Geduld in ihrem historischen Kontext (vgl. Kapitel 2.3) vorgestellt. Hiernach werden geeignete Forschungsansätze (vgl. Kapitel 2.4) zum Verständnis der ‚Geduld‘ als Alltagsressource eingeführt. Im vierten Schritt werden aktuelle Studien (vgl. Kapitel 2.5) zur ‚Geduld‘ in ihren Ergebnissen dargestellt und zu Forschungsfelder gebündelt.
2.1 Begriffsklärungen
Als theoretische Grundlagen werden im Kapitel 2.1 die ‚ressourcenorientierte Gesundheitsförderung‘, das ‚(sozial-)pädagogische Einzelcoaching‘ und die ‚Situation junger Erwachsener‘ eingeführt (vgl. Abb. 2). Anschließend werden textanalytische Vorrausetzungen definiert, die eine Grundlage für das Verständnis der in der historischen Quellenrecherche zum Thema ‚Geduld‘ grundlegend sind.
Abbildung 2: Einleitung Grundbegriffe, eigene Darstellung (Siebert-Blaesing 2020c)
2.1.1 Ressourcenorientierte Gesundheitsförderung
Die Begriffe ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘ sind Gegenstand vieler sozial- und humanwissenschaftlicher Disziplinen, wie etwa der Medizin, der Psychologie, der Pädagogik, der Sozialpädagogik, der Sozialen Arbeit und der Soziologie (vgl. Hurrelmann und Richter 2013, S. 7). In den Sozialwissenschaften wird je nach Forschungsrichtung zwischen übergeordneten Gesellschafts- und Public-Health-Theorien (die vorrangig Fragen zur Gerechtigkeit und zur Bedeutung sozialer Einflüsse sowie Folgen und Wechselwirkungen von Gesundheit behandeln) und Lern- sowie Bewältigungstheorien (die stärker die subjektive Sicht und die konkreten Handlungsmöglichkeiten berücksichtigen) differenziert (vgl. ebd., S. 66). Das Verständnis von ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘ unterliegt dabei einem kontinuierlichen prozesshaften Wandel (vgl. Beushausen 2013, S. 7; Zemp Stutz und Buddeberg-Fischer 2004, S. 309). Für die Soziale Arbeit, die Sozialpädagogik, die Pädagogik und die Psychologie sind die Entwicklung der Salutogenese sowie die Positionierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Gesundheitsförderung für ihr aktuelles Verständnis von ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘ prägend und werden daher in Kürze dargestellt, um daraus das Gesundheitsverständnis abzuleiten, von dem in der vorliegenden Untersuchung ausgegangen wird.
2.1.1.1 Die Salutogenese und ihre Entstehung
Angeregt durch den von Aaron Antonovsky entwickelten Ansatz der Salutogenese (Antonovsky und Franke 1997) verändert sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Relation zwischen Krankheit und Gesundheit, indem Antonovsky Stressoren und Coping-Ressourcen (Widerstandsressourcen) in ein neues Verhältnis zueinander setzt. Ihn leitet die Frage, welche Widerstandsressourcen Gesundheit erhalten. Ging die Sicht auf die Gesundheit in der Wissenschaft und im Alltagsverständnis bisher von einem defizitorientierten, pathogenen Blick auf das Kranksein und von dem Ziel der vorrangigen Verhinderung von Krankheit aus (vgl. Zemp Stutz und Buddeberg-Fischer 2004, S. 309, S. 318), so fragt Antonovsky nun, wie auch bei Krankheit und unter widrigen Umständen mehr Gesundheit entstehen und gefördert werden kann. Diesen Prozess nennt er ‚Salutogenese‘. Gesundheit und Krankheit setzt er in eine fließende Beziehung zueinander. Für ihn kann eine Person gleichzeitig krank sein und sich in Richtung zu mehr Gesundheit entwickeln, wenn sie neben allen Stressoren und Belastungen einen ausreichenden Zugang zu Ressourcen findet. Das Optimum von Gesundheit zeichnet sich für Antonovsky durch einen Zustand des gesundheitlichen Wohlbefindens aus, der trotz großer sozialer, körperlicher und psychischer Probleme erfahren wird. In seinem Krankheits- und Gesundheitsverständnis misst Antonovsky besonders dem sozialen Umfeld einer Person als essenzielle Ressource eine hohe Bedeutung für die Entwicklung von Gesundheit bei und nimmt somit großen Einfluss auf die Entstehung von Konzepten und Programmen in der Sozialen Arbeit, der Sozialpädagogik und Pädagogik wie der Psychologie (vgl. Antonovsky und Franke 1997; Klemperer 2015; Blättner und Waller 2018; Ostermann 2010; Bengel 2001, 2001; Petzold 2010; Gfüllner 2015). Theodor Dierk Petzold erweitert Antonovskys Gesundheitsverständnis, indem er die „Selbstheilungsfähigkeit des Organismus“ (Petzold 2010, S. 176) als systemeigene Kraft fördern möchte. Für diese Ressource einer gesunden Entwicklung, die er als die bedeutendste ansieht, wünscht er sich eine „dynamische Prozessfähigkeit“ (ebd.), die sich ihm zufolge über die drei Fähigkeiten, a) fühlen zu können, was ungesund ist, b) handeln zu können, um Verbesserung zu ermöglichen und c) weitere Ressourcen über ein vernetztes Nachdenken aktivieren zu können, aufbaut (Petzold 2010, S. 176). Schiepek und Matschi (2013) gehen davon aus, dass nur die Ressourcen, die als solche identifiziert werden, auch wirken können. Eine Ressource sei immer auf ein bestimmtes Ziel bzw. einen Zweck ausgerichtet und werde über den Bewertungsvorgang einer Person bestimmt.
2.1.1.2 Positionierung der WHO zur Gesundheitsförderung
Die Veränderung des Verhältnisses zwischen ‚Krankheit‘ und ‚Gesundheit‘ zeichnet sich schon in der Präambel der WHO6 von 1946 sowie in der Ottawa Charta zur Gesundheit7 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1986 in ihrer Definition zur Gesundheitsförderung ab. Im Gegensatz zu der bisher bevorzugten Haltung und Strategie der gesundheitlichen „Prävention“ (Zemp Stutz und Buddeberg-Fischer 2004, S. 319–321), die frühzeitig einen nicht gewünschten Zustand durch eine geeignete personenbezogene Verhaltensprävention sowie gesellschaftlich wirkende Verhältnisprävention verhindern will, wird nunmehr ergänzend die „Gesundheitsförderung“ (Hurrelmann und Richter 2013; Blättner und Waller 2018) als ein bestärkender umfassender Prozess in einem gesundheitlich selbstbestimmten Leben von Einzelpersonen und Gruppen gesehen. In den Mittelpunkt der Gesundheitsförderung stellt die WHO seit 1946 ein „umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“8 als Merkmal einer bedürfnis- und umweltorientierten sowie hoffnungsvollen Gesundheit. Verantwortlich für die Gesundheitsförderung sind nun nicht mehr vorrangig das medizinisch ausgebildete Fachpersonal, sondern alle Personen und Organisationen. Indem die WHO Gesundheit als wesentlichen Bestandteil des alltäglichen Lebens versteht, sieht sie die Gesundheit bestärkt durch die Ottawa-Charta als eine Querschnittsaufgabe an, die alle Lebensbereiche berührt, Ressourcen integriert und besonders die Politik in der Gesundheitsförderung in die Pflicht nimmt (vgl. ebd.). Eine Ressource ist basierend auf dem Gesundheitsverständnisses der WHO damit als eine Lebensquelle zu verstehen, die Menschen umfassend im Alltag zur Förderung des Wohlbefindens zur Verfügung steht sowie zugänglich gemacht wird. Das betrifft verschiedene Ebenen von der gesamten „Lebensführung“ (Sommerfeld et al. 2011; Sommerfeld 2013), über die „Lebensqualität“ (Knecht 2010), des Umgangs mit „Krisen und Widerfahrnissen“ (Birgmeier 2010b), die Ressourcenorientierung in der Psychotherapie (vgl. Willutzki und Teismann 2013; Schiepek und Matschi 2013; Menning 2015) bis hin zur Berücksichtigung spiritueller Bedürfnisse (vgl. Walach und Kohls 2008) wie etwa der „Hoffnung“ (Surzykiewicz und Maier 2015). Aktiviert und qualifiziert wird die Ressourcenorientierung durch eine Vernetzung geeigneter Unterstützer*innen des Gesundheits- und Sozialsystems sowie durch eine Förderung der individuellen Person in ihrem sozialen Gefüge.9 Der beschriebenen Richtung folgt in Deutschland auch das Bundesministerium für Gesundheit (Bundesministerium für Gesundheit (BMG) 2019) mit seinem Wegweiser zum gemeinsamen Verständnis von Gesundheitsförderung und Prävention – bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Hierin fordert das BMG basierend auf einer vernetzten Absprache mit zahlreichen Organisationen, Experten*innen und Initiativen im Feld der Gesundheit eine weitrechende salutogene Vorgehensweise. Über diese Kooperation soll, ganz im Sinne der (Sozial-)Pädagogik und Sozialen Arbeit, die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen unter einer weitgehenden Partizipation von jungen Menschen und ihren Familien möglichst vor Ort (kommunal) gefördert und verbessert werden. Den anderen gesellschaftlichen Ebenen (z.B. Landkreis, Bezirk, Land, Bund) kommt der Auftrag zu, diesen Prozess durch geeignete Maßnahmen zu unterstützen.
2.1.1.3 Gesundheitsverständnis der Untersuchung
Da sowohl die Begriffe der ‚Gesundheit‘, des ‚Wohlbefindens‘ als auch der ‚Ressource‘ als weit gefasste Alltagsbegriffe benutzt werden, empfiehlt Doris Ostermann, sich dem unterschiedlichen Verständnis der genutzten Begriffe abhängig von den dahinterstehenden Interessenslagen der Akteure im Gesundheitsfeld bewusst zu sein und die jeweils individuelle Position zu definieren (vgl. Ostermann 2010, S. 83). Ihrem Rat folgend, wird ‚Gesundheit‘ in der vorliegenden Untersuchung im folgenden Sinne verstanden: Im Handlungsformats des Coachings wird explizit von einem Gesundheitsverständnis ausgegangen, das Gesundheit mental, emotional sowie im Handeln (auch) in der Alltagswelt junger Erwachsener verortet. Das Ziel einer Reflexion der Geduld im Sinne der Gesundheitsförderung ist es, Geduld somit als eine umfassende, für das Wohlbefinden förderliche Ressource zu untersuchen, die jungen Erwachsenen für ihre Lebensführung, berufliche und private Orientierung sowie Persönlichkeitsentwicklung zur Verfügung steht oder zugänglich gemacht werden kann.
2.1.2 (Sozial-)pädagogisches Einzelcoaching
Personenbezogene Beratung findet in vielen unterschiedlichen Kontexten und Formaten statt. Sie „hilft bei Problemen des menschlichen Zusammenlebens und -arbeitens und dient der menschlichen Entwicklung“10. In der (sozial-)pädagogisch und psychosozial orientierten Beratung steht die Weitergabe von Information, von Wissen und von Erfahrung und Einschätzungen im Vordergrund (Sickendiek et al. 2008). Dabei verfolgen die Beratungsprozesse die individuellen Förderung der „Selbstorganisation“ (Schiersmann und Thiel 2012, S. 21) einer Person, eines Teams oder einer Gruppe bezüglich einer relevanten Fragestellung oder bei einem Problem. Jürgen Kriz unterscheidet hierbei zwischen den Beratungsformaten der Therapie, der Beratung und dem Coaching, in denen jeweils verschiedene Perspektiven auf einen Fall gerichtet sein können (vgl. Kriz 2017, S. 18–20). Im folgenden Schritt wird das Beratungsformat des Coachings erläutert, um auf dieser Grundlage anschließend das Coachingverständnis dieser Arbeit zu definieren.
2.1.2.1 Coaching als Selbstoptimierung, persönliche Begegnung und Gesundheitsförderung
Bernd Birgmeier verortet Coaching wissenschaftlich schwerpunktmäßig in der Handlungsphilosophie, der Ethik, den Sozialwissenschaften, der Ökonomie, der Pädagogik bzw. den Erziehungswissenschaften und der Psychologie. Jede dieser Wissenschaften stelle spezifische Aspekte, wie etwa die Bedeutung des Lernens, der Beziehungen oder der Wirtschaftlichkeit von Handlungen in den Mittelpunkt (vgl. Birgmeier 2011a, S. 27). Coaching lasse sich als enge Verzahnung von Selbstreflexion, Handlungswissen und Handlungskompetenz verstehen (vgl. ebd., S. 17–30; vgl. Birgmeier et al. 2019).
Astrid Schreyögg sieht die Themen und Einsatzfelder im Coaching als differenziert und breit gefächert an, was verlangt, dass „der Coach über eine Vielzahl an methodischen Mustern verfügen muss, die den multipragmatischen und multidisziplinären Strukturmustern gerecht werden“ (Schreyögg 2011, S. 49; vgl. auch Birgmeier 2011b; Kriz 2016; Busse und Hausinger 2013).
Michael Fischer und Pedro Graf definieren Coaching als prozess-, ziel- und handlungsorientierte Beratung, Anleitung und Training von Personen in ihren professionellen Rollen, Aufgaben und Kontexten als integralen Bestandteil von Personalentwicklung in Organisationen (vgl. Fischer und Graf 2000).
Gerhard Roth und Alica Ryba beschreiben folgende Varianten des Coachings als übliche Formen: Selbstcoaching, Peer-Coaching, Einzelcoaching, Coaching durch Vorgesetzte, Coaching-Führungsstil, Gruppen-Coaching, Team-Coaching, Coaching-Kultur. Das Einzelcoaching ist aus ihrer Sicht die Coachingvariante, die in Deutschland überwiegt (vgl. Roth und Ryba 2016, S. 52).
Unabhängig davon, ob ein Coaching einzeln oder in einer Gruppe durchgeführt wird, betonen Rauen, Strehlau und Ubben die Bedeutung der vertrauensvollen Beziehung zwischen dem/der Klient*in und dem Coach. Hierfür setzen sie die Freiwilligkeit, Diskretion, gegenseitige Akzeptanz, die Selbstmanagementfähigkeiten von Klient*innen, Offenheit und Transparenz wie auch die Veränderungsbereitschaft als Kriterien für ein gelingendes Coaching voraus (vgl. Rauen et al. 2011, S. 153–155).
Oft folgt ein Coaching der Idee der Selbstoptimierung und damit der lernenden bzw. trainierenden Verbesserung von Fähigkeiten, Einstellungen und Haltungen (vgl. Conrad und Kipke 2015; Wallroth 2015). Marc-Ansgar Seibel (2019) hingegen verweist auf den doppelten Auftrag der Sozialen Arbeit, den Menschen einerseits in seinem individuellem Werden umfassend persönlich zu unterstützen sowie ihn gleichzeitig in der Ungerechtigkeit der “fluiden Moderne” (ebd.), die mit einer überfordernden Selbstoptimierungsidee einhergehe, strukturell (gesellschaftlich) zu stärken. Hierzu sei die Solidarität der Sozialen Arbeit unabdingbar.
Martin Buber (2014) rät dazu, jede Beratung (zu der in der Beratungsprofession auch das Coaching gehört, Anmerk. BSB), als eine interpersonelle Begegnung über die Zeit zu verstehen, die von einer wechselseitigen Wertschätzung, einem tatsächlichen Interesse an der anderen Person und einer Bereitschaft, miteinander als Persönlichkeiten zu wachsen, geprägt sein sollte.
Für Eric Mührel (2011, S. 75–81) bedeutet Coaching demnach angelehnt an das „dialogische Prinzip“ (Buber 2014) von Buber einen wechselseitigen Dialog, der in der Beziehung zwischen dem/der Klient*in und dem Coach sowohl auf ein gegenseitiges Verstehen der jeweiligen Lebens-, Berufs- und Arbeitswelt sowie auf ein Achten der Unterschiedlichkeit zweier Personen aufbaut. Eine solche Beziehung ereigne sich in der Idealform nicht als „Sozialtechnik“ (Mührel 2011, S. 75–81), sondern als Erleben einer tiefen Begegnung zweier Menschen.
Auch Reinhard Stelter definiert Coaching in Orientierung an Buber als einen mitmenschlichen Begegnungsprozess. Für ihn stellen der sinnvolle Dialog, die Wertehaltung und die Kollaboration die Grundelemente von Coaching dar. Mit seinem Ansatz des „Third Generation Coachings“ (Stelter 2019, S. 3–16) grenzt er sich von einem technokratischen wie konstruktivistischen Coachingverständnis ab, sondern sieht Coaching als einen professionellen sinnorientierten Begegnungs- und Lernprozess zwischen Personen (vgl. Stelter 2019).
Ein christliches Coachingverständnis geht von einer dialogischen Beziehung zwischen Coach und Klient*in aus. Exemplarisch fragt Jesus im Gleichnis von der Heilung eines Blinden in Jericho seinen Gesprächspartner etwa: „Was soll ich dir tun?“ (EÜ, Lukas 18,– 31–43). Erst der Auftrag des in diesem Fall blinden Gegenübers und im christlichen Sinne ‚sein Glaube‘ bewirken die Heilung als inneren Impuls der Veränderung. Das achtsame Gesehen- und Gehört-Werden in der Begegnung schafft den Rahmen für eine konstruktive Entwicklung in eine bessere Richtung.
Die European Association for Supervision and Coaching (EASC)11 sowie die Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv)12 betonen als führende europäische bzw. deutsche Coachingverbände die Orientierung an der Gesundheit als einem der grundlegen Werte von Coaching.
Für ein gesundheitsorientiertes Einzelcoaching empfiehlt Matthias Lauterbach aufgrund der Zunahme der Komplexität der Lebenssituation von Klient*innen je nach Situation und Auftrag eine Kooperation mit Expert*innen sowie eine Berücksichtigung von Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit im Coaching (vgl. Lauterbach 2008, S. 43–44).
2.1.2.2 Coachingverständnis der Untersuchung
Der im Kontext dieser Arbeit verwendete Coachingansatz folgt primär der Idee der Förderung der Selbstorganisation und der Entwicklung der Persönlichkeit der Klient*innen im jungen Erwachsenenalter sowie der dialogischen Begegnung zwischen dem/der Klient*in und dem Coach in einer Beratungsbeziehung. Wird in dieser Untersuchung von Coaching gesprochen, so ist das Einzelcoaching gemeint. Gesundheit wird in dem fokussierten Coachingansatz als gesundheitsförderliche Haltung verstanden, die auf umfangreiche Ressourcen aufbaut und diese generiert. Die Geduld wird somit als eine solche Ressource im Coaching im spezifischen Feld der Beratung und Begleitung junger Erwachsener aufgefasst.
2.1.3 Gesellschaftliche Situation junger Erwachsener
Was junge Menschen unter ‚krank‘ oder ‚gesund‘ verstehen, prägt sich mit dem Beginn der Pubertät bis in das junge Erwachsenenalter aus, wird aber wesentlich durch den kulturellen Kontext und die Lebensbedingungen des Umfeldes im Sinne eines subjektiven Verständnisses von Gesundheit mitbestimmt (vgl. Blättner und Waller 2018, S. 72–73). Die aktuelle Situation junger Erwachsener zeichnet sich durch zwei gesellschaftliche Prozesse aus, die Einfluss auf die Gestaltung von Coachingprozessen nehmen. Einerseits erfahren junge Erwachsene in ihrer konkreten Lebenssituation verstärkt eine Zunahme von Qualifizierungs-, Leistungs- und Handlungsdruck, der mit einem Anstieg an psychosozialen Belastungssymptomen verbunden ist. Andererseits ziehen heutige junge Erwachsene als neue Generationen bewusst deutlichere Grenzen als die Vorgängergenerationen bezüglich der Beachtung privater und betrieblicher Ansprüche sowie Bedürfnisse und markieren somit eine Veränderung des Stellenwerts der Gesundheitsinteressen in der Arbeitswelt. Diese beiden Aspekte werden im Folgenden vorgestellt.
2.1.3.1 Zunahme von Druck und gesundheitliche Belastung bei jungen Menschen
Junge Menschen sind einem hohen Druck ausgesetzt: Der 15. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2017) betont, dass die frühzeitige Selbstständigkeit und berufliche Positionierung junger Menschen als gesellschaftliche Ziele gefordert werden.13 Hierdurch wird ein kontinuierlicher ‚Qualifizierungsdruck‘ erzeugt. Es ist zu überlegen, ob damit ausreichend Zeit und „Spielraum“ (Hemmerich 2012) zur Entwicklung einer gesunden Lebensweise bleiben, die den Aufbau stabiler Bindungen (vgl. Buchheim 2004, S. 339; Hurrelmann und Quenzel 2013) und die Verlängerung der Jugendphase in eine zeitlich unbestimmte Phase als „junges Erwachsenenalter“ (Gaupp und Berngruber 2018, S. 4; Erzbischöfliches Jugendamt München und Freising 2016) berücksichtigen.
Interessensvertreter*innen pädagogischer (vgl. Kaltwasser 2008, S. 11–14, 2013; Schomäcker 2011; BLLV 2015, S. 5) und psychologischer (vgl. Schulte-Körne in BLLV 2018, S. 40–41; Hüther 2016) Berufsgruppen sowie von Krankenkassen14 und Jugendverbänden15 sehen das gesundheitliche Wohlbefinden von jungen Menschen längerfristig gefährdet. Sie beurteilen es kritisch, dass der ‚Leistungsdruck‘ anhält und zunehmend Ruhe, Erholung, Entfaltung und Kreativität wegfallen. Besonders Lehrkräfte (als zentrale Ansprechpartner*innen in der Kindheit, Jugend und im jungen Erwachsenenalter, Anm. BSB) seien nicht ausreichend psychologisch geschult, um der Zunahme der Belastungsphänomene bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen angemessen zu begegnen. Gerd Schulte-Körne fordert von daher mehr Wissen über psychische Gesundheit und Belastungen bei Lehrkräften: „Wir brauchen in der Ausbildung der Lehrkräfte ein Umdenken: Wir brauchen mehr Wissen über psychische Gesundheit und über Belastungen.“ (Schulte Körne in BLLV 2018, S. 39)
Hinzu kommt, dass sich im Übergang zwischen Schule und Ausbildung, Studium oder Beruf die Möglichkeiten, autonome Entscheidungen (vgl. Keupp und Dill 2010, S. 7) zu treffen, erweitert haben, was individuell den ‚Handlungsdruck‘ bei jungen Menschen in Richtung eines erfolgreichen Lebens vergrößern kann. Besonders in der Lebensphase der jungen Erwachsenen zeichnet sich laut Untersuchungen der Techniker Krankenkasse sowie der Barmer Krankenkasse eine hohe Belastungsanfälligkeit ab, sobald geplante Vorhaben schwierig werden und Veränderungsphasen als Krise erlebt werden.16 Dieser Situation müssen auch alle Beteiligten im Aus- und Weiterbildungsprozess begegnen.
2.1.3.2 Selbstverständnis junger Erwachsener
Unter dem Begriff der jungen Erwachsenen werden zwei Generationen verstanden: Zur ‚Generation Y‘ zählen die jungen Menschen, die zwischen 1975 bis 1994 geborenen wurden. Die ab 1995 geborenen Personen werden in einem soziologischen Verständnis als ‚Generation Z‘ definiert. Die Übergänge zwischen beiden jung-erwachsenen Generationen sind fließend (vgl. Scholz 2014). Wird in dieser Untersuchung von den ‚jungen Erwachsenen‘ gesprochen, so sind beide Generationen gemeint. Der Fokus richtet sich aber besonders auf die ‚Generation Z‘ als hereinwachsende Generation in der Arbeitswelt.
Christian Scholz bietet eine Analyse der ab 1995 geborenen jungen Erwachsenen der ‚Generation Z‘. Diese zeichne sich in einer zunehmend wettbewerbsorientierten und digitalisierten Arbeitswelt besonders durch ihr ‚Gesundheitsbewusstsein‘ und ihre ‚realistische Haltung‘ aus. Sie beende Tätigkeiten und Beziehungen aber schnell wieder, sobald Zusagen nicht eingelöst würden. In Abgrenzung von den Vorgängergenerationen, die von der ‚Generation Z‘ als ‚Burnout-gefährdet‘ und überlastet erlebt würden, strebe sie nach ‚Schutz‘ und ‚Trennung‘ zwischen dem Privatleben und der Arbeitswelt, exemplarisch markiert durch geregelte Arbeitszeiten. Sie hinterfrage das Leistungsideal der Vorgängergenerationen, misstraue Marketingaussagen und meide Führung aus Karrieregründen. Als Aufgaben akzeptiere die ‚Generation Z‘ nur ‚konkret überprüfbare Handlungen‘ und Zusagen zu ‚sinnvollen Tätigkeiten‘ mit der Möglichkeit der guten ‚Zusammenarbeit‘. In einer als unübersichtlich empfundenen Welt pflegten junge Menschen der ‚Generation Z‘ ein besonders hohes Kooperationsinteresse mit Personen aus der ‚eigenen Generation‘. Andere Generationen seien dort hilfreich, wo möglichst regelmäßiges positives Feedback gegeben werden könne.17
Simon Schnetzer kommt in der repräsentativen Befragung Junge Deutsche 2019, in der er Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 14 und 39 Jahren (N = 1007) zu ihrer Wertehaltung befragt, zu dem Ergebnis, dass die Gesundheit und der familiäre Zusammenhalt einen besonders hohen Wert für die Befragten einnehmen. Er vergleicht in seiner Untersuchung die ‚Generation Z‘, in die er die 14 bis 21jährigen erfasst, mit der ‚Generation Y‘, in der er die Ergebnisse der Befragung der 22 bis 39jährigen dargestellt. Unter dem Thema ‚Gesundheit‘ sei bei den Befragten das umfassende körperliche und geistige Wohlbefinden gemeint. 68 % aller Befragten seien mit der psychischen Gesundheit zufrieden, 70 % mit der körperlichen Gesundheit. Hieraus lässt sich der Umkehrschluss ziehen, dass 32% der Befragten mit der psychischen Gesundheit nicht zufrieden sind. Gründe können in den zentralen Themen der Generationen gesucht werden. Prägend für die ‚Generation Y‘ sei das Thema ‚Familie‘, die ‚Heimatverbundenheit‘ und die ‚Smartphone-Nutzung‘, das Thema ‚teurer/knapper Wohnraum‘ und die ‚Gesundheit‘. Bei der ‚Generation Z‘ stehe der ‚Leistungsdruck‘ als wichtiges Thema nach der ‚Familie‘ und vor der ‚Nutzung des Smartphones‘, der ‚sozialen Netzwerke‘ und der ‚Heimatverbundenheit‘ schon an zweiter Stelle. In der Zunahme des prägenden Einflusses des Themas des ‚Leistungsdrucks‘ in der ‚Generation Z‘ zeigt sich ein Handlungsauftrag für Untersuchungen. Die Bedeutung der ‚Familie‘ jedoch hat nach Schnetzer für die jüngeren Befragten im Vergleich zu den älteren Befragten zugenommen, da das reale Erleben von Beziehungen durch die Digitalisierung kostbarer werde und Eltern wie Geschwister als konkrete Menschen erfahrbar seien. Für die Altersgruppe der 14 bis 21jährigen seien die ‚Eltern‘ die zentralen ‚Vorbilder‘, bei den älteren Befragten der 22 bis 39jährigen würden die ‚Eltern‘ erst nach dem Begriff ‚ich‘ und ‚kein Vorbild‘ an dritter Stelle genannt. Für beide Altersgruppen seien das ‚Wohlfühlen‘ und die ‚gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit‘ die wichtigsten Erwartungen und Forderungen, die junge Menschen an Arbeitgeber stellen würden. (vgl. Schnetzer 2019)
Auch die repräsentative 18. Shell-Jugendstudie (Albert et al. 2019a; 2019b) mit dem Titel Jugend 2019 – eine Generation meldet sich zu Wort belegt in ihrem quantitativen Befragungsteil (N = 2572), dass Jugendliche und junge Erwachsene, die in der Befragung zwischen 12 und 25 Jahren alt sind, zwar dem ‚Pragmatismus‘ der Vorgängergeneration folgen, aber überwiegend Werte wie ‚Sicherheit‘ und ‚familiären Bindung‘ mit der Möglichkeit auf ‚eigene Kinder‘ und einen ‚guten Kontakt zu den Eltern‘ als bedeutendste Vorbilder schätzen. Kennzeichnend für die jetzige Jugendgeneration sei besonders ihr ‚Engagement‘ und ihre politische Handlungsforderung für die ‚Umwelt‘, für ‚Nachhaltigkeit‘, für eine ‚gesunde Lebensführung‘ und für ein ‚achtsames Miteinander‘ sowie das Anliegen, als Generation mehr ‚gehört‘ zu werden. Die ‚Sinnorientierung‘ stehe für die befragten Jugendlichen im Vordergrund aller Entscheidung, gleichzeitig habe das ‚berufliche Fortkommen‘ immer noch einen hohen Stellenwert in der eigenen Lebensplanung (Albert et al. 2019b).
2.2 Textanalytische Herausforderungen
In dem folgenden Schritt der Untersuchung von Quellen zur Geduld als Anregung für ein (sozial-)pädagogisches Handeln stellen sich die Auswahl von Textstellen sowie deren Systematisierung in einem zeitlichen Verlauf als zwei textanalytische Herausforderungen. Als Formulierung lassen sich die jeweiligen Textstellen auch außerhalb des Kontextes zwar lesen und als passend oder unpassend für eine heutige Situation einschätzen. Ein tatsächliches Verstehen einer Aussage kann aber erst stattfinden, wenn sie in ihrem jeweiligen Kontext verortet wird. Dafür ist die Arbeit von fachkundigen Biograf*innen, Expert*innen und Übersetzer*innen relevant. Veit-Jakobus Dieterich (1995, S. 11–19) weist darauf hin, dass eine Textaussage nur in einem biografisch gedeuteten Zusammenhang zu verstehen ist und damit mehr den jeweiligen Zeitgeist und die Interessen der Interpretation spiegelt als das Leben der Person.
2.2.1 Auswahl der Textstellen
Jede Auswahl einer Textaussage und jede Auslegung stellt eine Reduzierung der Fülle an wählbaren Texten dar und kann nie ein umfassendes Bild einer Person in ihrer tatsächlichen Lebenszeit widerspiegeln. Stattdessen muss sich ein/eine Leser*in der unterschiedlichen Interessen der textgebenden, der textauswählenden und der lesenden Personen bewusst sein. Genauso ist zu beachten, dass eine Textstelle lückenhaft und selektiv für eine spezifische Fragestellung sein kann und dass auf die weiterführende Forschung verwiesen werden muss. Daher werden in der folgenden theoretischen Untersuchung zur Geduld im historischen Kontext exemplarische Aussagen ausgewählt, die im Kontext eines (sozial-)pädagogischen Coachings Relevanz haben können. Ihnen werden kurze biografische Beschreibungen zur textgebenden Person im Haupttext beifügt, sofern sie für das Verstehen der Textstelle notwendige Informationen liefern. Weitergehende Hintergründe finden sich in den Fußnoten und können bei Interesse in der teils umfangreichen Biografieforschung zu den einzelnen Personen vertieft recherchiert werden.
2.2.2 Systematisierung der Textauswahl
Bei der Auswahl geeigneter Textstellen zur Geduld erweist sich die Systematisierung der Erkenntnisse im Kontext des historischen Verlaufs sowie der historischen Bedeutung eines aktuellen (sozial-)pädagogischen Coachings als zweite Herausforderung. Nach Bernd Birgmeier lässt sich der Auftrag der Sozialen Arbeit nur aus den „Geschichten der Menschen“ (Birgmeier 2010a, S. 144; 2012, S. 13–22) und ihrer Geschichtlichkeit verstehen. „Lebensweltorientierung“ (Grunwald und Thiersch 2016, S. 24–64) und „Lebensbewältigung“ (vgl. Böhnisch 2018), wie sie in einem (sozial-)pädagogisch orientierten Coaching thematisiert werden, stellt er somit in einen zeitlich dynamischen, veränderbaren Bezug, der sich in der konkreten Bewältigung von Problemen in einer Alltagswelt (vgl. Grunwald und Thiersch 2016, S. 24–64) zeigt. Mitzudenken ist auch das Konzept der Lebensführung von Peter Sommerfeld (vgl. Sommerfeld et al. 2011, S. 351; Sommerfeld 2013, S. 166) als Orientierung in einer handlungswissenschaftlich-systemisch ausgerichteten Sozialen Arbeit, Sozialpädagogik, Pädagogik bzw. im spezifischen Feld des (sozial-)pädagogischen Coachings. Heinrich Keupp (2016, S. 34–35) betont aus sozialpsychologischer Sicht die Notwendigkeit, Alltagsphänomene der Lebenswelt über einen qualitativ-hermeneutischen Zugang zu reflektieren.
2.2.3 Perspektiven der Textauswahl
Im Rückgriff auf die oben genannte These Bernd Birgmeiers, für eine Auftragsklärung die Geschichten der Menschen erst einmal hören zu müssen, interessieren für die Einbeziehung von Aussagen zur Geduld in ein (sozial-)pädagogisches Coaching, das die Alltagssicht und Lebenswelt der Klient*innen integriert, drei Perspektiven: Auf der einen Seite befindet sich der/die Klient*in als Adressat*in des Coachings in einer individuellen Entwicklung mit einem subjektiven Erleben und Handeln und in einer aktuellen Suche nach Orientierung, Rat und Hilfe. Auf der anderen Seite steht der Coach, der ebenso in einer eigenen Historizität geprägt ist. Darüber hinaus existieren beide begleitend in der Literatur Quellen geschichtlich überlieferter Personen, die in ihrer individuellen Arbeits- und Lebensweise und ihrer Zeit Aussagen zur Geduld getroffen haben. In der folgenden Analyse relevanter Aussagen bekannter Personen wird ihre Sicht auf die Geduld in den Vordergrund gestellt. Das Ziel ist es, aus von ihnen tradierten Aussagen zur Geduld sowie den relevanten Informationen zu ihrer Lebenssituation verstehen zu lernen, wie sich die Sicht auf die Geduld im geschichtlichen Wandel bis in die Gegenwart geändert hat. Die Deutung der Textstellen im Kontext des Coachings erfolgt gebündelt in der Diskussion dieser Arbeit.
2.2.4 Leitfragen der Textanalyse
Die Analyse der historischen Quellen orientiert sich je nach Aussagekraft der vorhandenen Quelle daran, ob es eine Definition zur Geduld gibt, die Aufschluss zur Empfehlung von Geduld im Einzelcoaching aktueller junger Erwachsener unter dem Fokus der Gesundheitsförderlichkeit gibt. Untersucht wird, ob sich bei den ausgewählten geschichtlichen Personen eine neue oder markante Sicht als ein typisches Muster zur Geduld in ihrem spezifischen zeitlichen Kontext widerspiegelt.
2.2.5 Zeitliche, fachliche und kulturelle Struktur
Die Darstellung der Aussagen zur Geduld einzelner Personen orientiert sich an den von Wilhelm Korff und Markus Vogt (2016, S. 20–23) beschriebenen Themen ethischer Gliederungssystematiken der Hellenisierung in der Antike, der biblischen Lehre, der Entwicklung des Christentums, der Entwicklung spezieller Standes- und Berufsethiken, von spiritueller Regeln im Mönchsorden sowie von Ethiken in wirtschaftlichen Prozessen insbesondere der Industriegesellschaft, der Suche nach Antworten im Feld der Sozialen Frage und der Entwicklung von Bereichsethiken in der heutigen Zeit zur Klärung spezifischer Fragen wie etwa der Medizinethik, der pädagogischen Ethik, der politischen Ethik sowie der Sportethik (vgl. Korff und Vogt 2016, S. 20–23). In dieser Untersuchung zur Geduld als Ressource wird hieran angelehnt die folgende zeitliche Struktur gebildet: Geduld in der Antike, Geduld in jüdisch-christlichen Wurzeln, Geduld in den Anfängen des Christentums, Geduld in der Entwicklung des klösterlichen Lebens, Geduld in der Industrialisierung, Geduld in der Gegenwart. Diese Struktur bedingt nicht, dass alle Phasen systematisch erklärt werden, sondern dient lediglich der Zuordnung einer Aussage zur Geduld in einen zeitlichen Rahmen, der für das heutige Verständnis von Geduld im (sozial-)pädagogischen Coaching Relevanz hat.
Die Recherche bewegt sich aufgrund des Forschungsauftrages im Kontext der Kirchlichen Jugendarbeit im abendländisch-christlich geprägten Kulturraum. Auf Mahatma Gandhi wird hiervon abweichend eingegangen, da er in der empirischen Befragung zur Geduld als Ressource mehrfach als Vorbild zur Geduld genannt wird.18
Aufgrund der Wurzeln der Sozialpädagogik auch im pädagogisch-theologisch-philosophischen Denken wird im Folgenden vor allem auf Aussagen zur Geduld von Theolog*innen, Pädagog*innen, Philosoph*innen, Sozialarbeiter*innen sowie Lyriker*innen, Schriftsteller*innen zurückgegriffen. Die umfangreiche Recherche der Textstellen verdeutlicht, dass die ausgewählten Aussagen anderer wissenschaftlicher Richtungen als der Sozialpädagogik und Pädagogik von Vertreter*innen dieser Professionen teils kontrovers reflektiert werden können sowie aus der Profession der Sozialen Arbeit und dem Coaching ggf. als nicht relevant für eine Positionierung im Kanon der Wissenschaften und Praxen angesehen werden können.
Zu betonen ist jedoch, dass der interdisziplinäre, interreligiöse und interkulturelle Dialog über einen Begriff wie den der Geduld in einer Suche nach einer tragenden Ressource angesichts steigender psychosozialer Belastungen junger Erwachsener und der Veränderungen der Haltung junger Erwachsener in und mit der Arbeitswelt verstärkt von Seiten der Autorin empfohlen wird. Hierzu sind auch Quellen aus anderen Kulturräumen sowie religiöser, spiritueller und ethischer Orientierungen als der christlich-abendländischen Prägung weiter zu untersuchen. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass eine fachliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansichten in der Entwicklung der Sozialpädagogik, der Pädagogik, der Sozialen Arbeit und des Coachings von der Autorin als bereichernd angesehen wird.
2.3 Geduld im historischen Kontext
Die in diesem Kapitel beschriebenen historischen Quellen wurden ausgewählt, weil sie die Geduld jeweils in einer gesellschaftlichen Übergangsphase beschreiben und Aufschluss darüber geben können, wie Geduld in heutigen Veränderungsprozessen junger Erwachsener verstanden werden kann. Ihre Deutung im Kontext des Einzelcoachings junger Erwachsener erfolgt aus Gründen der Einheitlichkeit und der Verwertbarkeit in der Diskussion im Kapitel 4.
2.3.1 Geduld in der Antike
Die ausgewählten Dokumente aus der der Antike und der Stoa zeigen sich als Stimmen einer Übergangszeit: Werden in der ausklingenden hellenistischen Phase noch das ‚individuelle Wohl‘ als Gut sowie die ‚Vernunft‘ vorrangig geschätzt, so werden mit der Entstehung des Christentums das ‚Überleben als Glaubensgemeinschaft‘ und der ‚Umgang mit dem Leid des Menschen‘ zentralere Themen.
2.3.1.1 Publilius Syrus
Die Sprüche des Publilius Syrus (1969) lassen sich als eine Sammlung von Lebensweisheiten der Antike verstehen. Von Publilius Syrus sind aus dieser Übergangszeit die Sprüche „Geduld ist ein verborgener Schatz der Seele“19, „Geduld und Mut erbauen ihr Glück sich selbst“20 sowie „Arznei für jeden Schmerz ist die Geduld“21 überliefert. Geduld zeigt sich somit bei Publilius Syrus als eine Verbindung von etwas Wertvollem und Geheimnisvollen sowie von Mut, Glück und gesundheitlichem Wohlergehen.
2.3.1.2 Cicero
Im Jahr 63 v.Chr. stellt der Konsul Marcus Tullius Cicero (106 v.Chr.–43 v.Chr.; Häberle 2015, S. 1–4) vor dem römischen Senat an den Politiker Catilina die Frage: „Wie lange noch, Catilina, willst Du unsere Geduld mißbrauchen?“22 und deckt damit eine Verschwörung gegen den Senat auf. Durch die Frageform verweist Cicero auf die zeitliche Bedeutung der Geduld sowie die Gefahr, Geduld zu instrumentalisieren. Gleichsam ist Cicero bedeutsam, weil auf ihn die Wortschöpfung der Toleranz zurückgeht, und hierin die Geduld ihre sprachliche Wurzel findet. Toleranz versteht der Stoiker Cicero als eine Tugend, die vorrangig auf das Subjekt sowie seine Bewältigung von persönlichem Leid gerichtet ist und weniger den Umgang mit seiner Umgebung berücksichtigt (vgl. Schmidt-Salomon 2017, S. 63–64). Die Stoiker sehen den Menschen nach Maximilian Forschner als einen nach Weisheit strebenden Menschen. Durch seinen Geist erlange der Mensch vollkommenes Glück. Die sachliche Sicht auf alle Dinge und Zusammenhänge stehe über den Emotionen (vgl. Forschner 2016, S. 314–320). Die Geduld im Sinne Ciceros ist hiermit eine vernunftbezogene, mentale Haltung, mit der eine Person möglichst ohne Beachtung der eigenen Emotionen Lebensaufgaben zu bewältigen hat.
2.3.1.3 Seneca
Etwa hundert Jahre später berät der Philosoph Lucius Annaeus Seneca (geboren circa im Jahr 1 bis 65 n.Chr., vgl. Seneca 2013), der ebenso den Stoikern zugerechnet wird, den Politiker und Geschäftsmann Serenus dahingehend, wie er zu einem ruhigen, gelassenen und ausgeglichenen Lebensstil kommen kann (vgl. Seneca 2013, Seneca 2017, S. 6). Serenus erlebt seine Rollensuche zwischen seiner Tätigkeit in der Öffentlichkeit und dem von ihm gewünschten Rückzug in das Private als seelisch kräfteraubend. In einem Brief an Seneca geht Serenus darauf ein, dass er wisse, dass sich alles Wesentliche erst durch „geduldiges Ausharren“ (ebd.) durchsetze. Er beschreibt, wie schwer ihm seine Aufgaben über die Zeit fielen. Dabei befinde er sich oft in unterschiedlichen „Zuständen“ (ebd.), was er für sich als Krankheit definiert (ebd.). In einem Antwortschreiben geht Seneca auf die Bedeutung der „Gemütsruhe“ (ebd., S. 14–15) ein, die aus seiner Sicht durch ein passendes Maß an „Freude“ (ebd.) und „Einvernehmen“ (ebd.) mit sich entstehe. Der menschliche Geist neige dazu, bewegt zu sein, Veränderung zu suchen und nicht zur Ruhe zu kommen (ebd., S. 19). Zudem zeige er durchgehend nicht die Energie „alles zu erdulden“ (ebd., S. 21) und sich mit bedeutenden Fragen „auf Dauer abfinden“ (ebd.) zu können. An anderer Stelle kritisiert Seneca ein Leistungsverständnis, das an eine hohe Position gebunden ist, indem er die Geduld als eine Tugend der für jedermann zugänglichen Gerechtigkeit, der Frömmigkeit, der Tapferkeit, der Todesverachtung und der Götterkenntnis zuordnet, wenn er schreibt:
„Oder leistet etwa derjenige mehr, der als Richter zwischen Fremden und Bürgern oder als städtischer Prätor den Parteien in feierlichem Tone das Urteil verkündet, als der, welcher Auskunft darüber gibt, was die Gerechtigkeit sei, was die Frömmigkeit, was die Geduld, was die Tapferkeit, was die Todesverachtung, was die Göttererkenntnis eine wie hohe Stellung unter allen Gütern, die umsonst zu haben sind, ein gutes Gewissen einnehme?“ (Seneca 2017, S. 23 in der Übersetzung von Otto Apelt)
Senecas Schicksal nimmt eine tragische Wendung, als er im Jahr 65 n.Chr. auf Befehl seines ehemaligen Schülers Nero zum Selbstmord verurteilt wurde, da ihm eine Mitwirkung in einer Verschwörung unterstellt wurde. Seinen eigenen Tod vollzieht er gemäß seiner ethischen Haltung in stoischer Gelassenheit (vgl. Seneca 2013).
2.3.2 Geduld in den jüdisch-christlichen Wurzeln
In den jüdisch-christlichen Wurzeln des Alten Testamentes und des Neuen Testaments zeigt sich in den zahlreichen Verweisen auf die Geduld, dass, anders als in der hellenistischen Zeit und bei den Stoikern, das Ringen des Menschen mit krisenhaften Lebensphasen nun verstärkt thematisiert wird. Der Mensch begegnet in diesen Quellen der Vorstellung eines Gottes, der ihn in seiner Geduld prüft, ihm aber als Dialogpartner gegenübersteht. Verbunden wird dies mit der Hoffnung, dass er als Mensch von seinen Qualen erlöst wird.
Aufgrund der Fülle der biblischen Aussagen zur Geduld werden ausgewählte Quellen aus dem Alten Testament und dem Neuen Testament wörtlich angeführt und direkt im Text mit einer Quellenangabe versehen.23
2.3.2.1 Geduld im Alten Testament
Im Buch Ijob wird die Geduld zwar nicht explizit erwähnt, die Figur des Ijob steht aber sinnbildlich für alle Menschen, denen schweres Leid und Krankheit widerfahren und die dies als Prüfungen für ihre Beständigkeit ansehen (vgl. EÜ, Ijob 2,10, Der Verlust der Gesundheit). In den Psalmen wird Geduld als Ausharren verstanden. „Ich bin wie ein Tauber, der nicht hört, wie ein Stummer, der den Mund nicht auftut. Ich bin wie einer, der nicht mehr hören kann, aus dessen Mund keine Entgegnung kommt. Doch auf dich, Herr, harre ich; du wirst mich erhören, Herr, mein Gott“ (EÜ, Psalmen 38,14–16).
In den Sprüchen Salomons wird Geduld als Langmut bezeichnet und mit Friedfertigkeit, Überzeugungskraft und Sanftheit in Verbindung gebracht. Dort heißt es: „Der Langmütige ist immer der Klügere, der Jähzornige treibt die Torheit auf die Spitze“ (EÜ, Sprüche Salomons 14,29), „Ein hitziger Mensch erregt Zank, ein langmütiger besänftigt den Zank“ (EÜ, Sprüche Salomons 15,18), „Besser ein Langmütiger als ein Kriegsheld, besser, wer sich selbst beherrscht, als wer Städte erobert“ (EÜ, Sprüche Salomons 16,32) sowie: „Mit Geduld wird ein Vorgesetzter umgestimmt, sanfte Zunge bricht Knochen“ (EÜ, Sprüche Salomons 25,15). Im Buch Sirach wird Geduld als annehmende Haltung auch in Bedrängnis verstanden: „Nimm alles an, was über dich kommen mag, halt aus in vielfacher Bedrängnis!“ (EÜ, Sirach 2,4). Dies verpflichtet gleichsam zur Unterstützung von Bedürftigen: „Hab dennoch Geduld mit dem Bedürftigen, und laß ihn nicht auf die Wohltat warten!“ (EÜ, Sirach 29,8). In den Büchern der Propheten werden Menschen, die verfolgt wurden, ermutigt, dies geduldig als Zeichen des Zornes Gottes zu ertragen und auf den Untergang des Feindes zu setzen: „Meine Kinder, ertragt geduldig den Zorn, der von Gott her über euch kam: Der Feind hat dich verfolgt, bald aber wirst du seinen Untergang sehen und den Fuß in seinen Nacken setzen“ (EÜ, Baruch 4,25). An dieser Formulierung zeigt sich exemplarisch, wie existenziell die Geschichte Einzelner und ganzer Völker im Alten Testament von Krieg und Tod geprägt ist und welche zentrale Bedeutung Geduld für das Überleben hat.
2.3.2.2 Geduld im Neuen Testament
Im Neuen Testament wird im Matthäusevangelium Geduld im Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger mit Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in Verbindung gebracht. Dort heißt es, die Geduld, die Gott dem Einzelnen gibt, habe dieser auch seinen Mitmenschen zu geben (vgl. EÜ, Matthäus 18). Im Markusevangelium wird im Gleichnis vom Wachsen der Saat (EÜ; Markus 4, 26–29) zwar nicht explizit der Begriff der Geduld erwähnt, in dem Gleichnis geht es jedoch inhaltlich um Geduld: Indem ein Bauer sinnbildlich einen Samen auf einen Acker wirft und ohne weiteres Wissen diesen damit den Wachstumsprozessen der Natur überlässt, nimmt er Anteil an der Entstehung des Reiches Gottes. Nicht der Mensch ist in diesem Gleichnis der Handelnde, sondern die Natur stellvertretend für das Wirken Gottes. Der Mensch kann dies bis zum Reifezeitpunkt (geduldig) wartend beobachten und greift erst wieder erntend in den Prozess ein. Dieses Gleichnis zeigt damit keinen daueraktiven, ständig Leistung erbringenden Menschen, sondern einen Menschen, der Teil aller Lebensprozesse ist (vgl. ebd.). Im Lukasevangelium wird Geduld im Gleichnis vom Sämann als Ausdauer verstanden, die Frucht bringt (vgl. EÜ, Lukas 8,15).
In den Paulinischen Briefen (EÜ, S. 1405 f) wird im Brief an die Römer darauf verwiesen, beharrlich – im Sinne von geduldig – Gutes zu tun, um ewiges Leben zu erlangen. Ein Engagement in der Gegenwart werde sich als Geschenk Gottes in der Zukunft zeigen, erreichbar nicht durch Aufschub eines Bedürfnisses, Status oder Leistung, sondern durch beständiges Handeln in der Gegenwart (vgl. EÜ, Römer 2,7). An späterer Stelle verknüpft Paulus die Geduld mit der Hoffnung der Menschen auf Rettung: „Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Wie kann man auf etwas hoffen, was man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld“ (EÜ, Römer 8, 24–25). Geduld wird in diesem Sinne als ein Hilfsmittel zur Hoffnung auf ein Überleben verstanden. Im Kapitel zum Leben der Glaubenden (Röm 12,1–15,13) setzt Paulus Fröhlichkeit, Geduld und Beharrlichkeit in Beziehung zueinander, indem er sagt: „Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet“ (vgl. EÜ, Römer 12,12). Die Geduld versteht er hierin als Ausgleich zur Bedrängnis. Im ersten Brief an die Korinther geht Paulus auf die Langmütigkeit der Liebe ein (vgl. EÜ, 1 Korinther 13,4) und stellt ihren besonderen Wert heraus (vgl. EÜ, 1 Korinther 13,13). Im zweiten Brief an die Korinther geht Paulus auf die Situation der Apostel ein und auf die Bedeutung, Leid als Gemeindemitglied wie die Apostel geduldig zu ertragen (vgl. EÜ, 2 Korinther 1, 6–7). An späterer Stelle verweist er auf die Bedeutung von Ausdauer, gleichbedeutend mit Geduld, für die gemeinsame Arbeit von Gemeindemitgliedern und Aposteln (vgl. EÜ, 2 Korinther 12,12). Im Brief an die Galater beschreibt er Geduld, hier als Langmut angeführt, als eine der Früchte des Geistes und stellt sie damit den Werten der Liebe, Freude, des Friedens, der Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung gleich (vgl. EÜ, Galater 5, 22). Im Brief an die Epheser ruft Paulus die Christen zur Einheit auf und bittet um Geduld, Demut und Friedfertigkeit, wie auch darum, einander in Liebe zu ertragen (vgl. EÜ, Epheser 4,2–3). Im Brief an die Kolosser drückt Paulus seinen Wunsch aus, dass Gott alle Menschen mit Kraft ausstatte, damit sie Geduld und Ausdauer haben (vgl. EÜ, Kolosser 1, 11). Hier beschreibt er die Geduld neben dem Erbarmen, der Güte, der Demut und der Milde als äußere Merkmale des Auserwähltseins durch Gott (vgl. EÜ, Brief an die Kolosser 3, 12). Im ersten Brief an die Thessalonicher bittet er um Geduld mit allen für ein gutes Gemeindeleben (vgl. EÜ, 1 Thessalonicher 5,14). Die Pastoralbriefe verstehen sich als Briefe an die Gemeindeleiter (vgl. EÜ, S. 1493). Im zweiten Brief an Timotheus bedankt sich Paulus für die Nachfolge der Leiter in „der Langmut, in der Liebe und der Ausdauer, in den Verfolgungen und Leiden“ (vgl. EÜ, Timotheus 3,10–11) und fordert den Gemeindeleiter auf, die Gemeindemitglieder unermüdlich und geduldig zu belehren (vgl. EÜ Timotheus 4,2). Im Brief an die Hebräer ermutigt er zur Orientierung an der Ausdauer Abrahams (vgl. EÜ, Hebräer 6,12 und 6,15).
Die Katholischen Briefe werden dem ersten Jahrhundert nach Christus zugeordnet und sind an eine breite Öffentlichkeit gerichtet, um die Christen zu einem Zusammenhalt zu ermutigen (vgl. EÜ 2001, S. 1525). Im Brief an Jakobus mahnt der Autor zur Ausdauer in Geduld und verweist auf die kommende Auferstehung. Der Gedanke der Auferstehung liegt auch folgenden Aussagen zugrunde (vgl. EÜ, Jakobus 5,7):
„Darum, Brüder, haltet geduldig aus bis zur Ankunft des Herrn! Auch der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde, er wartet geduldig, bis im Herbst und im Frühjahr der Regen fällt. Ebenso geduldig sollt auch ihr sein. Macht euer Herz stark, denn die Ankunft des Herrn steht nahe bevor. Klagt nicht übereinander, Brüder, damit ihr nicht gerichtet werdet. Seht, der Richter steht schon vor der Tür. Brüder, im Leiden und in der Geduld nehmt euch die Propheten zum Vorbild, die im Namen des Herrn gesprochen haben: Wer geduldig alles ertragen hat, den preisen wir glücklich. Ihr habt von der Ausdauer des Ijob gehört und das Ende gesehen, das der Herr herbeigeführt hat. Denn der Herr ist voll Erbarmen und Mitleid“ (EÜ, Jakobus 5, 7).
Im ersten Brief des Petrus geht der Autor auf die Verfolgungssituation der Christen als neue Religionsgemeinschaft im geschichtlichen Kontext ein und empfiehlt, erfahrenes Leid, das in der Gnade Gottes geschehen sei, zu erdulden (vgl. EÜ, 1 Petrus 2,20; Die Bibel 2001). In der Offenbarung des Johannes stellt der Autor das standhafte, mühevolle und dienende Ausharren der Christen auch in der Unterdrückung besonders heraus (vgl. EÜ, S. 1555; Offenbarung 1,9; Offenbarung 2,2; Offenbarung 2,19; Offenbarung 3,10; Die Bibel 2001).
2.3.3 Geduld in den Anfängen des Christentums
Die beiden Kirchenväter Cyprian von Karthago und Augustinus von Hippo verbindet über mehrere Jahrhunderte sowohl ihre regionale Verortung jeweils als Bischof im Norden Afrikas wie auch ihre Führungsrolle während des Aufbaus der Kirche in den Anfängen des Christentums in der Diaspora, was beim Verständnis ihrer jeweiligen Aussagen zur Geduld zu berücksichtigen ist.
2.3.3.1 Cyprian von Karthago
Cyprian von Karthago hat in den Jahren um 200 bis 258 n.Chr. in Karthago im heutigen Tunesien gelebt (vgl. Schmidt-Salomon 2017, S. 64–65). Auf Anraten eines befreundeten Priesters bekehrt er sich zum Christentum. Kurz darauf wird er Bischof von Karthago, was unter der Priesterschaft kritisch gesehen wird. Er flieht im Jahr 250 in der Christenverfolgung, die viele Christen zu einer Entscheidung für oder gegen das Christentum zwingt. Sein Bischofsamt übt er in dieser Zeit von der Ferne aus, kommt jedoch im Jahr 251 nach Karthago zurück, wird aber schließlich in der Christenverfolgung unter Kaiser Valerian enthauptet. Cyprian setzt sich für die Kindstaufe und für den Einheitsgedanken der Kirche und eine weitreichende Autonomie jedes Ortsbischofs ein.24 In De bono patientiae (vgl. Stöhr 2014, S. 30) beschreibt Cyprian welche bedeutende Rolle die Geduld als Tugend im Alltagshandeln in der Anfangszeit des Christentums hat. Er weist der Geduld die Fähigkeit zu, den Menschen in allen kritischen Lebenssituationen als Kraftquelle zu stärken und auf seinem Lebensweg zu halten. Für Christen wäre das Leben von Jesus Christus ein Vorbild für die Geduld.25 An anderer Stelle erklärt Cyprian die Notwendigkeit der Geduld als Trost im Leid, das jeder Mensch infolge der Erbsünde ertragen müsse.26 Indem Cyprian sich auf Genesis 3, 17–19 bezieht, zeigt er bildlich auf, dass die Menschheit – symbolisiert durch Adam, der sich den Weisungen Gottes nicht füge, – existenziell an die Erfahrung von Leid bis zum Tod gebunden sei. Geduld biete darin Trost (ebd.). Die Schwierigkeiten und Problemlagen des Lebens vergleicht er mit den „Angriffen des Teufels“ (ebd., S.25) und der „Welt“ (ebd.). Christliche Aufgabe sei es, mithilfe der Geduld dies zu „ertragen“ (ebd.) Cyprian trifft eine Unterscheidung zwischen denjenigen, die sich an der Geduld Gottes ausrichten würden und anderen, die sich an der Ungeduld orientieren würden. Ungeduld setzt er mit dem Werk des Teufels gleich, indem er sagt: „Denn wie die Geduld ein Segen Christi ist, so ist andererseits die Ungeduld ein Fluch des Teufels“27. Die Ursache aller Probleme schreibt er Andersgläubigen besonders aber dem Volk der Juden zu, als er erklärt: „Wenn ferner das gegenüber den göttlichen Wohltaten treulose und undankbare jüdische Volk zum ersten Mal von Gott abtrünnig wurde, war nicht daran die Ungeduld Schuld?“(ebd.) Im Ganzen wertet er die Geduld als positiv und förderlich, die Ungeduld stellt er als negativ und schädlich dar, wenn er behaupte, „überhaupt all das, was die Geduld durch ihr Wirken zum Ruhm aufbaut, das richtet die Ungeduld zugrunde“ (ebd.). Diese Überlegung führt zu einer aktuellen Kritik (vgl. Diskussion) an Cyprians Sichtweise zur Geduld und seiner Entwertung anderer Glaubensrichtungen und anderer Herkünfte insbesondere im Kontext der Toleranz und eines heutigen demokratischen Verständnisses sowie friedvollen Zusammenlebens (Schmidt-Salomon 2017, S. 64–65).
2.3.3.2 Augustinus von Hippo
Augustinus von Hippo, der in den Jahren 354–430 n.Chr. gelebt hat, wird im nördlichen Afrika im heutigen Algerien geboren. Er ist der Sohn eines Bauern und Regierungsbeamten sowie einer christlichen Mutter.28 Den christlichen Glauben lehnt er anfangs ab.29 Augustinus lehrt zuerst in Karthago, Rom und in Mailand, bekehrt sich dann aber zum Christentum. Er geht in seine nordafrikanische Heimat zurück und gründet ein philosophisch-theologisches Kloster, um sich der Stille zu widmen. Kurze Zeit später wird Augustinus jedoch als Bischof von Hippo eingesetzt und widmet sich dem Schreiben theologischer Texte. Seinen früheren offenen Lebensstil reflektiert er nun als Sünde, eine Erlösung sieht er nur in einem Gott zugewandten Leben in Demut und Nächstenliebe und in der Hoffnung auf die Gnade Gottes.30 Damit wird Augustinus sowohl ein wichtiger Repräsentant des Erlösungsdenkens seiner Zeit wie auch ein zentraler christlicher Lehrer.31 In De patientia32 sieht Augustinus den Sinn eines geduldigen Handelns darin, dass durch ein Ertragen in Geduld ein schlimmeres Übel vermieden werden könne. Der Geduld weist er eine strategische Bedeutung zu: Probleme lassen sich aus seiner Sicht nicht durch Vermeidung oder durch Ausweichen in „Ungeduld“ (ebd.) bewältigen, sondern nur durch die Akzeptanz des Problems. Er sieht die Notwendigkeit, dieses annehmend zu lösen (ebd.). Augustinus differenziert bezüglich des Auslösers von Geduld zwischen einem Grund, der aus der „Weisheit“33 resultiert, und einem Grund, der in einem „Begehren“ (ebd.) verwurzelt ist. Einzig der Grund, der „gut“ (ebd.) sei, legitimiere ein Lob der Geduld. Andernfalls wäre die „Härte“ (ebd.) des Menschen verwunderlich, der eine „falsche Geduld“ (ebd.) zeige. Augustinus unterscheidet zwischen einer „echten“ (ebd.) und einer „falschen“ (ebd.) Geduld, die erst dann zu erkennen sei, sobald der wahre Grund für ein Handeln verstanden werde. Damit warnt er davor, jedes Abwarten und Aushalten pauschal als geduldig und lobenswert anzusehen. Für ihn ist Geduld „das Festhalten am Guten, die Ausdauer, mit der man einer guten Sache treu bleibt. Geduld kennzeichnet die Standhaftigkeit und Beharrlichkeit, mit der man allen Widerständen zum Trotz am Guten festhält, über eine lange Zeit festhält.“ (Klomps 1976, S. 78–82) Klomps betont, dass Augustinus die Geduld demnach als eine „nach innen verlegte Tapferkeit“ (ebd.) verstehe, und verdeutlicht damit, dass in der Geduld eine unentdeckte Stärke liegen kann.
2.3.4 Geduld in der Entwicklung des klösterlichen Lebens
In diesem Kapitel stehen Texte von Franz von Assisi, Katharina von Siena, Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz und Franz von Sales im Zentrum und zeigen die Bedeutung der Geduld in der Entwicklung des klösterlichen Lebens im christlichen Kontext.
2.3.4.1 Franz von Assisi
Franz von Assisi (1182/1181–1226, vgl. Dieterich 1995, S. 140–142) kommt als Sohn einer angesehenen Tuchhändlerfamilie in Assisi in Italien zur Welt. Als junger Mann kämpft er als Ritter, gerät dort in Gefangenschaft, wird schwer krank und wendet sich der Orientierung an Jesus zu. Als er sich mit seinem Vater verwirft, nimmt er ein Einsiedlerleben auf, das darauf ausgerichtet ist, in Armut zu leben. Er geht als Laienprediger auf Wanderschaft, sieht sich mit allen Menschen und Tieren geschwisterlich verbunden. Schon zwei Jahre nach seinem Tod wird Franz von Assisi heiliggesprochen. Franz von Assisi wird bis in die heutige Zeit für sein Eintreten für Menschen in Armut, Krankheit und Not, für seinen Verzicht auf Gewalt und Machtmissbrauch sowie für seine Verbundenheit mit der Natur und der Schöpfung verehrt.34 Im Lobpreis des heiligen Franziskus35 stellt Franz von Assisi Gott als einen dialogischen und wohlwollenden Gott dar und der „Wunderwerke“36 vollbringt. In seiner Aufzählung der Charakteristika Gottes nennt er in diesem Gebet die Geduld eingeordnet zwischen der Demut und der Schönheit (vgl. ebd.). Damit weist er der Geduld den Stellenwert einer Verbindung zwischen allem Kleinen und Armen, das in Demut gewürdigt wird, und der Größe der Schönheit zu. Franz von Assisis praktiziert einen liebevollen und wertschätzenden Blick auf alles Lebendige. Seine Einstellung zur Geduld geht mit der von ihm gezeigten Radikalität, seiner inneren Stimme bzw. seiner Berufung zu folgen und sich bewusst für ein Leben in Armut zu entscheiden, einher.
2.3.4.2 Katharina von Siena
Katharina von Siena (1347–1380, vgl. Stöhr 2014, S. 119–169) orientiert sich schon als Kind an einem christlichen Leben, an Askese und Meditation. Gegen den Widerstand ihrer Eltern tritt sie als junge Frau dem Orden der Dominikanerinnen bei. Fortwährend sieht sie Jesus als ihr Vorbild und ihren Ehemann an und versteht sich bis zu ihrem Tod in einem tiefen mystischen Eheverhältnis (Borchert und Zulauf 1994, S. 53) mit ihm. Katharina verfasst fast vierhundert Briefe an Bekannte, Verwandte und an politisch zentrale Personen sowie theologische Bücher und Gebete. Hierüber gelingt es ihr, sich Gehör zu schaffen und politischen Einfluss auf Papst Gregor XI. und seinen Nachfolger Urban VI. zu nehmen. Nach ihrem Tod wird Katharina heiliggesprochen und als Kirchenlehrerin gewürdigt. Wegen ihrer besonderen Wirkung in der Förderung der Einheit Europas und des Friedens wird sie in Italien und Europa als Schutzpatronin verehrt.37 Mit Katharina äußert sich eine gläubige Christin, zum Thema der Geduld. In ihren Briefen bezieht sich Katharina häufig auf die Geduld (vgl. Stöhr 2014, S. 140). Dabei lässt sich ihr Verständnis der Geduld nur im Wissen um ihre Vorstellung eines „mystischen Ehebundes“ (Borchert und Zulauf 1994, S. 53) erklären, in dem sie ihren Körper und ihre Seele vollständig der Nachfolge Christi und Gott unterwirft. Bezüglich ihres Vorbildes für Geduld orientiert sie sich am Leidensweg Christi, der klaglos alles Schwere auf sich genommen habe (vgl. Stöhr 2014, S. 140). Geduld verbindet Katharina mit dem Begriff der Liebe, insbesondere der Liebe zu Christus (ebd., S. 150–158). Der Geduld schreibt sie den hochrangigen Titel der „Königin“ (ebd., S. 150–158) zu, die mit dem Werkzeug der „Gerechtigkeit“ (ebd.) über alle Gefühle, vor allem aber den „Zorn“ (ebd.) herrsche. In einem Brief an ihren Bruder ermutigt Katharina diesen in seiner Gefangenschaft, die Geduld sachte als eine „Waffe“38 zu nutzen, um von den Problemen seiner Situation profitieren zu können. In einem anderen Schreiben motiviert sie Papst Gregor XI. dazu, Geduld zur Verteidigung seiner Position als Papst einzusetzen.39 Geduld zeigt und entwickelt sich Katharina von Siena zufolge erst in Situationen schweren Leides, die aus ihrer Sicht als elementar zum Leben dazu gehören (vgl. Stöhr 2014, S. 120). Für sie ist es zentral, auf Gott hören zu lernen und darauf zu vertrauen, dass alles im Leben durch Gott beeinflusst wird (vgl. ebd., S. 124). Für die Entwicklung von Geduld sei es daher notwendig, den von ihr so genannten „Eigenwillen“ (ebd. S. 120–133), den sie mit jeglicher Form der „Sinnlichkeit“ (ebd., S. 124) vergleicht und als Merkmal einer aus ihrer Sicht schädlichen „Ungeduld“ (ebd., S. 120–133) versteht, abzutöten.
2.3.4.3 Teresa von Ávila
Als Teresa von Ávila (1515–1582, vgl. Stöhr 2014, S. 8) dreizehn Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter. Ihr Vater schickt sie als Jugendliche zur Erziehung in ein Augustinerkloster. Die lebensfrohe und humorvolle Teresa40 entscheidet sich aber gegen den Willen des Vaters mit zwanzig Jahren für den Wechsel in ein Kloster der kontemplativ lebenden Karmeliterinnen. In dieser Gemeinschaft findet sie, nachdem sie viele seelische Krisenphasen erlebt, die sie als mystische Erfahrungen beschreibt, über Jahre ihre innere Ruhe und Stille. Sie gründet den ersten Konvent der Unbeschuhten Karmeliterinnen. Dabei orientiert sie sich an einer klaren Tagesstruktur, die Zeiten des Gebetes und der Stille mit Zeiten der Arbeit und der Begegnung der Schwestern verbindet.41 Auf Teresa gehen viele weitere Klostergründungen und Anregungen zu einer dialogischen und demokratischen Form der Kirchenleitung zurück. Im Jahr 1622 wird Teresa heiliggesprochen und im Jahr 1970 zur Kirchenlehrerin ernannt.42
Teresa formuliert in ihrem Gebet Geduld erreicht alles (vgl. Stöhr 2014, S. 176) ihr tiefes Vertrauen in Gott, der jedes Leben in seiner Beständigkeit trage. Ihre Vorstellung von Geduld führt sie auf ein Ziel hin, das allumfassend ist und sich in der Orientierung an Gott als einem Weggefährten, an den sie sich immer halten könne, erfüllt. Der Mensch erreicht für sie sein Ziel nicht durch eigene Anstrengung, sondern durch die Geduld, die von Gott gegeben wird. Menschliche Sorgen und Nöte dürften den Menschen daher nicht „verwirren“ (ebd.) oder „erschrecken“ (ebd.).
2.3.4.4 Johannes vom Kreuz
Den fast drei Jahrzehnte jüngeren Johannes vom Kreuz (1542–1591, vgl. Stöhr 2014, S. 7) verbindet eine tiefe geistige Freundschaft mit Teresa von Ávila, durch die er sich motiviert fühlt, den Orden der Karmeliter weiterzuentwickeln.43 Auch Johannes sieht das Fundament allen Seins in einer engen Verbindung mit Gott. Für dieses Ziel, sagt er, „ist es sehr wohl wert, deshalb vieles über sich ergehen zu lassen und mit Geduld und Hoffnung auszuharren“ (Stöhr 2014, S. 174).44 Über die Verbindung der Geduld mit der Hoffnung schließt Johannes an die Zeiten der frühen Entwicklung des Christentums an, indem an die Geduld als Unterstützerin im Durchstehen von Schwierigkeiten und Krisen appelliert wird. Anstelle der von ihm bei Mitmenschen oft beobachteten Form der Selbstüberschätzung und des zu großen Zutrauens in die eigene Leistungsfähigkeit, hält er die Haltung der Demut und ein Warten auf Zeichen Gottes für einen geeigneten Weg, um Geduld erfahren zu können (vgl. ebd.).
2.3.4.5 Franz von Sales
Franz von Sales (1567–1622, vgl. Stöhr 2014, S. 8) kommt als ältestes von zwölf Kindern in einer adligen Familie auf Schloss Sales in Frankreich zur Welt. Seine Studienzeit in Paris ist für ihn mit einer persönlichen Krise verbunden. Diese Situation bewältigt er durch die spirituelle Erkenntnis, dass er immer und in jeder Form von Gott geliebt wird, was ihn zu einer optimistischen Haltung dem Leben gegenüber führt. Im Jahr 1591 wird von Sales in kirchlichem und weltlichem Recht promoviert, 1591 zum Priester geweiht, 1602 als Bischof von Genf berufen, wo er sich intensiv um ein Kennlernen der Situation der Pfarreien in seiner Diözese bemüht. Von Sales stirbt im Jahr 1622 in Folge eines Schlaganfalls. Im Jahr 1661 wird er seliggesprochen, im Jahr 1665 folgt kurz darauf die Heiligsprechung und im Jahr 1877 die Ernennung als Kirchenlehrer, später als Patron der Gehörlosen, der Schriftsteller*innen und Journalist*innen. An seiner Gott wie den Menschen wertschätzenden Spiritualität und Pädagogik orientieren sich seit der Zeit seines Wirkens zahlreiche Klöster, Ordensgemeinschaften, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Jugendwohnheime, Schulen, Hochschulen und Verlage.45 In Philothea – Anleitung zum frommen Leben (Sales 2015)46 gibt von Sales im Stil eines spirituellen Ratgebers lebenspraktische Vorschläge, wie sich Geduld hin zu mehr Frömmigkeit praktizieren und einüben lässt. Geduld ist für von Sales eine „kleine Tugend“,47 die im Alltag in jedem Beruf und jeder Lebenssituation auf einem „Weg der kleinen Schritte“ (ebd.) mit dem Ziel eines Lebens in mehr Frömmigkeit geübt werden kann (vgl. ebd., S. 135–136). Gott zeigt sich für von Sales als barmherzig und wartet ihm zufolge selbst mit Langmut48 darauf, dass sich der Mensch zum Glauben bekehrt (ebd., S. 38). Die Geduld stellt nach von Sales einen Zugang zur Seele dar (ebd., S. 137). Für einen Umgang mit Problemen von Mitmenschen orientiert er sich am Leidensweg Jesu, den er für sein „geduldiges Ertragen der Schwierigkeiten, Widerwärtigkeiten und Unannehmlichkeiten“ (ebd.) als Vorbild ansieht. Einen geduldigen Menschen versteht von Sales als „wahren Diener Gottes“ (ebd., S. 137–138), der alles Leid erträgt, auch wenn es ihm von Freunden zugefügt wird und das Ertragen zu keinerlei Ruhm und Ehre führt. Lege es jemand etwa darauf an, wegen seines Leides von anderen bemitleidet oder bedauert zu werden, so zeige sich „keine echte Geduld, sondern nur eine ganz raffinierte Ehrsucht und Eitelkeit“ (ebd., S. 138). Im Gegensatz dazu gebe es aber viele Situationen, in denen nicht das individuelle Leid das einzige Problem sei, das der Geduld bedürfe (ebd.). Häufig seien auch weitere „Umstände“ (ebd., S. 138) mit zu ertragen, wie etwa berufliche und familiäre Nachteile für Mitbetroffene und Familienmitglieder, was als zusätzliche Sorge empfunden werden könne (vgl. ebd.). Für Schwierigkeiten, die im mitmenschlichen Umgang entstehen, empfiehlt von Sales, sich bei falschen Anschuldigungen mit Ruhe zu verteidigen und die Schuld zu verneinen (vgl. ebd., S. 139). Für den Umgang mit Krankheiten betont er, dass der Beginn eines langsamen Heilungsprozesses „Mut und Geduld“ (ebd., S. 36) erfordere. Bei Krankheiten rät er dazu, die Heilmittel und Heilkunst eines Arztes zu akzeptieren. Sollte keine Heilung möglich sein, so sei die Krankheit Gott in Geduld zu „opfern“ (ebd., S. 139; ebd., S. 141).
2.3.5 Geduld in der Industrialisierung
Die Phase der Industrialisierung zeichnet durch eine Spanne kreativer Entwicklungen neuer technischer Möglichkeiten in der gleichzeitigen Anforderung starker sozialer Umbrüche ab, für die die Geduld eine Orientierung gegeben hat.
2.3.5.1 William Bernhard Ullathorne
William Bernhard Ullathorne (1806 bis 1889)49 wird als ältestes von zehn Kindern in England geboren. Nach einer kurzen Schulzeit und Ausbildung im familiären Betrieb entscheidet er sich für die Seefahrt, spürt dann aber den Wunsch, Priester zu werden. Ullathorne wird Benediktinermönch, Priester und im Jahr 1846 zum katholischen Bischof von Birmingham gewählt. Zeitweise übernimmt er die Funktion als Generalvikar von Australien. Ullathorne setzt sich als Kirchenmanager für den Ausbau der katholischen Kirche in England ein und überzeugt Papst Gregor XVI., dies auch in Australien verstärkt zu verfolgen. (vgl. Ullathorne 1891; Serle 1949)
Im Jahr 1912 erscheint Ullathornes Monografie Mehr Geduld! Die christliche Geduld (Ullathorne 1912). Die herausgebenden Benediktinerinnen betonen, dass Ullathornes Werk in die Umbruchszeit der Industrialisierung fällt, die durch den technischen und kulturellen Wandel von einer Zerrissenheit zwischen dem Erleben von Hektik und dem Wunsch nach Ruhe und Geduld geprägt sei (vgl. Ullathorne 1912). In seinen Ausführungen zur Geduld definiert Ullathorne Geduld als ein „Zeugnis für die Echtheit unserer Liebe“ (ebd. , S. 10), die „nur durch anstrengendes Ringen, durch Selbstbeherrschung und Verleugnung des eigenen Ich erlangt“ (ebd.) werden könne, dann aber zu großem Frieden führe. Den Ursprung der Geduld sieht er in einem festen Glauben an Gott. Geduld ist für ihn ein Mittel, um die Liebe Gottes zu erfahren. Die Aufgabe der Geduld sei es dabei, alle menschlichen Regungen zu züchtigen und sie der Liebe unterzuordnen (vgl. ebd.). Die „starke, männliche Tugend“ (ebd., S. 11) der Geduld helfe mit disziplinarischer Strenge gegen alle Schwächen.
2.3.5.2 Mahatma Gandhi
Der indische Anwalt und Menschenrechtler Mahatma Gandhi (1869 – 1948, vgl. Borchert und Zulauf 1994, S. 217) setzt sich für Freiheit, Frieden, den interreligiösen Respekt und für Toleranz besonders unter Hindus und Moslems, gegen die Rassentrennung in Südafrika und für die Unabhängigkeit Indiens ein. Gandhi stirbt 1948 in Folge eines Attentats (Bauschke 2018, S. 31). Er wird durch seinen gewaltfreien Widerstand, den er „Nicht-Gewalt“ (Otto 1984, S. 7) nennt, weltweit bekannt. Für Gandhi sind Geduld und Gewaltlosigkeit, die ihm zufolge erlernbar sind, eng mit einer Haltung der Toleranz von Andersdenkenden verbunden.50 Sein ethisches Verständnis reicht jedoch weit über ein reines Ertragen schwieriger Umstände, Bedingungen und Beziehungen hinaus (Schmidt-Salomon 2017, S. 78), indem er „Selbstverwirklichung“ (Wessler 2019, S. 771–780) sowie eine „unerschöpfliche Geduld“51 als Basis einer „Selbstzucht“ (ebd.) fordert. Diesen hohen Anspruch legt er auch bei sich selbst an, wobei er sich der Geduld und des „Nicht-Widerstandes“52 als „Methode“ (ebd.) bei der Erledigung schwieriger Aufgaben bedient. Die aktuelle innenpolitische Anerkennung Gandhis in Indien ist ambivalent und politisch brisant: Mit seiner Haltung ist er weltweit ein Vorbild für viele Freiheitsbewegungen bis in die heutige Zeit. In Indien wird er einerseits als Nationalheld verehrt. Andererseits wird er in Anbetracht der Tatsache, dass die Bevölkerungszahl wächst und das Land von Konsum und Kapitalismus geprägt ist, als nicht mehr zeitgemäß betrachtet. Zugleich werden seine Ansichten von fundamentalistisch-hinduistischen Kreisen wegen ihrer interreligiösen Offenheit abgelehnt (vgl. Wessler 2019, S. 771–780; Bauschke 2018, S. 31).
2.3.5.3 Rainer Maria Rilke
Im Jahr 1903 rät der Dichter53 Rainer Maria Rilke (1875 – 1926, vgl. Zimmermann 2011, S. 112) in einem Brief an den jungen Dichter Franz Xaver Kappus zu der Aussage: „Geduld ist alles“ (Rilke 2009, S. 18–19). Eindringlich ermutigt er Kappus, seiner inneren Stimme und der kommenden Zeit als Kraftquellen für seine kreative Entwicklung zu trauen. Rilke betont, dass anstehende menschliche und künstlerische Reifungsprozesse nicht mit der Zeit zu messen seien. Damit will er den jungen Mann ermutigen, sich Ruhe für seine Vorhaben zu gönnen und darauf zu verlassen, dass sich die von ihm gewünschten Ergebnisse mit der Zeit zeigen. Rilke zieht den Vergleich mit einem Baum, der über die Jahreszeiten hinweg dem Rhythmus der Natur folgt. Künstler bräuchten das Vertrauen, dass sich der „Sommer“ (ebd.) – hier zu verstehen als Symbol für Leichtigkeit nach anstrengenden Phasen – mit Geduld von selbst zeige. Ein geduldiger Mensch orientiere sich an der Ewigkeit, die „sorglos still und weit“ (ebd.) vor ihm liege. Rilke empfiehlt Kappus, sich den eigenen Fragen und dem Leben mit Liebe zuzuwenden, statt nach schnellen Antworten zu suchen (vgl. Rilke 2009, S. 24–25).
2.3.5.4 Maria Montessori
Maria Montessori (1870–1952, vgl. Waldschmidt 2015, S. 9) erlangt in Italien als eine der ersten Frauen einen akademischen Abschluss in Medizin (vgl. Montessori 2014, S. 5; Ludwig 2010). In der Sozialpädagogik und Pädagogik haben Fachbücher zur Geduld bisher eine geringe Bedeutung. Der Grund dafür ist unklar, zumal schon Montessori bei der Entwicklung ihres pädagogischen Ansatzes betont, wie essenziell die Geduld für die individuelle Entwicklung des Kindes sei. In ihre Empfehlungen zur Geduld in der Pädagogik lässt sie ihre beruflichen Erfahrungen als Direktorin eines heilpädagogischen Institutes der Psychiatrischen Universitätsklinik in Rom sowie als Leiterin des ersten reformpädagogischen Kinderhauses in San Lorenzo ebenfalls in Rom einfließen (ebd.). Die auf sie zurückgehende Montessori-Pädagogik prägt viele Einrichtungen der gegenwärtigen Primär- und schulischen Erziehung sowie Bildung. Über die Reflexion ihrer Praxiserfahrung gibt Montessori Anregungen für die Begleitung junger Menschen in Orientierungsphasen unter der Berücksichtigung der Geduld. Der pädagogische Ansatz von Montessori zur Geduld zeichnet sich durch folgende Kriterien aus: Montessori definiert die Geduld als eine Tugend,54 die mit Anstrengung55 verbunden ist, in der das Erreichen von Zielen56 aber zu Glück,57 Würde (ebd.) und Bewunderung58 führt. In der Geduld zeigten sich ein Glauben59 und eine Lebensphilosophie (ebd.). Montessori schreibt der Geduld des Lehrers60 Größe61 zu und der Geduld des Kindes Unendlichkeit.62 Die Fähigkeit,63 Geduld zu lernen, sieht sie als Ressource, die in der Persönlichkeit des Kindes schon angelegt ist und die von diesem sowohl durch Alltagserfahrungen als auch durch die Beobachtung von Vorbildern instinktiv geübt werden kann.64 Die Entwicklung von Geduld kann nach Montessori über positive Impulse von außen gefördert werden.65 Lernen versteht Montessori insgesamt als einen Selbstbildungsprozess, der durch geduldiges Üben gekennzeichnet ist.66 Kinder können nach Montessori somit Geduld trainieren und ihren Willen, ein Ziel zu erreichen, prüfen.67 Für Pädagog*innen empfiehlt sie, Geduld als eine Haltung zu sehen, in der die Entwicklung eines Kindes situativ zwischen Beobachtung68 und Eingreifen69 in einen Prozess gefördert wird. Gerade für Lehrer*innen sei diese Methodik anspruchsvoll, da sie sich weniger im Reden, sondern vielmehr im tugendhaften Handeln in der Praxis bewähre.70
2.3.6 Geduld in der Gegenwart
Die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, der Nachkriegsjahre des zweiten Weltkrieges sowie des Aufbaus einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft werfen existenzielle Sinnfragen auf, wie mit der Erfahrung von Leid, von Ungerechtigkeit und dem Erleben von Ohnmacht auch in der Beratung einzelner Menschen umzugehen ist. Die Geduld als eine Ressource wird in dieser Phase besonders in den Werken einzelner Theolog*innen, Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen sowie Künstler*innen sichtbar. Exemplarisch werden im Folgenden Aussagen zur Geduld von Personen dargestellt, die für ein (sozial-)pädagogisches Coaching relevant sind.
2.3.6.1 Romano Guardini
Das Wirken Romano Guardinis (1885–1968, vgl. Guardini 1985)71 erstreckt sich über die Jahrhundertwende und die beiden Weltkriege bis in die Nachkriegszeit sowie den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland als demokratischen Staat. Während einer Zeit der psychischen und beruflichen Neuorientierung zwischen seinem Studium und seiner Priesterweihe wird Guardini von einem Ehepaar, das er als „geistige Eltern“ (Guardini 1985, S. 94) beschreibt, mit „Geduld und Sorge“ (ebd.) unterstützt. Manfred Wolferstorf betont, dass Guardini das Krisenerleben von depressiven Menschen mit der Erfahrung eines Gotteserlebens verbindet und ihnen ein intensives spirituelles Gefühl zuspricht (vgl. Wolfersdorf 2011, S.145). Für Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, seien Geduld sowie ein wertschätzendes Warten auf kleine Veränderungen notwendig (vgl. ebd., S. 114). Im Lesebuch der Lebensweisheiten (Guardini 2013), das Empfehlungen im Jahreskreislauf enthält, führt Guardini die Idee einer ruhigen, beständigen, aber auch neue Lebensimpulse integrierenden Begleitung von Menschen fort, die er in der Geduld verankert: Guardini betont, dass das christliche Gottesbild von einem Gott ausgehe, der der Welt treu ist. Gottes Haltung gegenüber der Welt sei die Geduld. In einem Vergleich zwischen dem Tier und dem Menschen kommt Guardini zu dem Schluss, dass nur der Mensch Ungeduld zeigen könne, da er eine Idee von einer Zukunft habe und sich dafür entscheiden könne, einer Entwicklung Zeit zu geben. Geduld besteht für Guardini darin, sowohl die Geschehnisse in der Welt, die Eigenheiten anderer Menschen, besonders der Menschen, mit denen über Jahre eine Verbundenheit entstanden sei, als auch die eigenen anstrengenden Eigenschaften zu akzeptieren und auszuhalten. Geduld beginne immer wieder neu, auch wenn etwas schwierig sei. Dabei sei die Geduld mit einem tiefen Verständnis und mit Akzeptanz der eigenen Person und der Mitmenschen verbunden. In diesem Sinne zeige sich die Geduld als Weisheit (vgl. Guardini 2013, S. 61–65).
2.3.6.2 Dietrich Bonhoeffer
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945, Schäfer 2020c) setzt sich als Jungsekretär des Weltbundes christlicher Studenten, als Pfarrer und als Hochschullehrer bewusst für ein Leben in Frieden und in Gerechtigkeit mit einer Orientierung an der Bergpredigt ein. Schon frühzeitig engagiert er sich im politischen Widerstand gegen das Regime der Nationalsozialisten. Kurz vor Ende des Krieges stirbt er auf Befehl Hitlers im Konzentrationslager Flossenbürg in Bayern. Bis in die heutige Zeit wird er als Märtyrer und als ein Befürworter der Ökumene verehrt (ebd.). In seinem Gedicht Jedes Werden braucht Geduld (Bonhoeffer 2015, S. 7) beschreibt Bonhoeffer vergleichbar mit Rilke (vgl. Kapitel 2.3.5.3), wie sich alle Lebensprozesse durch eine wartende Haltung, Geduld und Zeit hin zu einem „Blühen“ (ebd.) als gewünschtem Zustand entwickeln.
2.3.6.3 Madeleine Delbrêl
Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen entscheidet sich die überzeugte Atheistin (vgl. Georgens und Delbrêl 2004) Madeleine Delbrêl (1904–1964, vgl. Voigt 2010) für ein Studium der Philosophie und Kunst. Als sie in eine familiäre Krise gerät, erlebt sie eine Begegnungserfahrung, in der sie Gott für sich entdeckt (ebd.). Sie schließt sich einer Pfarrgemeinde in Paris an, lässt sich als Sozialarbeiterin ausbilden und übernimmt zusammen mit einer Freundin die Leitung einer Sozialstation während des Zweiten Weltkrieges und entscheidet sich für das Leben in einer spirituellen Gemeinschaft mit anderen Frauen (vgl. Georgens und Delbrêl 2004). Delbrêl setzt sich als „Mystikerin der Straße“ (Delbrêl und Schleinzer 2007, S. 36–38) in dem kommunistisch geprägten Pariser Vorort Ivry für die Anliegen der Arbeiter*innen sowie die Wahrnehmung der Lebenssituation der ärmeren Bevölkerung in einem Christentum in einer säkularisierten Welt ein (vgl. Delbrêl 1991; Delbrêl und Schleinzer 2007). Aufgrund dieser Erfahrungen wird sie als Beraterin für das Zweite Vatikanische Konzil tätig (vgl. Voigt 2010, S. 183–184; Georgens und Delbrêl 2004). Auch die 1993 als „Dienerin Gottes“ (Voigt 2010, S. 183–184) selig gesprochene Delbrêl (2007) wird durch die Erfahrung von Leid während des Zweiten Weltkrieges intensiv geprägt. In ihrem Gedicht Die kleinen Übungen der Geduld (Delbrêl 2010, S. 197–198) beschreibt Delbrêl, wie anstrengend die Menge der Aufgaben und Belastungen des Alltages besonders aus Sicht einer Frau sind (vgl. Delbrêl und Schleinzer 2007, S. 36–38; Delbrêl in Voigt 2010, S. 183–184). Diese Erfahrungen definiert Delbrêl als „kleine Geduldsübungen“ (ebd.), die als „Partikel“ (ebd.) zu einer „großen Passion“ (ebd.) als Sinnbild einer einzigartigen Leidenschaft oder einem Lebensziel hinführten. Sie erfüllten sich jedoch nicht in persönlichem Ruhm, auch nicht im individuellen Überleben, sondern einzig in der „Ehre“ (ebd., Anm. BSB: gemeint ist die Ehre Gottes). Delbrêl vergleicht die „kleinen Übungen der Geduld“ (ebd.) mit einem „Martyrium“ (ebd.) und einem „Opfer“ (ebd.), die auf diesem Weg zu erweisen seien.
2.3.6.4 Dorothee Sölle
Dorothee Sölle (1929–2003)72 setzt sich mit den Themen der Friedens- und Ökologiebewegung, der Schöpfung, den Rollen von Frauen sowie den Fragen der Macht und der Gerechtigkeit auseinander (vgl. Sölle 1999). Ihr Werk steht für eine intensive Verbindung von Mystik, Widerstand und Befreiung. In ihrem Gedicht Ich kann dich nicht mitteilen (Sölle 1982, S. 9) klagt Sölle darüber, wie kräftezehrend es für sie ist, als Frau und als Theologin weder in der Kirche noch privat respektiert zu werden, wenn sie von ihrem Glauben spricht. Sie zieht dabei einen Vergleich zwischen ihren „klügeren“ Freunden (ebd.),73 mit denen sie ihre gebildeten Freund*innen meint, die ihr zu einem Richtungswechsel raten, ihren „dümmeren“74 Freunden, mit denen sie ihre bodenständigen Freund*innen bezeichnet, deren Rat zur Geduld ihr vertrauenswürdiger erscheint, „weil sie alles teuer bezahlen würden“ (ebd.) und ihren „feinden“ (sic, ebd.),75 die sie im klerikalen Kontext verortet sieht. Sölle zeichnet in ihrem Gedicht das Bild einer Geduld, die nicht intellektuell verstehbar, sondern nur im praktischen Alltag erfahrbar sei. Darin berge die Geduld als Alltagsressource aber auch die Gefahr, dass sie einen hohen Preis haben könne (vgl. ebd.). Für Sölle äußert sich in jeder Erfahrung und jedem Handeln des Menschen immer ein Wirken Gottes, das als mystisches Erleben beschrieben werden kann (vgl. Voigt 2010, S. 223–224; vgl. Kapitel 2.2.9). Damit positioniert sie sich in inhaltlicher Nähe zu Karl Rahner, der davon ausgeht, dass jeder Mensch zu einer erfahrungsorientiert-mystischen Theologie fähig sei (vgl. Sölle 1997, S. 31–37), was sich auch in seinem Verständnis der Geduld widerspiegelt.
2.3.6.5 Karl Rahner
Im Jahr 1982 erklärt Karl Rahner (1904–1984)76 an der Universität Tübingen in seinem Vortrag Über die intellektuelle Geduld mit sich selbst (Rahner 1983), dass die Geduld mit der eigenen Person besonders schwierig sei, obwohl sich in ihr über die Gelassenheit die Freiheit zeige (vgl. Rahner 1983, S. 42). In seinen Ausführungen geht er auf das Verhältnis der stark gewachsenen Wissensbestände zur beschränkten Möglichkeit des Menschen ein, diese in einem Leben durchdringen zu können. Provokativ verfolgt er die These, dass der einzelne Mensch verglichen mit dem Menschheitswissen immer „dümmer“77 (Anm. BSB: In der Wortwahl Rahners) geworden sei, da er die Welt nicht mehr in übersichtlichen Kategorien beschreiben könne. Dies verlange im interdisziplinären Dialog, mit dem Rahner besonders die wissenschaftlichen Zuhörer*innen anspricht, einen respektvollen Umgang mit dem Wissen bzw. Nichtwissen der eigenen Person sowie anderer Personen (vgl. Rahner 1983, S. 6, S. 53–54). Die Geduld sieht Rahner als Bedingung an, um Nichtwissen ertragen zu lernen. Er vergleicht sie mit einer Vorstufe zur „docta ignorantia“ (Rahner 1983, S. 54–55), der Lehre des Nichtwissens, in der östliche wie westliche Mystiker ihre Erfahrung beschreiben, über die sie durch mentale Versenkung mit dem Göttlichen in Berührung kommen. Christliche Verantwortung sei es, in der Orientierung am Leben und Sterben Jesu geduldig die Widersprüchlichkeiten des Lebens auszuhalten, die Verantwortung des Mystikers bestehe darin, sich den Bedürfnissen der Armen in ihrem Alltag zuzuwenden (vgl. ebd., S. 54–55). Die Geduld, die Rahner als „Ausharren in der heutigen Spannung zwischen rationaler Einsicht und freier Entscheidung“ (ebd., S. 61) definiert, erfordert seiner Ansicht nach, die Fähigkeit des Menschen, mit seinen „Unzulänglichkeiten“ (ebd., S. 62) zurechtzukommen. Rahner betont, dass der Mensch „wie in winterlicher Zeit, mit sich Geduld haben müsse“ (ebd. S. 63).
2.3.6.6 Eberhard Jüngerl
Eberhard Jüngerl (geb. 1934)78 geht in seinem Vortrag Gottes Geduld – Geduld der Liebe (Jüngerl 1983) in der mit Rahner gemeinsam veröffentlichten Monografie Über die Geduld (Jüngerl und Rahner 1983) von einem leidenschaftlichen Gottesbild aus. Dort heißt es: „Gott ist geduldig – nicht obwohl, sondern weil er so leidenschaftlich ist“ (Jüngerl 1983, S. 11). Der Mensch ist ihm zufolge durch die Verbindung mit der Liebe Gottes in seiner Geduld und seiner Ungeduld leidenschaftlich. Die Geduld im Speziellen ist für Jüngerl „der lange Atem der Leidenschaft“ (ebd., S. 11). Auch die „Leidenschaft der Hoffnung“ (ebd., S. 24) wurzelt aus seiner Sicht in der Geduld. Am Vorbild der Geduld Gottes erfahre der Mensch, wie Gott ihm Raum und Zeit lasse, auch wenn seine Liebe einmal unerwidert sei (vgl. ebd., S. 29). Das Ziel der Geduld sei daher die Liebe und deren Triumph, die Zeit sowie Durchhaltevermögen erforderten (vgl. ebd., S. 11).
2.3.6.7 Kurt Marti
Kurt Marti (1921–2017)79 setzt sich in seiner Arbeit für ein Christentum ein, das sich sozial engagiert. In seinen Texten reflektiert er wie Sölle besonders den Vietnamkrieg, die Globalisierung, die atomare Bedrohung und die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche. In seinem Gedicht „kirche hochzeit zwischen geduld und revolte“ (Marti 2011, S. 44)80 wendet er sich kritisch der Organisation Kirche und ihrem Umgang mit Macht zu. In der Formulierung „brüder stiftend in frommen verstecken die hochzeit zwischen geduld und revolte“ (sic, ebd.) äußert er seine Hoffnung auf strukturelle Veränderung in der Kirche über eine revolutionierende politische Eigenschaft der Geduld.
2.3.6.8 Johannes Kuhn
Johannes Kuhn (1924–2019)81 zufolge ist Geduld eine – wenn auch nicht geschätzte – Tugend, besonders für krisenhafte Tage. Um wirken zu können, braucht die Geduld Kuhn zufolge wie bei Jüngerl „einen langen Atem“ (Kuhn 1989, S. 7) und setze damit der Hektik des Alltages eine zeitliche Struktur der Langlebigkeit entgegen. Geduld ist nach Kuhn dort sinnvoll, wo das Lebenstempo das Handeln und Erleben zu stark bestimmt. Die Perspektive auf die Geduld ermögliche einen neuen, eigenen „Ausgangspunkt“ (ebd.), von dem aus sich eine als mühsam erfahrene Fragestellung anders betrachten lasse. Anlässe für Geduld können nach Kuhn im Leben unerwartet auftreten oder eine Routine unterbrechen. Geduld ereigne sich somit als eine Begegnung, die sich verbunden mit Unerwartetem und Ereignissen, Höhen und Tiefen zeige und in einen „Lernprozeß“ (ebd.), den er mit „Das Leben ist so!“ (ebd.) kommentiert, einbinde (vgl. Kuhn 1989, S. 7).
2.3.6.9 Tomáš Halík
Tomáš Halík (geb. 1948, vgl. Halík 2010) diskutiert in seiner Monographie „Geduld mit Gott“ (Halík 2010) die Frage, warum Gott gerade in persönlichen und gesellschaftlichen Krisen – wie es der Atheismus im Kommunismus ihm zufolge darstellt – als nicht erfahrbar erlebt werde. Halík versteht Geduld als Unterscheidungskriterium zwischen dem Glauben und dem Atheismus. Halíks Auffassung nach wirkt Gott oft im Verborgenen und lädt den Menschen dazu ein, mit ihm geduldig zu sein. Dies zeige sich besonders im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe, die er als die drei „Aspekte unserer Geduld mit Gott“ (Halík 2010, S. 10–11) definiert, über die in einer Glaubenskrise der Einfluss Gottes erfahrbar werden könne (ebd.). Die Aufgabe des Priesters sei es, anderen Menschen mit Geduld und Respekt zu begegnen (ebd., S. 29) und sie unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status orientiert am Vorbild Jesu in ihrem Leben und ihrer Suche nach Sinn mit Offenheit in ihren existenziellen Fragen zu begleiten (vgl. ebd., S. 38–40). Am Beispiel der Begegnung von Zachäus und Jesus werde deutlich, dass die Figur Jesu selbst ein Vorbild in Bezug auf Geduld gewesen sei (vgl. Halík 2010, S. 69).
2.3.6.10 Jean-Philippe Toussaint
Jean-Philippe Toussaint (geb. 1957)82 geht von einer Dualität der Kräfte in einem kreativen Prozess des Schreibens aus. Seiner Auffassung nach sind die „Dringlichkeit und die Geduld“ (Toussaint 2012, S. 21–22) die beiden Pole, die einen Schreibprozess maßgeblich bestimmen. Vordergründig scheinen sie nach Toussaint nicht vereinbar zu sein. Dennoch bedingten sie einander und sorgten bei jedem Schriftsteller in unterschiedlicher Gewichtung für die Entstehung eines Werkes. Mit der Dringlichkeit kämen der Antrieb und das Tempo hinzu, die Geduld zeige sich im Durchstehen in zähen Phasen, bringe Langsamkeit und Beständigkeit mit sich, meist zu Beginn und im gründlichen Abschluss des Werkes (vgl. ebd.). Bei Toussaint heißt es: „Alles beginnt und endet beim Schreiben eines Buches mit der Geduld“ (ebd., S. 23). Die Dringlichkeit entspricht ihm zufolge dem aktiven, anstrengenden Eindringen in den abstrakten Ort eines Inneren (vgl. ebd., S. 33). Erreichbar sei sie als Zustand, in dem alles herausbricht und sich von selbst entwickelt, „nur mit unendlicher Geduld“ (ebd., S. 35) und stelle deren Belohnung dar (vgl. ebd.). Die Geduld zeige sich gerade in den Phasen der „Flaute“ (ebd. S. 36–37) des „Nichtvorankommens“ (ebd.), in denen „Ausdauer“ (ebd.), „Zähne zusammenbeißen“ (ebd.) und „Dranbleiben“ (ebd.) gefordert seien.
2.3.7 Zusammenfassung: Geduld im historischen Kontext
Über die genannten historischen Kontexte und persönlichen Lebensbedingungen hinweg werden Veränderungen des Verständnisses von Geduld sichtbar (vgl. Abb. 3: Geduld im historischen Kontext).