Читать книгу Nalanthia - Bianca Maria Panny - Страница 7

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Für Mira war es nicht mehr als ein Blinzeln, ehe die unendlich hohen Gebirgshänge des großen Wolkenturmes auch schon in spürbarer Erwartung auf sie herabblickten. Peitschender Wind zerzauste dem Mädchen das goldblonde Haar, drang unbarmherzig durch seine Kleider und ließ die vierzehnjährige Zauberin vor Kälte förmlich zusammenzucken. Nur Sekundenbruchteile später tauchten neben ihr auch die restlichen Besucher der goldenen Bibliothek wie aus dem Nichts auf, die noch vor wenigen Augenblicken auf ein Gemälde an der Wand gestarrt hatten. Wortlos und von der hier herrschenden Kälte ebenso unangenehm überrascht, gesellten sie sich zu der jungen Drachenflüsterin, deren einzigartigen magischen Fähigkeiten sie alle an diesen Ort geführt hatten. Es dauerte eine Weile, bis die Beschützer Nalanthias den Blick von den wolkenverhangenen Berggipfeln wenden konnten.

„Das ist einfach … atemberaubend“, brach die Eiswächterin schließlich das ehrfürchtige Schweigen und sah abwartend zu dem kleinen, weißbärtigen Miliposkikönig herab, der sich zufrieden die silbernen Hände rieb.

„Na, hab ich zu viel versprochen, meine Freunde? Ist das nicht der wohl fabelhafteste Ort auf der ganzen mir unbekannten Welt? Fühlt ihr, wie viele tüchtige Miliposkis vor Jahren hier am Werk gewesen sind? Könnt ihr die längst verhallten Gesänge dieser braven Arbeiter vernehmen?“

„Nicht wirklich“, erwiderte der Lichtwächter wenig überzeugt.

„Hört ihr auch die tief im Verborgenen ruhenden Schätze nach ihren rechtmäßigen Besitzern rufen?“

„Fehlanzeige“, meinte Amara, die Wächterin des Wassers, amüsiert. Der Miliposkikönig kratzte sich nachdenklich am Kinn und strich langsam seinen samtenen Bart glatt. „Nun, aber ihr werdet doch wenigstens bei näherer Betrachtung erkennen, dass es sich hier um ein äußerst bemerkenswertes Naturphänomen handelt.“ Philipp, der Feuerwächter und stolzer Anführer der Truppe, nickte bedächtig. „Das könnte durchaus hinkommen, ja.“

„War auch mein erster Eindruck“, fügte Leric rasch hinzu.

„Ein echter Hingucker“, ließ Mira sich schließlich vernehmen, die Augen forschend auf die steilen Felswände jenes bemerkenswertesten aller Naturphänomene gerichtet. Ein Naturphänomen, in dessen Herzen nicht nur das heilige Bergwerk der Miliposkis versteckt lag, sondern auch - wie Mira stark hoffte - ein bislang unentdecktes Reich, in das sich die verbliebenen Feuerdrachen vergangener Jahrhunderte vor der Außenwelt Nalanthias zurückgezogen hatten. „Und wie kommen wir jetzt in die Bergwerke hinein?“, fragte sie an das Oberhaupt der silberhäutigen Wesen gewandt, wobei es ihr nur schwerlich gelang, ihre Neugier zu verbergen. Dieser rieb sich erneut die schimmernden Hände und deutete vergnügt auf seinen sogar noch kleineren Artgenossen, der vor Aufregung fast zu platzen schien.

„Das ist dein großer Moment, Kleiner“, informierte der König ihn stolz. „Dir allein wird die Ehre zuteil, der Drachenflüsterin höchst selbst den mit Abstand wertvollsten Besitz unseres Volkes zu überreichen.“ Der kleine Miliposki, den Mira mit seinen gutmütigen Albernheiten längst ins Herz geschlossen hatte, legte verständnislos den Kopf schief, als versuchte er angestrengt, aus den Worten seines Anführers schlau zu werden. Seufzend und voller Bedauern schüttelte dieser den Kopf, wobei sein viel zu langer Bart wild hin- und herschwenkte.

„Der Schlüssel, Kleiner! Gib ihr verdammt noch mal den Schlüssel!“ Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht hüpfte das seltsame Wesen auf das Mädchen zu, das es ebenfalls ausgesprochen lieb gewonnen zu haben schien. Mira verkniff sich das Grinsen, als ihr silberhäutiger Begleiter in seiner Hosentasche herumzuwühlen begann und ihr dann verlegen den besagten Schlüssel entgegenstreckte. Der Drachenflüsterin entfuhr ein überraschtes Keuchen, kaum dass er in ihrer Hand lag. Er war wesentlich leichter, als es den Anschein hatte. Behutsam strich Mira mit dem Daumen über die filigranen Verzierungen und fremdartigen Symbole, die in das sonderbare Material eingearbeitet worden waren, das zur einen Hälfte golden, zur anderen Hälfte silbern im fahlen Licht der Morgensonne funkelte.

„Schön und gut“, sagte Blin ungeduldig. „Aber hier ist immer noch weit und breit kein Eingang zu sehen.“

„Wer weiß, vielleicht muss einer von uns vorher noch auf die Spitze hinaufklettern“, raunte Philipp seinem Freund belustigt zu. „Aber keine Angst, ich warte solange hier unten auf dich.“ Der Lichtwächter verdrehte genervt die Augen und sah den Miliposkikönig herausfordernd an. Mira und die anderen Wächter Nalanthias taten es ihm gleich. Dieser kicherte geheimnisvoll in seinen flauschigen Bart.

„Oh, da macht euch mal keine Sorgen, werte Zauberer. Der Eingang offenbart sich immer denen, die Frohsinn haben im Herzen und Glück in den Venen.“

„Na wunderbar“, sagte Amara wenig begeistert. „Schon wieder so ein alberner Miliposkispruch.“

„Der Kleine und ich werden uns jetzt am besten zurückziehen“, verkündete der Anführer der silberhäutigen Wesen, ohne auf die Bemerkung der Wächterin einzugehen. „Es liegt nun an euch, Nalanthia vor Melrons Wunsch nach Zerstörung zu retten. Geht! Findet diese feuerspeienden Ungetüme und äh…lasst euch bloß nicht auffressen!“ Miras kleiner Freund winkte ihnen zum Abschied noch rasch zu, während er von seinem König bereits zu den gewaltigen Mauern des Felsenlabyrinths und dem immer noch offen stehenden Portal gezerrt wurde, dessen gläserne Oberfläche kaum von der eines gewöhnlichen Spiegels zu unterscheiden war. Ein letzter Blick über die Schulter, dann waren die beiden Miliposkis auch schon verschwunden, zusammen mit der magischen Pforte zu ihrer Heimatstadt.

„Tolle Ansprache“, meinte Isabelle ironisch, ehe sie argwöhnisch den Schlüssel in Miras Hand betrachtete. „Hat jemand von euch eine Idee, was der bärtige Wichtigtuer da vorhin geschwafelt hat?“

„Ach, der wollte uns doch bloß auf den Arm nehmen“, sagte Philipp gelassen und klopfte Mira freundschaftlich auf die Schulter. „Unsere Drachenflüsterin hier hat bisher noch immer gewusst, was in so einem Fall zu tun ist. Ich für meinen Teil kann das Bergwerk schon förmlich riechen.“

„Dann hast du sicher nichts dagegen, uns mit deinem ausgeprägten Spürsinn den Weg zu weisen“, forderte Blin ihn belustigt auf und wies mit dem Kinn in Richtung des alles überragenden Wolkenturms.

„Sieh zu und lern“, meinte Philipp gut gelaunt und bewegte sich wenig später auch schon auf die meterhohen Gebirgshänge zu. Kopfschüttelnd beobachteten seine Freunde ihn dabei, ehe sie langsamen Schrittes seinem Beispiel Folge leisteten.

„Hast du nicht was vergessen, Süßer?“, rief Isabelle ihm neckend hinterher. „Einen hübsch glänzenden Schlüssel vielleicht?“ Der Feuerwächter wollte schon die Hand nach dem kalten Gestein ausstrecken, als er sich mit einem Ruck umdrehte und der Gruppe grinsender Zauberer verlegene Blicke zuwarf. Mit einem breiten Lächeln im Gesicht hielt Mira einen kleinen funkelnden Gegenstand in die Höhe und gesellte sich damit eifrig zu ihrem Anführer.

„Den könntest du vielleicht ganz gut gebrauchen“, sagte das Mädchen amüsiert und sah, dass auch Philipp sein herrlich charmantes Lächeln zum Besten gab.

„Da könntest du allerding Recht haben.“ Die anderen waren inzwischen näher gekommen und warfen einen misstrauischen Blick auf die immer noch unveränderte Felswand. Falls es hier irgendwo tatsächlich einen Weg ins Innere gab, waren sie entweder noch blinder als eine Fledermaus, oder - was wesentlich wahrscheinlicher war - sie suchten an der völlig falschen Stelle.

„Ich verbeuge mich vor dem Meister des guten Spürsinns“, sagte Blin belustigt und neigte seinen Kopf in gespielter Ehrfurcht. Aus den Augenwinkeln sah Mira gerade noch, wie Amara dem Lichtwächter einen leichten Ellbogenstoß in die Rippen versetzte, der ihn dazu auffordern sollte, nicht so gehässig zu sein. Eine winzige Felsspalte, nicht halb so lang wie ihr kleiner Finger, hatte jedoch längst das Interesse der Drachenflüsterin geweckt, sodass sie alles in ihrer Umgebung nur noch am Rande wahrnahm. Das Herz vor Aufregung wild pochend, steckte Mira das ungewöhnlich schmale Ende des Schlüssels langsam in jene Öffnung, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen war. Ein leises Klicken ertönte, gefolgt von einem hörbarem Seufzen, fast so, als stieße der große Wolkenturm selbst seinen eisigen Atem aus. Und dann sahen sie es: Silberne Linien begannen den Felsen wie heftig pulsierende Adern zu durchziehen und im prächtigen Farbenspiel des reflektierten Sonnenlichts ein bogenförmiges Tor zu bilden. Sonderbare Symbole, ähnlich denen auf dem Schlüssel, wurden wie von Zauberhand in den blanken Stein eingraviert, von dessen nun silbern umrandeter Oberfläche schon bald ein angenehm goldenes Leuchten ausging.

„Ich werd verrückt“, hauchte Miras Vater beeindruckt, während seine Tochter immer noch krampfhaft den wertvollsten Besitz der Miliposkis umklammert hielt, ehe sie endlich aus ihrem tranceartigen Zustand erwachte und die Hand in dem golden flimmernden Durchgang verschwinden ließ.

„Was habe ich euch gesagt?“, verkündete Philipp triumphierend. „Unsere liebe Mira bietet jedem noch so protzig aufragenden Naturphänomen die Stirn.“

„Dann sollten wir die Drachen wohl nicht länger warten lassen“, sagte die Eiswächterin mit neuer Zuversicht. „Vorausgesetzt, sie sind überhaupt noch am Leben.“

Ein stichhaltiges Argument, dachte Mira im Stillen für sich. Ein Blinzeln nur, den Sprung ins Ungewisse wagend, und schon waren sie im Inneren des Berges.


-2-


Die Dunkelheit umfing sie wie ein pechschwarzer Umhang. Einen Augenblick lang ließen die sechs Zauberer die bedrohliche Stille auf sich wirken, ehe Philipp, Leric und Mira schließlich mit den Fingern schnippten und hell lodernde Flammen in ihren Händen erzeugten. Als sich die Wächter Nalanthias jedoch einige Schritte in die wenig einladende Finsternis hineinwagten, erschien das Trost spendende Feuer mehr als überflüssig, da im nächsten Moment auch schon unzählige Laternen mit ihrer immensen Leuchtkraft die riesige Halle unter dem Wolkenturm fluteten. Wie eingefangenes Mondlicht warfen sie selbst in den hintersten Winkeln Silhouetten an die Wände und ließen die in Schlingen verlaufenden Schienen aus Silber wie tausend blinkende Sterne funkeln. Die darauf stehenden Wagen, so fand Mira, konnten dabei problemlos als Kutschen durchgehen, denen über ihren einladenden Sitzbänken allerdings jegliche Form von Dach fehlte. Im herrlichsten Gold gehalten, das die Drachenflüsterin je gesehen hatte, schienen sie ungeduldig darauf zu warten, in die Schwärze der von der Halle abzweigenden Tunnel einzutauchen und restlos von ihr verschluckt zu werden. Der Lichtwächter fand als Erster seine Stimme wieder. „Donnerwetter! Eins muss man diesen durchgeknallten Miliposkis ja lassen: sie scheinen ein beneidenswertes Talent für bahnbrechende Innenarchitektur zu haben.“

„Ganz deiner Meinung“, stimmte Philipp ihm begeistert zu. „Aber wie’s aussieht, haben sie nach wie vor nur funkelndes Silber im Kopf. Funkelndes Silber und glänzendes Gold.“

„Entweder das“, meinte Isabelle belustigt, „oder ihnen ist bei dem Gemälde in der Bibliothek sämtliche Farbe ausgegangen.“

„Worauf warten wir noch?“, meinte Amara vergnügt. „Lasst uns diese schicken Transportmittel gleich mal ausprobieren!“ Lächelnd packte die Wasserwächterin Blin am Arm, und dieser ließ sich widerstandslos und ebenfalls lachend zum nächstgelegenen Kutschenwaggon ziehen. Kopfschüttelnd sahen die anderen dem verliebten Pärchen hinterher, ehe sie selbst den wegweisenden Schienen durch die Halle folgten. Erst als sie direkt vor einem der geheimnisvollen Gefährte standen, wurden ihnen bewusst, wie viel kleiner sie im Vergleich zu den fliegenden Kutschen des Königreichs waren. Für sechs ausgewachsene Miliposkis, die das Herz des Gebirges nach Schätzen absuchten, mochten die zierlichen Wagen groß genug sein. Bei sechs Zauberern aus dem fernen Königsschloss dagegen konnte von ausreichendem Platz keine Rede mehr sein. Der Feuerwächter zuckte jedoch nur lässig mit den Schultern.

„Ich würde vorschlagen, dass wir uns aufteilen, also...“, er wandte sich dem Lichtwächter amüsiert zu, „falls du und Amara ein wenig Privatsphäre braucht, wäre jetzt wohl der ideale Augenblick, uns das wissen zu lassen.“ Während Amara ihre Verlegenheit mit einem Husten zu überspielen versuchte, verschränkte Blin heraus-fordernd die Arme vor der Brust.

„Ein wenig Zeit zum Nachdenken würde dir ganz sicher auch nicht schaden, und ich bin überzeugt, dass ein ganz besonderer Mensch mit Freuden dazu bereit wäre, dir Gesellschaft zu leisten.“ Mira und ihre Begleiter verstanden sofort, worauf der Lichtwächter hinauswollte und machten es sich rasch in dem goldenen Transportmittel bequem, sodass weder Philipp noch Isabelle darin Platz gefunden hätten. Der Anführer der Gruppe nickte amüsiert. „Sehr erwachsen.“

Dann kletterte der Zauberer selbst in ein anderes, nicht weit von ihm entferntes Gefährt, allerdings nicht, ohne der Eiswächterin vorher in die offene Kutsche zu helfen. Die mit Gold überzogenen Räder setzten sich mit einem Mal in Bewegung und glitten kaum spürbar die Schienen entlang auf einen der Tunnel zu. Hätten Mira und die anderen es nicht mit eigenen Augen gesehen, sie hätten bezweifelt, dass die kutschenartigen Waggons überhaupt den Boden berührten. Für einen kurzen Moment wurde alles um sie herum in schwärzeste Dunkelheit getaucht, doch es dauerte nicht lange, ehe die beiden Gefährte beim Verlassen des Tunnels das stimmungsvolle Licht der Laternen zurückwarfen, die in regelmäßigen Abständen aus pfeilspitzen Felsvorsprüngen ragten, unter denen sich sowohl rechts als auch links von den Schienen gähnende Abgründe auftaten. Das hauchdünne Silber, auf dem die Räder der Kutschen geräuschlos vorwärtsrollten, machte dabei den Eindruck, wie aneinander gekettete Sternschnuppen im leeren Raum zu schweben.

„Ich nehme alles wieder zurück“, entfuhr es Blin leise, der nun äußerst angespannt neben Amara in der immer schneller werdenden Kutsche hockte. „Von wegen bahnbrechende Innenarchitektur! Diese Wesen können es scheinbar kaum erwarten, von der nächsten Klippe zu springen und schreiend in den Abgrund zu stürzen. Was die brauchen, meine Freunde, sind keine silbernen Söckchen, sondern einen anständigen Seelenklempner!“

„Beides Dinge, die uns auch nicht viel nützen werden, wenn du den Wagen weiter so zum Schwanken bringst“, ermahnte Leric den Wächter gereizt. Obwohl ihm die bodenlose Tiefe unter ihnen ebenfalls gehörig zu schaffen machte, versuchte er angestrengt, sich nichts von seinem Unbehagen anmerken zu lassen. Mira warf ab und zu einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass ihnen Philipp und Isabelle in ihrem eigenen Gefährt dicht auf den Fersen waren. Als sich das Mädchen wieder umdrehte, riss es vor Staunen die Augen weit auf.

„Seht mal, da vorne!“, rief Mira den anderen hastig zu und deutete auf einen wahren Sturzbach aus flüssigem Gold, das in funkelnden Strömen von der Decke tropfte und den Zauberern somit jegliche Sicht auf die weitere Strecke raubte. Für die Drachenflüsterin hatte es den Anschein, als würde sich über ihnen eine verborgene Schatzkammer auftun, um sich all der überflüssigen Goldmünzen zu entledigen, die sie unweigerlich zum Bersten bringen würden. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen bei dem Gedanken, gleich einen Wasserfall aus purem Gold zu durchqueren. Einige ihrer Begleiter teilten diese Begeisterung eindeutig nicht, als ihnen klar wurde, dass ihre Wagen unaufhaltsam darauf zusteuerten. Vor allem ein gewisser Lichtwächter, der so gar keine Lust darauf hatte, sich in eine glänzende Statue zu verwandeln.

„Diese silbernen Clowns hätten uns wenigstens ein paar Regenschirme mitgeben können“, meinte Blin frustriert und wandte sich dann lächelnd an die neben ihm sitzende Amara. „Es besteht nicht zufällig die Möglichkeit, echtes Wasser daraus zu machen, oder?“, fragte er sie hoffnungsvoll. Die dunkelhaarige Wächterin tätschelte ihm aufmunternd das Knie.

„Tut mir leid, mein Lieber, aber wir sind hier im heiligen Bergwerk der Miliposkis, und da müssen wir wohl einfach versuchen, ihre Vorliebe für Glanz und Glimmer schätzen zu lernen. Auch wenn sie für uns noch so unpraktisch ist.“

„Immer die passende Antwort parat, was?“, bemerkte Leric trocken und hielt schon mal schützend die Arme über den Kopf, als das leise Trommeln von Goldtropfen auf silbernen Schienen immer deutlicher zu vernehmen war. Mira und die anderen Wächter Nalanthias folgten eifrig seinem Beispiel, schlossen in abwartender Spannung die Augen…und bekamen zu ihrer großen Überraschung nicht einen einzigen Tropfen des herabprasselnden Goldregens zu spüren. Einem flüssigen Vorhang gleich hatte sich der Wasserfall in zwei Hälften geteilt, um die ersten Besucher seit Jahren herzlich willkommen zu heißen. Ungläubig warfen die Zauberer einen Blick zurück und sahen gerade noch, wie auch der letzte hauchdünne Spalt der sich aufgetanen Lücke mit einem schmatzenden Geräusch geschlossen wurde, als die eine Hälfte des stetig fließenden Goldes wieder sanft mit der anderen verschmolz. Was die Insassen der lautlos dahingleitenden Kutschenwaggons nun zu Gesicht bekamen, ließ sie unweigerlich wissen, dass sie nun tatsächlich die geheimen Schatzkammern der Miliposkis vor sich hatten. Bergeweise Münzen quollen nur so aus zahllosen Truhen hervor, die umgeben von einem Meer aus prunkvollen Tellern, Kelchen und anderen funkelnden Schmuckstücken in höhlenartigen Vertiefungen in verführerischer Stille dahinschwelgten. Rubinrote und smaragdgrüne Edelsteine leuchteten ihnen aus der Ferne wie schlaflose, nach Feinden Ausschau haltende Augenpaare entgegen. Für einen kurzen Moment erinnerten sie Mira an ihre Begegnung mit den Nebelreitern, die sie in mordlüsterner Rage durch das Felsenlabyrinth gejagt hatten. Sie verbannte die Erinnerung schnell aus ihrem Kopf und betrachtete stattdessen all die weiteren Gleise, die hier von den Hauptschienen abzweigten und geradewegs auf die zum Bersten gefüllten Felsvertiefungen zuliefen. Gewaltige Kaskaden brachen aus hoch gelegenen Felsvorsprüngen hervor, rauschten in silberfarbenen Tönen die Wände entlang und verloren sich tosend in der grenzenlosen Tiefe, wo alles Wasser - wie Mira vermutete - schließlich aufeinandertraf und riesige Seen unter ihnen entstehen ließ. Der Anblick raubte ihr förmlich den Atem, und sie brauchte keine Seherin zu sein, um zu erkennen, dass es ihren Begleitern ebenso erging.

„Kneift mich mal, Leute“, brach Philipp endlich das lange Schweigen. Er musste seine Stimme heben, um das Tosen der Wasserfälle zu übertönen. „Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass das alles nur ein schöner Traum ist.“

„Wenn das so ist, scheinen wir alle denselben Traum zu haben“, erwiderte Amara nicht weniger begeistert, ehe die kutschenähnlichen Waggons ein weiteres Mal in die Dunkelheit eines längeren Tunnels verschwanden. Und dann wurde es richtig kompliziert. Wie in der Schatzkammer zuvor verliefen auch in der nächsten steinernen Halle Schienen in alle erdenklichen Richtungen, mit dem Unterschied, dass sie nun in verschiedene Bereiche im Inneren des Wolkenturmes führten, und nirgendwo gab es einen Hinweis darauf, wo sie nach dem Reich der Feuerdrachen zu suchen hatten. „Na großartig“, brummte Miras Vater. „Und wohin jetzt?“

„Das wüsste ich auch gerne“, stimmte der Lichtwächter ihm ärgerlich zu. Er warf dem Anführer der Gruppe rasch einen fragenden Blick zu, der in etwa „Wie sieht’s jetzt mit deinem brillanten Spürsinn aus, du Genie?“ bedeuten sollte.

Komm zu uns, Mira. Komm zu uns ins verborgene Drachenreich.

Als Mira hörbar nach Luft schnappte, wandte Blin sich ihr stirnrunzelnd zu. Auch Leric und Amara hatten bemerkt, dass sie regelrecht zusammengezuckt war.

„Alles in Ordnung bei dir?“, wollte der Lichtwächter von dem Mädchen wissen. Mira antwortete nicht. War das gerade eine Stimme gewesen? Eine Stimme, die zu ihr gesprochen hatte? Sie wollte es schon für bloße Einbildung halten, als sich das durchdringende Flüstern erneut in ihren Kopf einschlich. Wir haben schon so lange auf dich gewartet, Mira. Auf die Drachenflüsterin, der es bestimmt ist, Nalanthia zu retten. Komm zu uns. Das Ende des dunklen Zauberers ist nahe…

„Mira!“ Die Rufe ihrer Begleiter brachten sie wieder in die Realität zurück, und sie blinzelte verwirrt. Besorgte Blicke waren auf sie gerichtet.

„Ich weiß, wo wir hinmüssen“, sagte die Vierzehnjährige leise und zeigte auf jene Schienen, die unmittelbar an den Wänden entlang zu einem spärlich beleuchteten Höhleneingang führten. „Da war eine Stimme in meinem Kopf. Ich glaube es waren die Drachen, die mich zu sich gerufen haben.“ Beim Sprechen besah sich Mira das Symbol auf der Innenseite ihres rechten Handgelenks, das sich mit einem Mal wesentlich stärker von ihrer blassen Haut abzeichnete.

„Irgendetwas daran hat mich förmlich in diese Richtung gezogen, als hätte ein unsichtbares Band sich um meine Hand gewickelt und …“ Das Mädchen unterbrach sich, als ihm seine eigenen Worte bewusst wurden.

„Du meine Güte, das ist vielleicht das Dämlichste, was ich je von mir gegeben habe.“

Die Wächterin des Wassers lächelte amüsiert.

„Nicht viel dämlicher als das, was unsere liebe Seherin den ganzen Tag vor sich hin schwafelt“, sagte sie. „Und die ist sich dessen ganz sicher nicht bewusst.“ Blin lachte herzlich über diese Bemerkung und bereitete sich schließlich darauf vor, den Kutschenwaggon rechtzeitig auf die richtigen Gleise zu lenken.

„Die Drachenflüsterin hat gesprochen“, verkündete er im gespielten Ernst und gab Philipp und Isabelle im hinteren Wagen zu verstehen, was sie gleich zu tun hatten. „Dann wollen wir mal“, murmelte der Feuerwächter und konzentrierte sich darauf, mit ihrem immer noch geräuschlos dahingleitenden Gefährt die nächste Abzweigung zu erwischen. Ein Stück weiter vorne hatte es Blin bereits geschafft, in einem halsbrecherischen Manöver das Gleis zu wechseln, bei dem er und seine drei Begleiter fast aus der fahrenden Kutsche geschleudert worden wären. Der Waggon fand jedoch rasch sein Gleichgewicht wieder und ließ Mira, Amara und Leric erleichtert aufatmen, bevor sie dem Lichtwächter finstere Blicke zuwarfen. Grinsend warf dieser einen Blick über die Schulter.

„Das war ganz schön knapp, was?“, rief er nach hinten. „Ihr habt gerade den Meister bei der Arbeit gesehen!“ Der Feuerwächter seufzte genervt, und Isabelle runzelte verständnislos die Stirn. Sie waren nur noch wenige Meter von der Abzweigung entfernt.

„Glaubst du nicht, dass es noch einen anderen Weg geben muss, diese Dinger zu lenken?“, fragte sie an Philipp gewandt. „Die Miliposkis sahen nämlich nicht gerade so aus, als könnten sie akrobatische Meisterleistungen über gähnenden Abgründen vollführen, oder?“ Der Wächter sah sich noch einmal in dem kutschenartigen Transportmittel um und schüttelte schließlich den Kopf. „Ich kann hier drin aber nirgends Hebel oder etwas Ähnliches entdecken“, informierte er seine Freundin gelassen und warf ihr dann ein aufmunterndes Lächeln zu, das jeden noch so waschechten Goldtaler augenblicklich zum Schmelzen gebracht hätte.

„Keine Sorge, Isabelle. Du befindest dich immerhin in Begleitung eines Profis.“ Isabelle rollte genervt mit den Augen und heftete ihren Blick auf den Kutschenwaggon ihrer restlichen Gefährten, die sich einer nur wenig einladend wirkenden Tunnelöffnung am Rande der gewaltigen Bergwerkskammer näherten.

„Du solltest dich jetzt lieber festhalten“, riet Philipp der Eiswächterin noch schnell, die ihn dabei beobachtete, wie er die vergoldeten Ränder der Kutsche mit eisernem Griff umklammert hielt, als plötzlich ein markerschütterndes Beben die Kammern des Wolkenturmes zum Vibrieren brachte. Bäche aus Goldmünzen regneten mit einem ohrenbetäubenden Klirren von den Felsvertiefungen aus auf die Schienen herab, rissen halb darin versunkene Schatztruhen wie in einer funkelnden Gerölllawine mit sich und kündigten unter nervenzerreißendem Poltern das Herannahen einer nicht mehr abzuwendenden Katastrophe an. Mit einem letzten verzweifelten Schwenker gelang es dem Feuerwächter gerade noch so, den in Gold gefassten Waggon auf eine steil abfallende Schiene zu lenken, die auf der anderen Seite der gewaltigen Bergwerkkammer wie ein tödliches Gefälle in die bodenlose Tiefe führte. Das silberne Licht der Laternen rauschte wie ein einziger schimmernder Vorhang vor den angsterfüllten Augen der beiden mächtigen Zauberer vorbei, als das fast schwerelos anmutende Gefährt in bahnbrechender Geschwindigkeit nach unten jagte - direkt auf das abrupte Ende der Gleise über der gähnenden Leere lebendiger Finsternis zu. Nicht den Hauch einer Chance erblickend, die immer schneller werdende Kutsche rechtzeitig zum Stillstand zu bringen, machte die Eiswächterin sich bereits heftig zitternd mit der Unausweichlichkeit ihres baldigen Sterbens vertraut. Philipp jedoch schien diese ungemein trostlose Aussicht nur wenig zuzusagen, und ein derart kampflos dahingenommenes Schicksal kam für ihn angesichts all ihrer bisher errungenen Siege schon gar nicht infrage.

Der Abgrund rückte näher und immer näher.

Viel Zeit zum Handeln blieb ihnen daher nicht mehr.

„Was in aller Welt hast du vor?“, fragte Isabelle höchst verwirrt, als ihr gutaussehender Begleiter ihr wortlos einen seiner kräftigen Arme um die Hüften schlang und mit feurig funkelnden Blicken in abwartender Spannung einen zweier identischer, schwungvoll gebogener Laternenpfosten fixierte, die hier unten zu beiden Seiten der Schienen das schwindelerregende Ende ihrer unfreiwilligen Talfahrt markierten. Noch bevor die Eiswächterin ihren sichtbaren Zweifel an seiner geistigen Gesundheit kundtun konnte, spannte Philipp auch schon sämtliche Muskeln an, stieß sich mit Isabelle vom Rand des Waggons ab…und sprang. Fast gleichzeitig bekamen sie den bogenförmigen Laternenmast aus glänzendem Silber zu fassen, Sekunden, bevor ihr kutschenartiges Gefährt über die endenden Gleise hinwegschoss und in die finsteren Abgründe des geheimen Bergwerks verschwand. Der hauchdünn gefertigte Stahl schien der unerwartet hinzugekommenen Last jedoch nicht allzu lange standhalten zu können, da sich zu Philipps und Isabelles gemeinsamem Entsetzen der verschnörkelte Bogen samt Laterne gefährlich weit nach unten zu beugen begann. Der plötzliche Ruck, der mit dem Nachgeben des lautstark ächzenden Mastes einherging, raubte der jungen Eiswächterin den letzten verbliebenen Halt an der sich tiefer neigenden Stange, sodass ihre Hand von der schimmernden Oberfläche abrutschte und der Feuerwächter sie gerade noch rechtzeitig aus der Luft zu fassen bekam. Die aufsteigende Panik so gut es ging niederkämpfend, nahm Philipp all seine ihm verbliebenen Kräfte zusammen, um sich und seine Freundin über der gähnenden Leere zu halten. Es reichte jedoch nicht aus, um Isabelle wieder zu sich hinauf zu ziehen, und angesichts des sich immer weiter neigenden Laternenmastes spielte jeder noch so hartnäckige Versuch, sich daran festzuhalten, ohnehin keine große Rolle. Der wie im Nichts schwebende Schienenweg lag längst außerhalb ihrer Reichweite. Selbst wenn es Philipp gelingen sollte, seine Begleiterin sicher dort hinüber zu schwingen, würde das bogenförmige Konstrukt im Nu über ihm nachgeben und den Feuerwächter mit sich in die Tiefe reißen. Isabelle wusste aber, dass genau dieses Vorhaben gerade durch seinen Kopf ging, und damit würde er mit Sicherheit nicht durchkommen. Nicht, solange sie noch ein Wörtchen mitzureden hatte.

„Lass mich los!“, schrie Isabelle verzweifelt zu ihm hinauf. „Philipp, du musst mich loslassen, sonst sterben wir beide!“ Panisch versuchte sie, ihr rechtes Handgelenk aus seinem sie eisern festhaltenden Griff zu befreien, um wenigstens ihm das Leben retten zu können, bevor es endgültig zu spät war. Ohne sie hätte er wenigstens eine Chance, hier rauszukommen.

„Isabelle, hör auf! Tu das nicht! Ich flehe dich an, tu das nicht!“ Seine Kräfte ließen nach, und er merkte mit zunehmender Hilflosigkeit, wie Isabelles Hand seiner eigenen mehr und mehr zu entgleiten begann. Es würde zu spät sein, sie hinüber zu den Gleisen zu schwingen. Es würde viel zu spät sein. Das unheilvolle Ächzen silbernen Stahles bohrte sich wie tausend giftige Messer in sein Herz, als der Anführer der vier Wächter Nalanthias sich schließlich vom Schicksal geschlagen gab.

„Tut mir leid“, brachte er kaum hörbar hervor, sah Isabelle in ihre so strahlend blauen Augen…und ließ los.

Nalanthia

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