Читать книгу Nalanthia - Bianca Maria Panny - Страница 9

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Wie gelähmt starrte Mira auf die sich rasch entfernende Stelle zurück, an der sie ihre beiden Freunde zuletzt gesehen hatte, ehe sie in ihrem nicht mehr zu bremsenden Wagen auf einen gähnenden Abgrund zugerast und für immer aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Auch von Miras Begleitern brachte für sehr lange Zeit niemand einen Ton heraus, unfähig jene Worte laut auszusprechen, die ohnehin einem jeden von ihnen durch den Kopf gingen: dass sie Philipp und Isabelle niemals wiedersehen würden. Verzweifelt kämpfte die Vierzehnjährige gegen die Tränen an, die ihr beim Gedanken daran unweigerlich in die Augen stiegen. Denn so schmerzvoll der Verlust ihrer Freunde auch war, sie mussten an ihre jetzige Mission denken. Das Schicksal Nalanthias hing schließlich einzig und allein davon ab, ob sie das Versteck der letzten Feuerdrachen ausfindig machten und sie zu einem alles entscheidenden Kampf gegen Melron aufrufen konnten. Doch dazu mussten sie zunächst mal am Leben bleiben.

„Ich bringe die Miliposkis um“, presste der Lichtwächter leise hervor, während der geräuschlos dahingleitende Kutschenwaggon sie mit gleich bleibender Geschwindigkeit tiefer in den Berg hineinführte.

„Wenn ich jemals wieder hier rauskomme und diesen elenden Verräter von einem Miliposkikönig in die Finger kriege, dann…“

„Es war nicht seine Schuld, Blin“, versuchte Amara ihren Freund sanft zu beruhigen. Auch ihre Stimme klang vor Trauer ganz brüchig. „Philipp und Isabelle haben aus freien Stücken entschieden, auf diese Reise zu gehen. Sie wussten um die Gefahren, die hier auf jeden von uns warten konnten.“

„Natürlich war es seine Schuld!“, schrie Blin nun wesentlich lauter, der vor Wut kaum an sich halten konnte. „Nur, weil dieser bärtige Nichtsnutz es für einen Spaß hielt, uns nicht vorzuwarnen, sind unsere beiden besten Freunde völlig umsonst gestorben!“ Darauf wusste die Wasserwächterin keine Antwort. Mira konnte dem Lichtwächter seine Drohungen nicht verübeln. Er wusste einfach nicht wohin mit seinem Schmerz. Und in so einer Situation suchte man immer nach einem Schuldigen. Die starken Arme ihres ebenso schweigsamen Vaters spendeten Mira ein wenig Trost, als sie sich in dem ohnehin schon viel zu engen, kutschenartigen Gefährt an ihn schmiegte und an ihr früheres Zuhause in der Menschenwelt zurückdachte, wo ihr Leben noch um vieles leichter gewesen war. Rasch verwarf das Mädchen die Erinnerungen daran wieder. So etwas hatte jetzt in ihrem Kopf absolut gar nichts verloren. Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren. Der goldene Wagen folgte den Schienen schließlich erneut in einen tiefschwarzen Tunnel hinein, der jedoch so eng und niedrig war, dass Mira und ihre Begleiter schon fast Platzangst bekamen. Es hätte nicht viel gefehlt, und ihr goldblonder Haarschopf hätte die kalte Felsendecke gestreift. Leric, Blin und Amara blieb nichts anderes übrig, als rasch die Köpfe einzuziehen und in dieser mehr als unangenehmen gebückten Haltung zu verharren. Mira konnte nur hoffen, dass der Waggon nicht plötzlich zwischen den Wänden steckenblieb und sie hier in der trostlosen Dunkelheit festsaßen. Und dann sahen sie ein Licht, das den Tunnel in einen warmen, einladenden Goldton tauchte und Hoffnung in ihren Herzen aufkeimen ließ. Der Tunnel weitete sich zu einer kleinen, geschlossenen Höhle inmitten des großen Bergwerks aus, von deren Wänden Bäche funkelnder Goldmünzen herabzuregnen schienen. Bei näherer Betrachtung mussten die vier Freunde allerdings feststellen, dass es sich bloß um Wasser handelte, das in Strömen zu einem wirbelnden Strudel im Zentrum der Höhle zusammenfloss und scheinbar im grenzenlosen Nichts mündete. Der Kutschenwaggon kam ebenso geräuschlos zum Stillstand, wie er sich vor einer gefühlten Ewigkeit in Bewegung gesetzt hatte. Von ihrem jetzigen Standpunkt aus war ein unnatürlich geformter Felsvorsprung das einzige an festem Boden, das dieser Ort zu bieten hatte. Der Rest der Höhle bestand aus einem endlosen Strom goldenen Wassers. Zögernd wagte sich die Gruppe bis an den Rand des steil ansteigenden Felsplateaus, wo sie schließlich direkt in das gähnende Nichts hinabblickten, in welches der herrlich schimmernde Strudel unentwegt hineingesaugt wurde. Es war zutiefst irritierend, anstelle des sonst so beruhigenden Rauschens das Klirren unzähliger aufeinandertreffender Münzen zu vernehmen. Noch irritierender fand Mira jedoch die Tatsache, dass sie ganz offenbar in einer Sackgasse gelandet waren. Die Enttäuschung darüber stand allen deutlich ins Gesicht geschrieben.

Na los, worauf wartest du? Du wirst schon springen müssen, wenn du uns unbedingt finden willst. Erschrocken wich Mira einen Schritt zurück, als sie erneut jene ihr bereits vertraute Stimme in ihrem Kopf vernahm. Nur keine falsche Scheu, Mädchen. Wenn du tatsächlich die bist, für die ich dich halte, fuhr der mysteriöse Sprecher neckisch fort, sollte es kein Problem sein, mir deinen Mut unter Beweis zu stellen, oder?

„Mira, was ist denn los?“, drang Lerics besorgte Stimme plötzlich an ihr Ohr, was dessen vierzehnjährige Tochter wieder zurück in die Realität brachte.

„Wir müssen springen“, verkündete diese nur; drei einfache Worte, die Mira mehr als ungläubige Blicke seitens ihrer Gefährten einbrachten.

„Bist du verrückt?“, erwiderte Blin schockiert. „Wir können da nicht einfach runterspringen als wär’s ein gemütlicher Sonntagsspaziergang! Du weißt ja noch nicht einmal, wo dieser komische goldene Strudel uns hinführt.“

„Hört zu, ich bin mir durchaus bewusst, wie verrückt das klingt, aber da war vorhin wieder diese Stimme in meinem Kopf und …tut mir leid, ihr werdet mir wohl einfach vertrauen müssen.“

„Das tun wir“, beteuerten Leric und Amara wie aus einem Mund. Die Wasserwächterin warf Blin einen herausfordernden Blick zu.

„Wir alle tun das, hab ich nicht Recht, mein Lieber?“ Dem betörenden Wimpernschlag dieser Frau hätte keiner widerstehen können. Seufzend wandte der Lichtwächter seinen forschenden Blick von dem klirrenden Goldstrom unter seinen Füßen ab.

„Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als dem zuzustimmen, nicht wahr?“

„Sehr richtig“, bestätigte Amara amüsiert und tätschelte ihrem Freund aufmunternd den Arm. „Ich passe schon auf, dass du nicht allzu nass wirst, versprochen.“

Der Lichtwächter brummte nur gutmütig und gewährte Mira schließlich belustigt den Vortritt.

„Du siehst aus, als könntest du’s kaum noch erwarten, deshalb wäre es äußerst herzlos, dir den Spaß nicht zu gönnen.“

„Sehr witzig“, murmelte Mira vor sich hin und stellte sich noch weiter an den Rand des brückenartig geformten Felsplateaus. Ihre Haut prickelte förmlich, als sie von den klimpernd ins große Ungewisse abfließenden Goldbächen magisch angezogen wurde. Jetzt hieß es springen oder wieder zurückgehen, und zurückgehen kam für die Drachenflüsterin nicht mehr infrage, vor allem nicht, wenn das Ziel schon zum Greifen nah schien.

„Dann mal los“, war alles, was sie noch herausbrachte, ehe sie sich endlich einen Ruck gab und sprang. Die Zeit schien stillzustehen, während Mira eingehüllt in golden flimmernde Luft tiefer und immer tiefer nach unten fiel. Das Wasser um sie herum spürte sie gar nicht; es war, als würde es mit Miras Körper nicht ein einziges Mal in Berührung kommen. Wie lange der Sprung nach unten dauerte, ließ sich unmöglich feststellen. Alles fühlte sich an wie in einem Traum, aus dem sie nicht mehr aufwachen wollte und es dennoch tat, als die unangreifbaren Wassermassen das beständige Klirren aufeinanderprallender Goldtaler im nächsten Moment einstellten und ein lauwarmer See im tiefsten Herzen des Wolkenturmes die Drachenflüsterin geräuschlos verschluckte. Dass es sich dieses Mal offenbar um ganz gewöhnliches, wenn auch ein wenig unnatürlich schimmerndes Wasser handelte, war mit das Erste, das Mira feststellen musste, als sie ans mehrere Armlängen entfernte Ufer schwamm und sich klatschnass und keuchend an Land hievte. Es dauerte nicht lange, bis auch ihr Vater und die beiden verliebten Wächter Nalanthias ihrem Beispiel gefolgt waren. Sie mussten der vierzehnjährigen Zauberin nur wenige Augenblicke später nachgesprungen sein.

„Okay, ich geb’s zu“, brach Blin endlich das lange Schweigen. „Wie’s aussieht, scheint unsere Mira hier alles bestens im Griff zu haben, selbst wenn es beunruhigend selbstmörderische Aktionen wie diese betrifft.“ Wassertropfen flogen wild in alle Richtungen, als der Wächter einen mehr als vergeblichen Versuch unternahm, seine tropfnassen Haare durch heftiges Schütteln zu trocknen. „Wie war das nochmal mit dem aufpassen, Amara?“ Die Wächterin zuckte belustigt mit den Schultern, und auch Mira konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, ehe sie zum ersten Mal ihre neue Umgebung genauer in Augenschein nahm. Bei dem Bild, das sich ihr darbot, stockte dem Mädchen förmlich der Atem. Von dem goldgefärbten Strom, der sie alle hierher gebracht hatte, war keine Spur mehr zu sehen, dafür aber gab es zahlreiche kleine Wasserfälle zu bestaunen, die sich in gleichmäßigen Abständen aus gigantischen Felswänden in den funkelnden See ergossen. Kein Rauschen schien dabei einem anderen zu gleichen, sodass die aus dem Stein brechenden Ströme tosenden Wassers den Eindruck erweckten, betörende Melodien längst vergangener Zeiten wiederzugeben. Hingerissen von diesem nie erlebten Naturphänomen meinten Mira und die anderen Zauberer sogar vereinzelte Flöten-und Trompetenklänge im Hintergrund zu vernehmen, als das Wasser aus den Felswänden in den sanfte Wellen schlagenden See eintauchte. Das Mädchen ließ den Blick bis ans meilenweit entfernte Ufer am anderen Ende dieser fremdartigen Landschaft schweifen, ein besseres Wort fiel Mira in der Schnelle nämlich nicht ein, um diese eigene verborgene Welt unter dem Wolkenturm zu beschreiben.

„Donnerwetter“, hauchte Blin beeindruckt, als er sich der schieren Ausmaße der sie auf allen Seiten umgebenden Felswände richtig bewusst wurde. Alles schien darauf hinzuweisen, dass die Freunde in einem unschätzbar weit reichenden Talkessel gelandet waren, der sich unter einem rötlichen, wolkenlosen Himmel ins Endlose erstreckte. Ein türkisfarbener Himmelskörper, von dem Mira zuerst fälschlicherweise dachte, es sei der Mond, schickte seine Strahlen auf eine winzige Insel im Zentrum des Sees hinab, auf welcher die ungewöhnlichsten Pflanzenarten wuchsen, die das Mädchen je gesehen hatte. Während Mira noch überlegte, was es mit jener geheimnisvollen Insel auf sich haben mochte, nahm sie plötzlich eine Bewegung hoch oben an den steilen Felswänden wahr. Verblüfft starrte sie auf einen der gewaltigen, rund um den Talkessel ins schwarze Gestein gehauenen Höhleneingänge hinauf, von dem die Vierzehnjährige hätte schwören können, dass er vor wenigen Augenblicken noch nicht zu sehen gewesen war. Und aus diesen Höhleneingängen spähten gerade acht gigantische Drachenköpfe auf die ersten Besucher ihres verborgenen Reiches hinab. Mira und ihre Begleiter standen da wie festgenagelt, als jene majestätischen und zugleich auch furchteinflößendsten Geschöpfe Nalanthias schließlich nacheinander ihr Versteck verließen und die Gruppe von Ehrfurcht und Unglauben erfüllter Zauberer auf allen Seiten rasch einkesselten. Ein spürbares Beben ging jedes Mal durch den Erdboden, sobald einer der acht Feuerdrachen seinen ungeheuren, schuppengepanzerten Körper nach einem eleganten Landeanflug darauf niederließ. Dass die schuppenbedeckte Haut bei jedem dieser mächtigen und einst so stolzen Lebewesen eine andere, einzigartige Färbung aufwies, war wohl das Erste, das der immer noch sprachlosen Gruppe aus tapferen Kämpfern ins Auge fiel. Dicht gefolgt von der Tatsache, dass sie ihre Köpfe in den Nacken legen mussten, um den riesenhaften geflügelten Wesen in die funkelnden, bernsteinfarbenen Augen blicken zu können, die Miras Gefährten äußerst misstrauisch, ja sogar feindselig betrachteten. Den Eindruck hatten zumindest die beiden Wächter, Blin und Amara, denen bei dieser Sache alles andere als wohl zumute war. Das wild pochende Herz drohte ihnen jeden Moment aus der Brust zu springen, nun, da sie sich von derart kraftprotzenden Kreaturen umzingelt sahen. Kreaturen, die sie bisher nur aus Geschichten und Erzählungen längst vergangener Jahrhunderte gekannt hatten. Doch auch die Drachenflüsterin selbst hatte so ihre Schwierigkeiten damit, ihren rasenden Herzschlag wieder so weit unter Kontrolle zu bringen, dass sie sich auf all die plötzlich über sie hereinbrechenden Empfindungen konzentrieren konnte, die sie mit einem Mal förmlich zu überwältigen drohten. Mira konnte deutlich fühlen, was in den Herzen der Feuerdrachen vorging: Verwirrung, Unsicherheit, Wut, dazu unsäglicher Schmerz und Trauer um uralte Zeiten. Alles mächtige Emotionen, die von deren lebhaft pulsierenden Aura direkt auf Mira überzugehen schienen. Und hinter all diesem mehr als bedrückenden Gefühlschaos konnte die Drachenflüsterin noch etwas anderes erkennen, als die acht sie umzingelnden Geschöpfe mit ihren unergründlichen Bernsteinaugen auf sie herabblickten: Hoffnung.

„Dann ist es also wahr“, drang Mira diese ihr vertraute Stimme wieder ins Bewusstsein.

„Die Drachenflüsterin existiert tatsächlich.“ Sprachlos starrte das Mädchen in die Runde riesenhafter geflügelter Kreaturen, solange, bis schließlich einer der Drachen seinen mächtigen Hals über sie beugte und von oben bis unten eingehend in Augenschein nahm. Mira musste unwillkürlich schlucken und lenkte ihren Blick rasch auf den schuppenbespickten Brustkorb des vor ihr aufragenden Wesens. Das schimmernde Farbenspiel aus Nuancen in tiefstem Ozeanblau hatte fast schon eine hypnotische Wirkung auf sie. Erst, als ein gigantisches Paar Augen aus funkelndem Bernstein direkt vor ihrem Gesicht auftauchte, wich die Vierzehnjährige erschrocken zurück, und sie bemerkte ein wenig verlegen, dass der Drache bereits wieder mit ihr gesprochen hatte. Ein Blick in die Gesichter ihrer sie fragend und neugierig betrachtenden Begleiter war Beweis genug dafür, dass Mira als Einzige unter ihnen dessen samtweiche Stimme vernommen hatte.

„Es scheint unserer angeblichen Retterin ja förmlich die Sprache verschlagen zu haben“, ließ sich endlich die wesentlich höhere Stimme eines anderen Drachen vernehmen, dessen türkisgrüner Schuppenpanzer mit den Strahlen des mysteriösen Himmelkörpers über ihnen in gnadenlose Konkurrenz zu treten schien. Sein mehr als spöttischer Tonfall gefiel dem Mädchen ganz und gar nicht.

„Wundert es dich, wenn ihr alle nichts Besseres zu tun habt, als sie zu beglotzen wie eine tanzende Meerjungfrau? Sapherius, um Himmels Willen, nimm endlich dein dämliches Grinsen da weg!“ Diese Stimme gehörte eindeutig zu einem weiblichen Feuerdrachen, der sich, wie Mira sogleich feststellte, von seinen männlichen Artgenossen durch etwas schmälere Flügel und beinahe herzförmig anmutenden Schuppen unterschied. Die goldblonde Zauberin hätte schwören können, dass jenes feuerrote Drachenweibchen mit schneeweiß umrandeten Flügeln ihr gerade schelmisch zuzwinkerte. Es hätte aber auch alles nur bloße Einbildung sein können. Das ozeanblaue Wesen vor ihr ließ ein genervtes Seufzen hören, nahm aber seinen Kopf aus Miras Blickfeld, was die Vierzehnjährige wieder ein wenig aufatmen ließ. Sie wollte gerade ihren ganzen Mut zusammennehmen, um das Wort an die Gruppe mächtiger Himmelswesen zu richten, als Blin sich von weiter hinten einmischte.

„Würde uns mal bitte jemand erklären, was hier los ist?“, bat er ungeduldig. „Nicht zu wissen, ob man in den nächsten Sekunden von einem dieser Dinger verspeist wird, ist nämlich nicht ganz so lustig, wie es sich vielleicht anhört.“ Amüsiert sah Mira dabei zu, wie Amara ihrem Freund einen kräftigen Ellbogenstoß in die Rippen versetzte und genervt mit den Augen rollte.

„Kein Bange, sie tun uns nichts“, versicherte sie ihnen rasch, als sie die besorgte Miene ihres Vaters bemerkte, drehte sich dann aber unsicher zu den Bewohnern des verborgenen Drachenreiches um. „Damit liege ich doch richtig, oder?“ Es war, als tauschten die sie umgebenden Kreaturen amüsierte Blicke aus.

„So gern ich deinem Freund für diese Unverschämtheit auch den Kopf abbeißen würde“, begann Sapherius mit fast schon sehnsüchtiger Stimme, „denke ich dennoch, dass es für uns Drachen alle das Beste wäre, einen so überaus wichtigen Besuch nicht gleich auf die Speisekarte zu setzen.“ Verblüfft schaute Mira zu dem blauen Drachen auf.

„Ihr könnt meine Freunde verstehen? Aber ich dachte, dass…“

„Natürlich können wir sie verstehen“, unterbrach ein glänzend violett gefärbter Drache sie belustigt. „Wir sind die mit Abstand ältesten Wesen Nalanthias und kennen jede Sprache, die seit Anbeginn der Zeit hier gesprochen wurde.“

„Für ein gemütliches Kaffeekränzchen am Feuer hilft diese Tatsache allerdings wenig, wenn man selbst von anderen nicht verstanden wird“, ergänzte das rote Drachenweibchen ironisch. Ihr violetter Artgenosse legte verdutzt den gewaltigen Kopf schief. „Du träumst von einem gemütlichen Kaffeekränzchen am Feuer?“

„Das war bildlich gemeint, du Hohlkopf.“

„Könnten wir wieder zu unserem eigentlichen Thema kommen?“, schlug Sapherius genervt vor. „Oder muss ich euch zwei ewigen Streithähne daran erinnern, dass wir endlich die legendäre Drachenflüsterin vor uns stehen haben?“ Zutiefst verlegen starrten die Drachen zu Boden. Mira hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich die Schuppen des Weibchens vor Scham noch rötlicher färbten, als sie ohnehin schon waren. Eine bemerkenswerte Leistung, dass musste sie ihr lassen.

„Du musst die beiden entschuldigen“, vernahm sie erneut Sapherius samtweiche Stimme.

„Wenn man erst mal so viele Jahre versteckt vor der Außenwelt zugebracht hat, kann es einem auf die Dauer ganz schnell langweilig werden.“

„Glaub mir, an solche Albernheiten bin ich weiß Gott gewöhnt.“ Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Inneres, als das Mädchen dabei an die ständigen Neckereien zwischen Blin und seinem besten Freund zurückdachte, der mit Isabelle in die Tiefen des großen Wolkenturmes gestürzt war. Sie blendete das Bild rasch aus, da ihr bereits die Tränen in die Augen stiegen. So als hätte Sapherius ihre Gedanken gelesen, sagte er plötzlich: „Mir scheint, dass zwei deiner Gefährten ein klein wenig vom richtigen Weg abgekommen sind, wenn ich ihre Anwesenheit auch jetzt noch deutlich spüren kann.“ Mira schwankte bei diesen Worten ein paar Schritte zurück, als eine Welle der Erleichterung über sie hereinbrach.

„Sie…sie sind noch am Leben?“

„Oh ja. Und wenn mich nicht alles täuscht, werden sie jeden Moment bei uns eintreffen, genau…“, die unergründlichen Bernsteinaugen schlossen sich einen Atemzug lang, „jetzt.“ Mit vor freudiger Erwartung pochendem Herzen drehte sich die junge Drachenflüsterin um…und sah, als einige der Drachen wie auf einen stillen Befehl hin zur Seite wichen, tatsächlich die zwei totgeglaubten Wächter Nalanthias Hand in Hand aus einem Spalt in der hoch aufragenden Talwand langsam ins Freie treten. Wenn man von unzähligen Brandflecken in ihrer Kleidung und den rußverschmierten Gesichtern einmal absah, machten Philipp und Isabelle einen recht lebhaften Eindruck. Für Zauberer, die vor kurzem auf einem endenden Gleiß ins sichere Verderben gerollt waren, standen sie jedenfalls bemerkenswert gut auf den Beinen.

„Das glaub ich ja nicht!“, hauchte Amara fassungslos und lief schließlich schnurstracks auf ihre Freunde zu. Es dauerte eine Weile, bis auch Mira, Leric und Blin aus ihrer Starre erwachten und beinahe über ihre eigenen Füße stolperten, als sie ungebremst zu der Gruppe aufschlossen. Es war ein tränenreiches Wiedersehen, und Mira hielt sich vorerst im Hintergrund, als die vor Glück sprachlose Wasserwächterin zuerst Isabelle, dann Philipp fest in den Arm nahm. Dem Lichtwächter schien es ganz offenbar schwer zu fallen, sich zwischen einem kräftigen Händedruck und einer freundschaftlichen Umarmung zu entscheiden, als er dem Feuerwächter Aug in Auge gegenüberstand. Er entschied sich für den Händedruck.

„Schön zu sehen, dass deine legendären Überlebenskünste nicht nur bloßes Gerede waren“, sagte er grinsend. Ein breites Lächeln umspielte Philipps Mundwinkel.

„Du weißt doch, ich neige gelegentlich zu höchst dramatischen Auftritten.“

„Apropos dramatischer Auftritt“, ließ sich endlich auch die Eiswächterin ein wenig verunsichert vernehmen, nachdem Mira und Leric die beiden Zauberer ebenfalls in den Arm genommen hatten.

„Ihr habt die letzten noch lebenden Feuerdrachen also gefunden?“ Ihr Blick war voll und ganz auf die acht im Kreis sitzenden Riesen gerichtet.

„Nein“, verbesserte sie die Drachenflüsterin lächelnd.

„Wir haben sie gefunden.“

Teil II

Nalanthia

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