Читать книгу Nalanthia - Bianca Maria Panny - Страница 4
-Prolog-
ОглавлениеIn dieser Nacht ließ der Vollmond silberne Lichter über den zugefrorenen See vor dem großen Feenwald tanzen, der bei der Schlacht gegen die finsteren Schalkaane erschaffen worden war. Eine junge Frau hockte rittlings auf der hohen Schlossmauer und ließ eines ihrer Beine über der schwindelerregenden Tiefe baumeln. Es war offensichtlich, dass sie Höhenangst nicht unbedingt zu ihren Schwächen zählte. Ihr verträumter Blick beobachtete das fast schon hypnotisierende Farbenspiel auf der spiegelglatten Oberfläche, die da draußen friedlich in der Ebene lag, und nicht zum ersten Mal fragte die Frau sich, ob jene raubtierhaften Anhänger Melrons tatsächlich tot waren oder noch immer ungeduldig unter der magischen Eisschicht darauf warteten, befreit zu werden. Bei dem Gedanken lief es ihr eiskalt über den Rücken, ein leichtes Zittern nur, das auch der kleinen Libelle auf ihrer rechten Schulter nicht entging.
„Hast du jetzt endlich lange genug in die Sterne geglotzt?“, drang die glasklare Stimme des Tieres genervt an ihr Ohr. „Oder wartest du wieder mal darauf, dass die bösen Monster aus der bösen Tiefkühltruhe uns besuchen kommen?“ Bei so ziemlich jedem Zauberer, dem die Frau auf ihren Streifzügen durch Nalanthia bereits begegnet war, hätten sich die spöttischen Worte ihrer Freundin lediglich nach unverständlichen Zirplauten angehört, während sie selbst jede einzelne Silbe deutlich vernehmen konnte. Es gab Tage, da wäre es für sie eine wahre Freude gewesen, mit ihnen Platz zu tauschen!
„Wir leben nun mal in bösen Zeiten, Plenuspéia“, erwiderte sie ärgerlich darauf. „Da kann man sich ruhig auf grauenerregende Dinge gefasst machen.“
„Nicht, wenn man wie ich noch klar bei Verstand ist“, meinte die Libelle sehr von sich überzeugt. „Jetzt mal ehrlich, Schätzchen, da draußen in dieser Einöde gibt es absolut nichts, was im Moment für uns von Bedeutung wäre. Lass uns lieber zusehen, dass wir von der Schlossmauer verschwinden, bevor sie uns noch beim Herumlungern erwischen.“ Die junge Frau wollte widersprechen, überlegte es sich dann aber anders und hüpfte schließlich von ihrem geliebten Aussichtsplatz herab. Das lange, erdbeerrote Haar, das in den Spitzen von Geburt an dunkelgrün verfärbt war, wehte ihr durch die nächtliche Brise ins Gesicht, doch sie hätte sich lieber die Hände abgehackt, als diese einzigartige Haarpracht nach hinten zu binden.
„Wie kann man nur so eitel sein?“, wollte die Libelle von ihr wissen. Ihre Flügelschläge gingen so schnell, dass sie mit bloßem Auge schon gar nicht mehr zu erkennen waren.
„Sagt die Libelle, die sich viermal am Tag die Flügel putzt.“
„Muss ich ja wohl, wenn meine ach so rücksichtslose Freundin nie lang genug an einem Ort bleibt, um sich sauber zu fühlen.“
„Ach, hör schon auf zu jammern, das hat dir noch nie sonderlich gut gestanden.“
„Ich finde, es steht mir ausgezeichnet.“ Die junge Frau grinste breit, warf noch einen letzten Blick über die Schulter hinaus in die Ferne …und hielt erschrocken inne. Etwas Großes bewegte sich in der sternklaren Nacht durch die Lüfte, warf unheilvolle Schatten auf die vom Mond beschienene Ebene und steuerte geradewegs auf das majestätische Bauwerk auf dem Hügel hinter dem Feenwald zu. Erst bei näherem Hinsehen und nach mehrmaligem Blinzeln erkannte die rothaarige Frau mit lähmendem Entsetzen, was sich da seinen Weg durch die totenstille Finsternis bahnte: Drachen. Pechschwarze, nach Tod und Zerstörung trachtende Drachen, deren gigantische Lungen sich mit Feuer und Asche füllten, um den Wald und das prachtvolle Königsschloss bis auf die Grundfesten niederzubrennen.
*
Immer noch unfähig, sich von der Stelle zu bewegen, starrte die junge Frau auf das flammende Inferno, das wie ein gefräßiges Ungeheuer knackend und knisternd durch den Feenwald jagte, sodass es - hungrig an Bäumen und Sträuchern nagend - das endlose Grün in seiner unersättlichen Gier gänzlich zu verschlingen drohte. Erst, als die beängstigend schwarzen Drachen - es waren drei - mit ihren gewaltigen Schwingen direkt über die Schlossmauer hinwegflogen und ihr feuriger Atem die stolz emporragenden Türme zum Einsturz brachte, befreiten die darauf folgenden Schreie die rothaarige Abenteurerin endlich aus ihrem tranceartigen Zustand. Mit einem uneleganten Hechtsprung zur Seite schaffte sie es gerade noch rechtzeitig, den herabstürzenden Gesteinsbrocken auszuweichen, die sie sonst unweigerlich mit sich in die Tiefe gerissen hätten.
„Ich dachte schon, du setzt deinen Hintern nie in Bewegung!“, zischte die Libelle ungeduldig. „Los, mach schon, Vilette, wir müssen hier weg!“ Die junge Frau, Vilette, sah ihre Freundin ungläubig an. „Und was ist mit den anderen? Wir können den König doch nicht einfach so im Stich lassen!“
„Willst du dich lieber zu einem Haufen knuspriger Asche verbrutzeln lassen, oder was? Es sind Drachen, Vilette, gegen die können wir im Moment gar nichts ausrichten!“ Doch die junge Frau hörte schon nicht mehr zu, rappelte sich mühsam auf die Beine und rannte los, immer weiter die steinernen Stufen hinab, die von den hohen Schlossmauern ins Innere führten. Panik war in den unzähligen Gängen und Fluren ausgebrochen, auf denen vor Angst kreischende Bewohner sich auf ihrem Weg zu den großen Schutzkammern tief unterhalb des königlichen Bauwerks rücksichtslos über den Haufen rannten. Einige tapfere Krieger im Dienste des Königs wiederum hatten sich, wie Vilette durch eines der großen Rundbogenfenster erkennen konnte, auf die Aussichtsposten im Schatten zweier noch heil gebliebener Türme begeben, um den gefährlichsten Kreaturen ganz Nalanthias mit Pfeil und Bogen den Kampf anzusagen. Es wurde jedoch schnell klar, dass die gewöhnlichen Pfeile der königlichen Waffenkammern nicht viel gegen die mit Schuppen gepanzerte Drachenhaut ausrichten konnten. Um überhaupt eine Chance gegen diese feuerspeienden Ungeheuer zu haben, hätten sie die beeindruckende Treffsicherheit und auch die speziell angefertigten Pfeile der Feen gebraucht, doch die waren, wie Vilette wusste, gerade in einem ganz anderen Teil Nalanthias zugange. Nicht ahnend, dass in diesem Augenblick ihr geliebter Heimatwald lichterloh in Flammen aufging. Ein Ausruf des Entsetzens entfuhr ihrer Kehle, als die rothaarige Frau hilflos dabei zusehen musste, wie plötzlich ein Schwall dickflüssigen, vor unsäglicher Hitze dampfenden Pechs auf zwei Krieger auf einem der Aussichtsposten herabregnete und ihre schmerzvollen Schreie in Sekundenschnelle erstickte. Der Hals des Drachen hatte sich dabei gefährlich weit aufgebläht, die Schuppen einen noch tieferen Schwarzton angenommen. Dann war Feuer also nicht das Einzige, was diese Ausgeburten der Hölle speien konnten, dachte Vilette vor Wut kochend. Wenn sie diesen Melron und seine erbärmlichen Handlanger jemals in die Finger bekam...
„Vorsicht!“ Ein gewaltiger Kronleuchter aus funkelnden Juwelen wurde von dem Beben einstürzender Wände aus seiner Halterung hoch oben an der Decke gerissen, kam im nächsten Moment auf sie zugerast und krachte mit einem unangenehm lauten Splittern genau auf die Stelle, auf der die junge Frau soeben noch gestanden hatte. Bei ihrem Sprung zur Seite wäre sie fast in einem Haufen messerscharfer Glasscherben gelandet - eine Vorstellung, die sie nicht gerade glücklich stimmte. Das letzte, was sie beim ersten Drachenangriff seit Jahrhunderten gebrauchen konnte, war die Tatsache, aus Tollpatschigkeit von etwas so Gewöhnlichem wie kaputte Fensterscheiben aufgespießt zu werden. Das wäre ja geradezu lächerlich gewesen!
„Danke“, brachte sie mühevoll heraus, doch ihre geflügelte Freundin wartete am Ende des Flurs wohl schon eine ganze Weile darauf, dass sie - wie die Libelle es auszudrücken pflegte – endlich ihren bequemen Hintern in Bewegung setzte. Sie glaubte sogar, ein überaus genervtes Augenrollen erkennen zu können.
„Schon gut, schon gut!“, brummte Vilette leise, kam schließlich mit wankenden Schritten vorwärts und versuchte angestrengt, nicht jedes Mal gleich zusammenzuzucken, wenn das Echo markerschütternder Schreie aus den fernen Hallen des Schlosses von den Wänden widerhallte. Fensterscheiben wollten nicht aufhören zu bersten, alles verzehrendes Feuer nicht aufhören zu wüten, und als Vilette - wieder in Begleitung ihrer Libelle - atemlos um die nächste Ecke hechtete, kam sie nur mit Mühe schlitternd wieder zum Stehen, um nicht mit voller Wucht in den sichtbar erschrockenen König Nalanthias hineinzudonnern.
„Vilette, meine Liebe, dem Himmel sei Dank!“, stieß der bereits ergrauende Herrscher des Königreiches erleichtert aus.
„Als ich hörte, du wärst wahrscheinlich oben auf der Schlossmauer, da…“ Das ohrenbetäubende Brüllen eines Drachen, dem sich gerade ein mächtiger Speer tief in die linke Flanke gebohrt hatte, ließ das zur Hälfte vollkommen zerstörte Bauwerk erbeben und schnitt dem König augenblicklich das Wort ab. Dem Zauberer, der die tödliche Waffe mit einer Speerschleuder abgefeuert hatte, blieb jedoch nicht allzu viel Zeit, sich über diesen kleinen Triumph zu freuen und stolz die kräftige Brust hervor zu recken, da einer der anderen Drachen ihn bereits für eine weitere Ladung klebrigen Pechs ins Visier genommen hatte. Schnell wandte Vilette sich wieder ihrem König zu, und erst jetzt fiel ihr sein glänzender Brustpanzer auf, in den das königliche Wappen Nalanthias eingeprägt war. Auch ein beachtlich großes Schwert fehlte nicht in seiner Hand…er hatte offenbar ebenfalls vor, sich nach draußen zu begeben und den Drachen mit einem allmächtigen Schwertpiekser Gute Nacht zu sagen. Ganz blöde Idee, dachte die rothaarige Frau bei sich.
„Unser Kommunikationszentrum wurde komplett zerstört“, informierte der König sie grantig. „Bis wir wieder mit den Feen in Hollundis Kontakt aufnehmen können, ist es wahrscheinlich längst zu spät, um dieses Schloss lebend zu verlassen. Und dann noch die Sache mit dem alljährlichen Feenball!“ Frustriert schlug sich der König eine Hand vor die Stirn. Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht wie Sprünge in einer Glasscheibe.
„Ich habe jemanden nach unten geschickt, zwei Zauberer“, fuhr er schließlich fort. „Um die magischen Schutzwälle dieses Bauwerks zu aktivieren, doch sie sind noch nicht wieder aufgetaucht und haben ihr Ziel wohl gar nicht erst erreicht, wie man sieht. Vilette, du bist eine fähige Kämpferin, vielleicht schaffst du es ja, lebendig zu den heiligen Artefaktsälen vorzudringen und das dämliche Ding in Gang zu bringen, damit wenigstens eine dieser kläglichen Mauern stehen bleibt.“ Sein flehentlicher Blick ließ keinerlei Widerspruch zu, also nickte sie rasch.
„Bin schon so gut wie unterwegs, eure Hoheit“, rief Vilette beim Laufen über die Schulter, nachdem sie sich unverzüglich in Bewegung gesetzt hatte. „Ihr solltet Euch lieber mit den anderen in Sicherheit bringen!“, fügte sie dann noch hinzu.
„Unsinn!“, schrie der König wild entschlossen über den Lärm hinweg. „Diesen pechspeienden Monstern werde ich noch das freche Grinsen aus der Visage schneiden!“
*
Und wieder einmal rannte Vilette, rannte so schnell, als wäre eine Horde zum Leben erwachter Schalkaane hinter ihr her, die sie so oft in ihren Träumen verfolgt hatten. Für die junge Frau kam es in letzter Zeit entschieden zu oft vor, dass sowohl ihr Schatten als auch ihre Libelle scheinbar beträchtliche Schwierigkeiten hatten, ihr zu folgen. Plenuspéias heftiges Schnauben bestätigte schon bald ihre Vermutung. Doch sie durfte nicht langsamer werden. Es waren unverschämt viele Stufen bis hinab zu den Artefaktsälen, und das gesamte Bauwerk drohte jede Sekunde in sich zusammenzustürzen und sie lebend unter sich zu begraben. Nicht gerade das rühmliche Ende, das sie sich vorgestellt hatte.
„Ich krieg gleich einen Herzkasper, wenn du nicht einen Gang runterschaltest!“, keuchte Plenuspéia vorwurfsvoll.
„Es sind schließlich keine zum Leben erwachten Schalkaane hinter dir her!“ Vilette konnte sich bei ihren Worten das Grinsen nicht verkneifen, streckte dann aber wortlos die Hand nach ihr aus und die Libelle schaffte es mit ein paar letzten Flügelschlägen, sich darauf niederzulassen, um anschließend auf der Schulter der Frau Platz zu finden. Das Tier wippte beim Laufen wild auf und ab. Und es gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Warte nur, bis ich mal wieder zu meiner zehnfachen Größe emporgewachsen bin“, warnte Plenuspéia sie vor, doch Vilette schüttelte nur den Kopf, während sie die restlichen Stufen der nicht enden wollenden Wendeltreppe hinabstolperte und sich heftig nach Atem ringend an einer der kalten Steinwände abstützte.
„Komm ja nicht auf dumme Gedanken“, brachte sie mühsam heraus. „Du wärst ein viel zu leichtes Ziel für die Drachen und für was immer in diesem Schloss heute sonst noch an feindlichem Gesindel rumläuft.“
„Ich würde ihnen schon zeigen, wo’s langgeht“, widersprach die Libelle leise. Sie flüsterten jetzt, denn sie hatten inzwischen die Gänge zu den heiligen Artefaktsälen erreicht - einen Ort, der allein durch seine unscheinbare, geheimnisvolle Atmosphäre zu ehrfürchtigem Schweigen gebot. Rote Teppiche zierten die engen Flure, an den Wänden brannten nie verlöschende Fackeln. Die ungemeine Zerstörungslust von Melrons Drachen hatte sich zum Glück noch nicht bis hier nach unten gewagt. Es handelte sich schließlich auch um einen besonders geschützten Teil des Schlosses; die gedämpften Schreie jener Zauberer, die es noch nicht bis in die Schutzkammern geschafft hatten oder es mutigen Herzens mit den schwarzen Bestien aufnahmen, drangen längst nicht mehr zu ihnen durch. Vilette fand diese Stille regelrecht unheimlich.
„Wir müssen das Siegel brechen, das die magischen Schutzwälle in Gang setzt“, wisperte sie, als sie mit ihrer Libelle so geräuschlos wie möglich einen der Hauptflure entlangeilte. „Wenn du was Verdächtiges siehst, dann…“
„So wie das hier?“ Die rothaarige Frau blieb wie angewurzelt stehen, als sie sah, was ihre Freundin gemeint hatte. Sie befanden sich nun direkt vor einem der größeren Artefaktsäle, in welchem nicht nur eine ganze Reihe der wertvollsten und beeindruckendsten Waffen vergangener Könige seit Jahrhunderten vor sich hin schlummerten, sondern auch das in einem warmen und überaus kräftigen Rot pulsierende Siegel in der stolzen Form des königlichen Wappens schweigsam darauf wartete, aktiviert zu werden. Aufgrund der ungemeinen Menge an magischer Energie, die jene Schutzwälle des Bauwerks benötigten, durften sie nur in absoluten Notfällen eingesetzt werden. Vilette bezweifelte stark, dass irgendetwas einen Drachenangriff auf das Königsschloss Nalanthias würde toppen können. Als die rothaarige Frau an diesem unglücksverheißenden Abend jedoch vor dem Eingang zu eben jenem Artefaktsaal stand, war ihr starrer Blick nicht auf das leuchtende Siegel in der hinteren Wand gerichtet, sondern auf die beiden toten Zauberer, die unmittelbar über der Schwelle lagen, die Gesichter vor Angst und Schrecken verzerrt. Die herrlich verzierten Flügeltüren waren brutal aus den Angeln gerissen und weit ins Innere der Kammer geschleudert worden, und erst jetzt bemerkte Vilette in ihrer zunehmenden Fassungslosigkeit, dass das Blut der zwei Toten sich mit einer beträchtlichen Menge an Wasser mischte, das sich auf unerklärliche Weise unter ihnen gesammelt hatte. Während Vilette immer noch aus diesem Anblick schlau zu werden versuchte, nahm sie aus den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung wahr und schaffte es gerade noch, sich in die bedrückende Dunkelheit des großen Artefaktsaales zu flüchten, die einzig und allein durch das Siegel in ein intensives Rotlicht getaucht wurde. Sie fluchte leise, als sie dabei fast über die beiden toten Zauberer gestolpert wäre, die der König bereits vor einer Ewigkeit hier herunter geschickt hatte. Vorsichtig wagte die junge Frau einen Blick um die Ecke und konnte gerade noch das wehende Ende eines dunkelblauen Umhangs erkennen, das am anderen Ende des Flures in einem der unzähligen Säle verschwand: die königliche Schatzkammer. Vilette runzelte verwirrt die Stirn. Was zum Teufel ging hier bloß vor sich?
„Kümmere dich um das Siegel, los!“, wisperte sie schließlich der Libelle auf ihrer Schulter zu.
„Da vorne schleicht jemand herum, der hier absolut nichts zu suchen hat, und ich muss wissen, wer das ist.“
„Aber Vilette, nur mit Magie erfüllte Wesen sind dazu in der Lage, das Siegel…“
„Du bist eine sprechende Libelle, die sich auf Kommando zu ihrer zehnfachen Größe heranwachsen lassen kann“, unterbrach die Frau das Tier ungeduldig. „Wenn du kein durch und durch magisches Wesen bist, weiß ich auch nicht. Los, mach schon, wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Leise vor sich hin brummend flatterte Plenuspéia auf das stechend rote Siegel an der Wand zu, doch Vilette sah ihrer Freundin nicht nach, sondern begab sich mit einem einzigen Satz zurück auf den Flur. Im Gehen brachte die rothaarige Frau in einer eleganten Bewegung - die hier unten allerdings niemand würdigen konnte - ihre Lieblingswaffe zum Vorschein: einen langen, aus edelster Bronze gefertigten Degen, der mit seiner hauchdünnen Klinge federleicht in der Hand lag und dennoch so scharf war, dass er mit einem einzigen Hieb das Fleisch von den Knochen trennen konnte. Vilette war schon immer der Meinung gewesen, dass es die perfekte Waffe im Kampf gegen das Böse war. Mit einem mehr als unguten Gefühl im Bauch musste sie sehr bald feststellen, dass auch die restlichen Eingänge zu den jeweiligen Artefaktsälen mit ungeheurer Gewalt demoliert worden waren und die dahinter liegenden Kammern ebenfalls zentimetertief unter Wasser standen. Ganz so, als hätten sich gewaltige Flutwellen gegen das prachtvolle Holz geworfen und es mit ihrer tosenden Stärke mühelos zu Fall gebracht. Vilettes Stiefel machten platschende Geräusche auf dem völlig durchnässten Teppich. Sämtliche ihrer Muskeln waren angespannt, als sie sich mit gezücktem Degen auf die riesige Schatzkammer im tief verborgenen Herzen des Schlosses zubewegte. Darauf bedacht, nur ja kein verdächtiges Geräusch zu machen - abgesehen von dem leisen Platschen ihrer Schuhe natürlich - drückte sich Vilette in den Schatten des mächtigen, sie weit überragenden Türstocks und schaute in die Kammer hinein. Und als ihr Blick auf den großen, hageren Zauberer im nachtblauen Umhang fiel, der mit einem teuflischen Funkeln in seinen Augen im Zentrum von fünf kreisförmig aufgestellten Glasvitrinen stand, packte Vilette unbeschreibliches Entsetzen, da sie mit einem Mal wusste, was hier eigentlich gespielt wurde. Die Drachen waren ein Ablenkungsmanöver!
Während mehrere Stockwerke über ihnen die Bewohner des Königreiches um ihr Leben kämpften, sollte hier unten im Verborgenen ein Diebstahl stattfinden, der noch weit schwerwiegendere Folgen für die Zukunft des Landes haben würde. Sie erkannte den Eindringling von alten Gemälden und aus Erzählungen sofort wieder. Ein Mann, der es ganz offensichtlich auf die legendären gläsernen Reliquien abgesehen hatte! Vilette umklammerte den Griff ihrer tödlichen Waffe fester, um ihm im nächsten Moment die Klinge des Degens mit all ihrem Hass in seinen ihr zugewandten Rücken zu rammen, als auch schon eine Druckwelle aus purer, rötlich flimmernder Magie durch die Flure fegte, die junge Frau mit Wucht von den Füßen riss und sie mitten hinein in die Kammer schleuderte. Das Siegel, dachte sie im Stillen bei sich, und ein kleiner Funken Hoffnung erfüllte Vilette. Allerding war es kein Funken Hoffnung für ihr eigenes Wohlergehen, als Hyphairon, der letzte Wächter des Wassers und gefürchtetster Verräter Nalanthias, schäumend vor Wut zu ihr herumwirbelte, nachdem er nur mit Mühe wieder zurück auf die Beine gekommen war. Die spezielle Beschaffenheit der hier unten verwendeten Türen hätte das Innere der Schatzkammer zuverlässig vor den magischen Entladungen, die nun überall spürbar in der Luft knisterten und von der raschen Ausbreitung der Schutzwälle herrührten, geschützt. Ohne ein derartiges Hindernis jedoch, hatten sie die den stolzen Mittel-punkt des Saales bildenden Glasvitrinen in Sekundenschnelle zum Bersten gebracht, und der Zauberer im blauen Umhang war fluchend in einem lauten Scherbenregen zu Boden gegangen. Blut lief ihm aus mehreren Schnittwunden über Schläfen und Wangen herab. Er sah alles andere als glücklich aus. Wahrscheinlich dachte er gerade voller Vorfreude daran, ihr den dürren kleinen Hals umzudrehen.
Doch die Gelegenheit würde er von ihr bestimmt nicht bekommen.
„Keinen Schritt weiter, oder du machst gleich mit dem Ende dieses Degens Bekanntschaft!“, zischte sie wütend und versuchte dabei ihre Stimme nicht allzu brüchig und unsicher klingen zu lassen. Sie fragte sich, ob sie auch nur den Hauch einer Chance gegen ihn hatte. Der Handlanger Melrons lachte schallend.
„Na wenn das nicht das rothaarige Miststück ist, das kein richtiges Zuhause mehr hat“, meinte er höhnisch, „weit weg von Freunden oder Verwandten. Verstoßen von seinem eigenen Volk. Wie du siehst, habe ich schon einiges von dir gehört, Halbfee.“
„So wie ich von dir, du verräterische kleine Ratte!“ Wieder schallendes Lachen.
„Sag, was ist das für ein Gefühl, nicht zu wissen, wo man eigentlich hingehört, Rotschopf?“, verspottete der Zauberer sie weiter. „Was ist das für ein Gefühl, als einzige deiner Art keine Flügel zu haben?“ Bebend vor Wut ging Vilette noch einen Schritt auf ihn zu. Er kam nicht einmal mehr zum Blinzeln, da schwebte die Klinge ihres Degens auch schon gefährlich nah an seiner Kehle in der Luft. Eines musste sie ihm lassen: er schien nicht einmal mit der Wimper zu zucken.
„Hat dir Melron nicht beigebracht, dass man bewaffnete junge Frauen wie mich besser niemals provozieren sollte, wenn man nicht plötzlich ohne Kopf durch die Gegend rennen will?“, fragte sie ihn herausfordernd. „Wenn Wasser wirklich das Einzige ist, womit du mir Angst einjagen willst, gib es lieber gleich auf. Ich finde es immer so schrecklich peinlich, wenn unfähige Witzfiguren wie du versuchen, mit gestohlenen Zauberkunststückchen anzugeben.“ Die beiden Dolche kamen so plötzlich und unerwartet auf ihr Gesicht zu geschnellt, dass der jungen Frau beinahe ein entsetztes Aufkeuchen entwichen wäre, als sie taumelnd vor ihrem Angreifer zurückwich. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass er sie überhaupt unter seinem tiefblauen Umhang hervorgeholt hatte, in tückischer Grausamkeit den passenden Moment abwartend, ihr mit nur einem Streich die Kehle durchzuschneiden. Spitzenleistung, Vilette, schalt sie sich im Gedanken selbst. Einfach immer schön so weiterquasseln, während dein Gegner längst darüber nachdenkt, was er dir als nächstes an tödlichem Firlefanz an den Schädel schmeißt! Diese Vorgehensweise hat garantiert bisher noch jeden tapferen Krieger am Leben erhalten. Fluchend riss Vilette ihren kupferbeschlagenen Degen hoch, als der ehemalige Wasserwächter höllisch grinsend etwa ein halbes Dutzend weitere kleinere Wurfgeschosse aus seinem silbernen Gürtel hervorholte, die sogleich eines nach dem andern sirrend auf sie zugeflogen kamen, die teuflische, nicht zu bestreitende Absicht verfolgend, sie direkt in ihr wild pochendes Herz zu treffen. Die meisten von Hyphairons Würfen waren jedoch schlecht gezielt, sodass Vilette die heransausenden Stahlklingen mit beneidenswertem Geschick und der ihr angeborenen Raffinesse mühelos abwehren konnte. Glasscherben knirschten laut unter den Sohlen ihrer Stiefel, als die furchtlose Kriegerin mit berechnender Vorsicht um ihren höllisch wütenden Gegner herumtänzelte, seine nun waffenleeren Hände keine Sekunde mehr aus den Augen lassend. Ein gigantischer, wild um seine eigene Achse kreisender Wasserball begann plötzlich auf einen - so schien es - bloßen Gedankenbefehl hin wie aus dem Nichts zwischen ihnen in der Luft zu entstehen. Selbst unter allergrößter Willensanstrengung wollte es Vilette einfach nicht gelingen, ihre von blankem Entsetzen gezeichneten Blicke von jenem magischen Ding der Unmöglichkeit abzuwenden. Erst recht nicht, als es mehr und mehr die Gestalt eines sie auf grausamste Weise fixierenden Drachenkopfes annahm, dessen blaugrün schimmernde Schuppen aus fließendem Wasser so lebensecht auf sie wirkten, dass die rothaarige Kriegerin für einen kurzen Moment tatsächlich erwartete, jeden Augenblick von einer dem enorm großen Rachen entsteigenden Feuerbrunst verschlungen zu werden. Auch diese Gelegenheit würde dieser Feigling von ihr nicht bekommen, dachte Vilette grimmig, ehe sie all ihrer Wut und dem kaum noch zu steigernden Hass auf Melrons verräterischen Handlanger endlich freien Lauf ließ und diese in Verbindung mit ihren einzigartigen magischen Fähigkeiten rasend und unaufhaltsam an die Oberfläche hervorbrachen. Hellgrünes Licht begann in den Spitzen ihrer mit einem Mal wild durch die Luft peitschenden Haare zu zucken, ehe die so unheimlich pulsierenden, erdbeerroten Locken sich wie giftige Schlangen um den Kopf der jungen Halbfee wanden und schließlich den mehr als beunruhigten Zauberer im blauen Umhang bluttrachtend ins tödliche Visier nahmen. Fluchend verlor Hyphairon die Kontrolle über sein der Wassermagie entsprungenes Drachenwesen, als er bei einem schlecht geplanten Hechtsprung zur Seite beinahe über seine eigenen Füße gestolpert und gegen die kläglichen Überreste einer mit feinen Goldverzierungen versehenen Glasvitrine der ersten Könige gekracht wäre. Grüne Blitze schossen aus jenen nun schlangenähnlichen Enden Vilettes elektrisierend leuchtender Haarpracht hervor auf Melrons verabscheuungswürdigen Handlanger zu und tauchten die vom magischen Schutzsiegel halb verwüstete Artefaktkammer in einen Schauplatz eines unvergleichlichen, smaragdgrünen Feuerwerks. Sein schützend vor sich gehaltener Umhang vermochte lange nicht alle dieser elektrisch knisternder Blitzlichter von Hyphairon fernzuhalten, und ein markerschütternder Schmerzensschrei erfüllte die unterirdische Schlosskammer, als der hinter dem mit rauchenden Brandlöchern bereits völlig übersäten Stoff verborgene Zauberer von einem höllisch brennenden Lichtblitz an der linken Seite seines Halse getroffen wurde. Selbst seine fest auf jene Stelle gepresste Handfläche vermochte es kaum, den sich rasch darunter ausbreitenden, ekelhaft grün schimmernden Ausschlag vor Vilettes höchst zufriedenen Blicken zu verbergen. Wie eine schuppige, zweite Haut schien er sich bereits bis knapp unter den eleganten Hemdkragen des ehemaligen Wasserwächters hinab zu schlängeln und sich mit der unerträglichen Hitze flüssig gewordenen Feuers in ihn hineinzufressen. „Was hast du mit mir gemacht?!“, kreischte der Zauberer hysterisch. „Was hast du mir da gerade angetan, du jämmerliche, wertlose Halbfee?!“
„Die gerechte Strafe für eine fiese Schlange, würde ich mal sagen“, erwiderte Vilette, ohne im Geringsten Mitleid zu zeigen. Die sonderbaren Kräfte ihrer Haare waren erst mal für eine ganze Weile aufgebraucht, doch schien Melrons kleiner Speichellecker bereits bekommen zu haben, was er verdiente. Der tödlich funkelnde Blick des berüchtigten Verräters wiederum sagte der schönen Kriegerin deutlich, dass er noch längst nicht bereit war, sich geschlagen zu geben.
„Dafür wirst du noch heute mit deinem Leben bezahlen, Kleine!“, fauchte Hyphairon außer sich. „Ich schwöre dir, du wirst es noch früh genug bereuen, dem tosenden Drachenfeuer dort oben entronnen zu sein.“ Er hatte die Drohung kaum zu Ende gesprochen, da baute sich vor ihm auch schon eine gewaltige Wasserwand brausend wie der tückischste Teil eines riesigen Wasserfalles auf, dessen silbrig glänzendes Inneres aufgrund der plötzlich verschwundenen Messer und Glasscherben, die nur wenige Sekunden zuvor den gesamten Fußboden bedeckt hatten, absolut nichts Gutes verheißen konnte. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen sah Vilette das wellenschlagende Konstrukt tödlich ausgerichteter Magie so ungemein schnell auf sich zurasen, dass sie kaum noch einen vernünftigen Gedanken fassen konnte. Die Arme in einem letzten verzweifelten Akt schützend um ihr Gesicht geschlungen, wurde die rothaarige Kriegerin schließlich samt Degen von der enormen Wucht schneidenden Wassers nach hinten geworfen, wobei ihr unzählige darin lauernde Glassplitter die makellose Haut an Armen und Händen aufschürften. Die junge Halbfee hätte schon beinahe erleichtert aufgeatmet, als kein einziges von Hyphairons dolchartigen Messern sie trotz gefährlichen Nahekommens tödlich zu verletzen vermochte, da spürte sie auch schon einen heftig pochenden Schmerz in ihrer linken Seite, der ihr einen hilflosen Aufschrei entlockte und für einen kurzen Augenblick gänzlich die Sicht zu nehmen drohte. Warmes Blut strömte ihr durch die Finger, als sie die Hand auf die Stelle ihrer langärmeligen, blauen Tunika legte, wo das Messer dieses Verräters sich beunruhigend tief durch den Stoff in ihre Hüfte gebohrt hatte. Hyphairons selbstzufriedenes Grinsen verschwamm vor dem tränenreichen Schleier ihrer Augen, als sie ihn - schwer verwundet und keuchend am Boden liegend - dabei beobachtete, wie er sich die fünf gläsernen Reliquien aus den zerbrochenen Vitrinen schnappte, sich in den tiefblauen Samt seines versengten Umhangs hüllte und unter aufsteigenden Wasserfontänen einfach aus der Schatzkammer des Königsschlosses verschwand.
„Vilette! Oh mein Gott, Vilette, jetzt sag schon was! Kannst du mich hören? Vilette!“ Ein riesiger Schatten senkte sich über der jungen Frau herab, als die zur vollen Größe herangewachsene Libelle ihre meterlangen Beine vorsichtig um ihre schwer verwundete Freundin legte, die mit jedem schmerzhaft stechenden Atemzug fieberhaft dagegen ankämpfte, das Bewusstsein zu verlieren. Die durchfluteten Gänge der legendären Artefaktsäle verschwammen zunehmend zu einem undefinierbaren Gebilde grenzenlosen Chaos zusammen, als Plenuspéia sich mit Vilette in den schützenden Insektenarmen einen Weg zurück in die obersten Geschosse des königlichen Herrschaftssitzes bahnte, herabregnenden und lichterloh in Flammen stehenden Holztrümmern auswich und schließlich ohne die geringste Spur eines Zögerns eines der riesigen, immer noch intakten Bogenfenster in einem alles übertönenden Scherbenregen durchstieß, im rasch dahingleitenden Flug über das höllische Inferno des Feenwaldes keine einzige Sekunde innehaltend. Den beißenden Gestank von Rauch in der Nase, das schmerzhafte Bild von Tod und Verderben vor Augen, ließen die beiden Verfechter Nalanthias das nun blutrot pulsierende Bauwerk wie einen albtraumhaften Schatten weit hinter sich.
***
Glühend wie feuriges Lavagestein ragten die tiefschwarzen Mauern der gewaltigen Festung in die alles bedrohenden Schatten des Himmel empor, als das blutrote Licht der aus dem Tiefschlaf erwachten Vulkane von deren glatt geschliffener Oberfläche reflektiert wurde. Ihren heftig brodelnden Herzschlag offenbar kaum noch unter Kontrolle bringend, schossen jene temperamentvollen Naturphänomene in unregelmäßigen Abständen aus den aschebedeckten Ebenen des kargen Ödlandes hervor, das der finsterste Zauberer Nalanthias schon vor Jahren zu einem ewigen Sitz unübertrumpfbarer Macht erkoren hatte. Schauderhaft geformte Silhouetten unzähliger, wild tobender Bestien zuckten wie wahnsinnig gewordene Steinmuster über die höhlenartigen Felswände endloser Hallen, wo jene grauenvollsten Ungeheuer aus dem Norden des Landes zügellos und unter höllischem Gebrüll aufeinander losgingen, um für die bevorstehende Eroberung der Welten ihren niemals erlöschenden Kampfgeist zu stärken. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie dem Ruf ihres herzlosen Meisters folgen würden, voller Ungeduld einer äußerst verlockenden Zukunft entgegenblickend, in der sie sich nie mehr in ihren aschedurchtränkten Löchern würden verkriechen müssen. Die unermesslichen Weiten Nalanthias würden schon sehr bald ihnen gehören, jedes Anzeichen von friedlichem Leben wie Staub durch ihre klauenbesetzten Pranken rieseln. Nicht umsonst hatte Melron sich diese Armee der Hölle bis ganz zum Schluss aufgehoben. Und jetzt, da sein mächtiger Stab der Verdammten sogar über die lang verschollenen Pechdrachen befehligte, konnte der Verwirklichung seiner erschreckend eigennützigen Pläne absolut nichts mehr im Wege stehen. All das kümmerte dessen vor Schmerz kaum noch aufrecht stehenden Handlanger im Augenblick nur wenig, als der ehemalige Wächter des fernen Königreiches schwankend und schweißgebadet durch die Türflügel hinein in den riesigen Thronsaal der schwarzen Festung taumelte, dessen kältedurchzogene Atmosphäre selbst den finstersten Grüften jahrhundertelang verfallener Ruinen alle Ehre gemacht hätte. Mit einem entnervend schadenfrohen Grinsen drehte sein Meister sich mit wehendem Umhang zu dem am Türpfosten lehnenden Zauberer um, dessen Zustand sich inzwischen sichtlich verschlimmert hatte.
„Erlaubt mir die Bemerkung, werter Hyphairon, dass ihr heute ganz besonders schlecht ausseht. Wie wär’s mit einem schönen Schlückchen Tee, um die gereizten Nerven zu beruhigen? Ich frage mich schon die ganze Zeit, was eigentlich mehr wehgetan hat: das qualvolle Zersetzen menschlicher Haut, oder die Schande über Euren nun auf ewig verletzten Stolz?“
„Ich bringe sie um“, knurrte Hyphairon wütend, die Sticheleien seines Gegenübers gekonnt ignorierend. „Ich prügle dieser verfluchten Halbfee eigenhändig die Seele aus dem Leib!“
„Nun, ich denke, derart drastische Maßnahmen werden fürs erste gar nicht erst nötig sein“, erwiderte Melron gelassen. „Ihr habt die gläsernen Reliquien beschafft, das ist alles, was im Augenblick eine Rolle spielt. Hättet Ihr dabei nicht so viel Zeit darauf verschwendet, Euch mit einer vorlauten, kleinen Möchtegernkriegerin anzulegen, wäre mir der so überaus unästhetische Anblick Eurer schlangenhaften Visage vielleicht erspart geblieben.“ Der Zauberer im blauen Umhang knirschte vernehmlich mit den Zähnen, als er nur mühsam das rasch in ihm aufsteigende Verlangen bekämpfte, seinem immer noch lächelnden Meister für diese bodenlose Frechheit an die Gurgel zu gehen. Für einen gefürchteten Verräter und allzeit treuen Speichellecker gehörte sich so etwas schließlich nicht. Seine Finger in das höllisch juckende Geflecht hellgrün schimmernder Schuppen an seiner linken Halsbeuge gekrallt, nahm er augenblicklich eine aufrechtere Haltung ein. Es gab hier für ihn immerhin einen gewissen Ruf zu verlieren.
„Und was genau habt Ihr jetzt damit vor, Meister? Zugegeben, diese Festung könnte durchaus den einen oder anderen glänzenden Gegenstand vertragen, dennoch wage ich zu glauben, dass Ihr mich vermutlich nicht nur für eine kitschigere Inneneinrichtung in die Höhle des Löwen geschickt habt.“
„Da liegt Ihr vollkommen richtig, Hyphairon, denn Ihr habt mit diesem Diebstahl nicht weniger als den endgültigen Untergang unseres Feindes besiegelt. Also, warum lehnt Ihr Euch mit mir nicht einfach zurück und genießt die Show, während sämtliche sich mir widersetzende Dummköpfe da draußen in einem herrlichen Chaos tödlichen Verrats versinken? Das heißt, solange Eure Vergiftung derartige Vergnüglichkeiten überhaupt noch zulässt.“
„Könnt Ihr denn gar nichts dagegen tun, Melron? Ich flehe Euch an, tut etwas dagegen! Ich bin nicht bereit, so kurz vor unserem Ziel das Zeitliche zu segnen, schon gar nicht, bevor ich den Kopf dieses flügellosen Rotschopfs als Trophäe an meiner Wand platziert habe! Nie habe ich an Euren Fähigkeiten gezweifelt, habe stets einer glorreichen Zukunft mit Euch an unserer Spitze entgegengesehen.“ Der Zauberer zog zischend die Luft ein, als eine weitere heftige Schmerzwelle durch das erschreckende Grün seines Halses jagte. Mit zittrigen Händen wischte er sich den eiskalten Schweiß von der Stirn. „Soll das etwa am Ende der Lohn meiner jahrelangen treuen Dienste für Euch sein?“
„Für jemanden, der einst seine besten Freunde kaltblütig im Glauben seines qualvollen Todes gelassen und sie hinterher auch noch rücksichtslos an meine Wenigkeit verraten hat, stellt Ihr reichlich viele Forderungen an andere, mein lieber Hyphairon“, sagte Melron schmunzelnd und trat aus dem Schatten des Saales auf seinen treu ergebenen Handlanger zu. Für den Bruchteil einer Sekunde richtete sich dabei sein Blick auf jenes wellenförmige Symbol, das seit jeher die Wange des abtrünnig gewordenen Wasserwächters zierte, jedoch nach und nach seine auffallende, Mut und Hoffnung für die freien Völker Nalanthias spendende Leuchtkraft verloren hatte. Ein wahrhaft treu ergebener Handlanger, dieser Hyphairon, in der Tat.
„Und genau diese Haltung gefällt mir so an Euch. Ihr seid mir in den vergangenen Monaten tatsächlich eine wertvolle Hilfe gewesen, deshalb will ich mal nicht so sein und Euch eine mögliche Alternative zu Eurem baldigen Ableben vorschlagen. Aber ich sollte Euch vorwarnen: ist die vollständige Verwandlung erst einmal abgeschlossen, wird wohl kaum noch etwas von Eurem alten Ich übrig sein.“
„Vollständige…Verwandlung?“, hakte der Zauberer ungläubig nach. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Bis auf das Leuchten jener ekelhaft grünen Schuppen, die bereits unaufhaltsam seine untere linke Gesichtshälfte hinaufgewandert waren.
„Seht Euch doch an: es hat bereits begonnen. In wenigen Stunden wird dieses Gift Euch umbringen, es sei denn Ihr zieht es vor, mir beim letzten entscheidenden Schlag gegen diese Jammerlappen von unverzichtbarem Nutzen zu sein. Und zwar noch wesentlich mächtiger und todbringender als jemals zuvor. Also, was sagt Ihr? Wollt Ihr leben oder doch lieber sterben? Die Entscheidung liegt ganz bei Euch.“ Eine Weile lang herrschte eisige Stille im Raum, die ab und an vom bedrohlich klingenden Nachhall gnadenlos kämpfender Bestien weit unter ihnen zerrissen wurde. Heftig schluckend sah Hyphairon seinem Meister in die finsteren Augen.
„Leben“, sagte er schließlich kaum hörbar. „Ich will leben.“
Der gefangen genommene Miliposki hatte sich nach Kräften gewehrt, eine Leistung, die ihm der dunkle Zauberer Melron zwar hoch angerechnet, im Grunde seines erkalteten Herzens jedoch zutiefst missbilligt hatte. Wieso sich dieser silberfarbene Knirps seine unausweichliche Niederlage nicht sofort hatte eingestehen wollen, war ihm ein echtes Rätsel gewesen. Das hätte ihm schließlich eine Menge Unannehmlichkeiten erspart. Sei’s drum, dachte er gut gelaunt, die fünf gläsernen Reliquien auf den steinernen Säulen um ihn herum triumphierend in Augenschein nehmend. Das Warten hatte sich endlich gelohnt. Diese teuflisch schönen Artefakte würden seinen standhaft weiter gegen ihn kämpfenden Feinden gewaltigen Ärger bereiten. Sie würden sich alle noch vor dem Ende selbst vernichten, und er würde ruhig und völlig entspannt von den Zinnen seiner Festung aus dabei zusehen. Und dann war da immerhin auch noch seine bescheidene Armee pechspeiender Drachen, denen es bereits mächtig in den Flügeln juckte, ihren verweichlichten, buntgeschuppten Artgenossen ordentlich in den Hintern zu treten, sollten sie je den Mut dazu aufbringen, sich auch nur in der Nähe seiner Festung blicken zu lassen. Dieses einfältige Mädchen aus der Menschenwelt und die so heißgeliebten Wächter des Königs hatten endgültig ausgespielt. Zufrieden mit den sagenhaften Talenten des Miliposkis, beobachtete Melron noch eine Weile das schwache Pulsieren der magischen Goldschicht, die von seinem kleinen Gefangenen eigenhändig in das Innere der gläsernen Reliquien eingeführt worden war, dazu da, die ungeheuren Mächte der uralten Artefakte noch um ein Vielfaches zu verstärken.
Höchste Zeit, das eine oder andere Portal zu öffnen, dachte der Zauberer breit grinsend.