Читать книгу Lissabon. Eine Stadt in Biographien - Bettina Winterfeld - Страница 8
ОглавлениеHENRIQUE DE AVIS
1394–1460
Er wurde als Prinz geboren, der nie Monarch werden konnte. Aber er wurde zum König der Meere. Er wurde der legendäre Heinrich der Seefahrer – und sein Portugal die erste Seemacht in Europa.
Wer verstehen will, was die Lissabonner zur Zeit von Henrique de Avis, den alle Welt als Heinrich den Seefahrer kennt, vom Meer hielten, sollte sich einen stürmischen Tag aussuchen und mit der S-Bahn nach Cascais fahren. Kurz hinter dem ehemaligen Fischerdorf liegt die Boca do Inferno, ein von Atlantikwellen zerfressener Felsen. Hier tost die Brandung schon bei normalem Wetter mit bemerkenswertem Groll, doch an windigen Tagen wüten die Wellen so infernalisch, dass man sich vorstellen kann, welche Höllenschrecken das Meer den Menschen im Mittelalter eingejagt haben muss.
Abgesehen davon, dass den Segelschiffen bei Unwettern auf hoher See ganz reale Gefahren drohten, bot der unerforschte Ozean auch eine ideale Projektionsfläche für den Aberglauben. In seinen Tiefen wurden Dämonen und Meeresungeheuer vermutet. Wer wusste schon, was hinter dem Horizont lag? Vielleicht fiel man am Ende in einen furchtbaren Schlund, wenn man unterwegs nicht von Riesenwellen, Monsterkraken oder Seeschlangen in die Tiefe gerissen wurde? Noch war die Erde in der ptolemäischen Vorstellung der Menschen eine Scheibe.
Durch seine lange Küste im Vergleich zum relativ schmalen Hinterland ist Portugal dem Meer stärker als andere Länder ausgeliefert. Hier ist Europa zu Ende. Von Portugals Küste aus gibt es keinen Halt mehr für das Auge, keine Insel, kein Land, nur den Wind, die heranrollenden Brecher und das große Rätsel der Ferne. Was blieb den Portugiesen anderes übrig, als früher oder später dieses Geheimnis zu erkunden?
Henrique sammelt systematisch das Wissen seiner Zeit über alles, was mit dem Meer, der Seefahrt und der Geografie zusammenhängt. Der junge Prinz aus dem Hause de Avis, der am 4. März 1394 in Porto als vierter Sohn von König João I und seiner englischen Frau Philippa of Lancaster zur Welt kommt, kann nicht damit rechnen, jemals den Thron zu besteigen. Also konzentriert er seinen Tatendrang auf die Erforschung des Ozeans, hat ihm doch der königliche Astrologe Großrabbiner Abraham Guedelha schon bei der Geburt vorausgesagt: »Saturn und der im elften Haus stehende Mars bestimmen den Prinzen zu großen und edlen Eroberungen, zur Entdeckung des Unbekannten.«
In seiner systematischen Vorgehensweise und seinem Wissensdrang ist er bereits ein Renaissancemensch. Obwohl er als strenggläubiger Katholik aufwächst und bei seinen Unternehmungen auch von missionarischem Eifer beflügelt wird, verlässt sich der junge Kronprinz nicht allein auf die Kraft des Glaubens.
Im Alter von 21 Jahren begleitet er seinen Vater auf einen Feldzug nach Nordafrika, um dort die arabische Festungsstadt Ceuta einzunehmen. Sie soll den Portugiesen, die zuvor vier Jahrhunderte unter der Herrschaft der Mauren standen, als Brückenkopf gegen ein erneutes Vordringen der Muslime und gleichzeitig als Handelsstation dienen. Für seine kriegerischen Erfolge wird Heinrich zum Herzog von Viseu ernannt.
ER LERNT VON DEN ARABERN
Zunächst interessiert sich Heinrich vor allem für Afrika. Er sammelt alle Informationen über Bodenschätze und Handelsgüter, informiert sich über den Gold-, Elfenbein- und Salzhandel der Karawanen und das geheimnisvolle Königreich Mali. In dessen reicher Metropole Timbuktu haben die Araber mitten in der Wüste eine Bibliothek zusammengetragen, in der damals mehr Wissen über die Welt lagert als in Lissabon. Heinrich kauft alle Karten und nautischen Instrumente, die er finden kann und studiert die Berichte der arabischen Wissenschaftler, die den Europäern damals weit überlegen sind.
Auch die Reisebeschreibungen des Venezianers Marco Polo faszinieren den Prinzen und lassen in ihm den Wunsch keimen, einen eigenen Beitrag zur Erforschung der Welt zu leisten. Wenn es gelänge, einen Wasserweg nach Indien zu finden, könnte Portugal den Venezianern das Handelsmonopol für die Gewürze aus dem Fernen Osten streitig machen. Eine kühne Vision, die allerdings erst nach seinem Tod wahr werden soll.
Doch Henrique ist derjenige, der die Voraussetzungen dafür schafft, dass Portugal als erste europäische Seemacht Geschichte schreiben wird. Sein eiserner Wille treibt das ganze Land an. Er setzt eine Entwicklung in Gang, an deren Ende Europa die ganze Welt als legitime Beute betrachtet und unter sich aufteilen wird.
An der Algarve, deren Gouverneur er ist, schart Dom Henrique im 15. Jahrhundert die besten Astronomen, Astrologen, Kartografen, Mathematiker, Nautiker und Schiffsbauer um sich, unter ihnen auch viele Araber. Sie entwerfen neue und größere Segeltypen und Takelagen, zeichnen Seekarten und studieren die Notizen des muslimischen Forschungsreisenden Ibn Battuta. Sie entwickeln die alten Messinstrumente weiter und erfinden den Sextanten, der ihnen zur Bestimmung der geografischen Breite auf hoher See die Orientierung erleichtern wird.
Inzwischen haben die Portugiesen mit Hilfe der Araber und ihrer Dhaus einen neuen Schiffstyp entwickelt, die Karavelle. Sie ist schneller und manövrierfähiger als andere klobige Boote. Heute staunen die Besucher des Museu de Marinha (Marinemuseum)in Belém darüber, wie klein die Karavellen waren, mit denen sich die Seefahrer auf den stürmischen Atlantik wagten.
Wenn Henrique in Lissabon weilt, dann wohnt er in einem der Paläste seiner Verwandten. Der Prinz lebt sehr zurückgezogen, er scheint auch weder geheiratet noch offiziell Kinder gezeugt zu haben. Auf zeitgenössischen Bildern ähnelt er eher einem Asketen als einem Hochadligen. Auf dem Altar von Nuno Gonçalves im Museu Nacional de Arte Antiga (Museum für alte Kunst) 29 ( ▶ D 6) sieht man ihn inmitten einer Menschengruppe: Mit seinem breitrandigen, schwarzen Hut, die Hände zum Gebet gefaltet.
Das Gesicht wirkt ausgezehrt, der Mund zeigt Strenge und Entschlossenheit. Ein Träumer, ein Zweifler, ein Abenteurer. Ein Mann voller Widersprüche, human, kommunikativ auf der einen Seite, auf der anderen ein strenger, kompromissloser Forscher, der sich selbst und anderen gegenüber keine Gnade kennt.
Henrique ist entschlossen, den legendären Seeweg nach Indien zu finden. Doch um dorthin zu gelangen, muss erst der afrikanische Kontinent umschifft werden. Seine Seeleute umsegeln das Kap Bojador an der Nordwestküste Afrikas, das Ende der damals bekannten Welt. Die Inseln von Madeira und den Azoren werden (wieder-)entdeckt. Nach jeder Reise werden die Karten verfeinert. Er selbst wird nie mehr erleben, wie Bartolomeu Dias das Kap der Guten Hoffnung umsegelt und zum Indischen Ozean vorstößt. Und: So sehr er selbst das Meer und die Seefahrt liebt, so wird er sich doch nie selbst an das Steuer einer Karavelle stellen. Als Königssohn ist es für ihn undenkbar, sich an Bord eines voll gepferchten Schiffs unter die Besatzung zu mischen.
Unzählige Schiffe bleiben damals für immer auf dem Meer. Viele Kapitäne überleben ihren Ruhm als Entdecker oft nur bis zur nächsten Fahrt. Es gibt keine Gewissheit, jemals irgendwo hin und wieder zurück zu kommen. Jeder Zweite bleibt verschollen. Es gibt auch keine genauen Vorstellungen vom Ziel. Nichts kann man präzise vorausberechnen, weder die Route noch das Wetter.
1960 wird zur Feier des 500. Todestag von Henrique am Ufer des Tejo das monumentale Denkmal der Entdeckungen errichtet – das Padrão dos Descobrimentos. Dort steht er wie ein Kapitän am Bug seines Schiffes, hinter ihm die Garde seiner Seeleute. Mit heroischem Gestus demonstriert das Denkmal die Bedeutung der Seefahrt für Portugal.
Als es in Belém feierlich enthüllt wird, reagieren nicht alle mit uneingeschränkter Bewunderung. So mancher Lissabonner reibt sich verblüfft die Augen. Was hält der Seefahrer denn da in seiner Hand? Ein Spielzeug? Viele Bürger spotten über die Darstellung der Karavelle en miniature, die der hochverehrte Prinz wie ein putziges Reisemitbringsel in der Hand hält.
Heinrich stirbt am 13. November 1460 in Sagres an der Algarve-Küste. Er wird in der Grablege der königlichen Eltern und Verwandten im Kloster Batalha etwa 100 Kilometer nördlich der Hauptstadt beigesetzt, doch sein Vermächtnis ist wie ein Gen in das melancholische Lebensgefühl der Menschen an der Tejomündung übergegangen.
DAS MARITIME GEFÜHL LIEGT IN DEN GENEN
Wie tief verwurzelt in Lissabon die Verbundenheit mit dem Atlantik und Henriques maritimer Leidenschaft ist, zeigt sich nicht nur am Hafen, sondern auch im sahneweißen Kopfsteinpflaster der Stadt. An vielen Stellen der Altstadt ist das Pflaster mit einem schwarzen Mosaik von Symbolen des Meeres und der Seefahrt verziert. Auf dem Rossio-Platz schwimmen schwarze Wellen im weißen Kalk, und viele Straßenlaternen in der Altstadt werden von gusseisernen Karavellen gekrönt.
In den 1990er-Jahren versinken die Mythen der Seefahrt sogar tief in den Untergrund. Als die Metro neue Stationen eröffnet, wird die Haltestelle Parque 24 ( ▶ F 1) Heinrich dem Seefahrer gewidmet. Die Künstlerinnen Françoise Schein und Federica Matta haben die ganze Röhre als Kosmos der Entdeckungen dekoriert: Uralte Landkarten, fremde Schriften und Zitate von Philosophen zieren Wände und Decken.
Lissabon und das Meer – eine inspirierende Liaison. Der Schriftsteller José Cardoso Pires sieht seine Heimatstadt als »Stadtschiff« und leitet sein poetisches »Lissabonner Logbuch« mit folgender Hommage ein: »Immer wenn ich das Gefühl habe, die Welt zu umfassen, hoch oben auf einem Aussichtspunkt oder einer Wolke sitzend, sehe ich dich als Stadtschiff, als ein Boot mit Straßen und Gärten, und selbst die Brise, die darin weht, schmeckt salzig.«
METROSTATION PARQUE (HENRIQUE-DARSTELLUNGEN) 24 ▶ F 1
Avenida António Auguste de Aguiar, Parque
▶ Metro: Parque
MUSEU DE MARINHA (IM HIERONYMUSKLOSTER)
Praça do Império, Belém
▶ Tram: Belém-Jerónimos
MUSEU NACIONAL DE ARTE ANTIGA 29 ▶ D 6
Rua das Janelas Verdes, Lapa
▶ Tram: Santos-o-Velho
PADRÃO DOS DESCOBRIMENTOS (HENRIQUE-DENKMAL)
Avenida Brasília, Belém
▶ Tram: Centro Cultural de Belém