Читать книгу Blauer Himmelsstern - Bianca Wörter - Страница 6
4. Macht
ОглавлениеMeine Welt, in der ich bisher lebte, das Wirken der Naturgesetze, die Einhaltung gesellschaftlicher Normen, war in weite Ferne gerückt - sie existierte nicht mehr im Angesicht Randors. Alles hatte sich aufgehoben, die Gedanken überschlugen sich - ich war im Feuer meiner Neugier und Angst gefangen und wusste nicht, ob ich dort je wieder herauskommen würde, ja, ich wusste noch nicht einmal, ob ich das wirklich wollte!
Hatte es tatsächlich Anzeichen gegeben, dass die Naturgesetze auf Randor andere als auf der Erde waren, dass sie zum Teil aufgehoben wurden? Ich war zu oft bewusstlos gewesen und konnte mir den Rest eingebildet haben. Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken, da es sich zu fantastisch anfühlte! Andererseits konnte mein Verstand nicht leugnen, dass ich nach Randor gekommen war. Angst hatte ich schon, auf Gewissheit zu stoßen. Bisher war alles gut für mich gelaufen.
Don‘kar stand sichtlich verstört vor mir. Er betrachtete mich verstohlen und versuchte erfolglos herauszufinden, worüber ich die ganze Zeit grübelte. Ich hob meinen Kopf und blickte ihm in die Augen. Dieses wunderbare Blau ließ mich augenblicklich meine wirren Gedanken vergessen. Er hatte Macht über mich, ich konnte es nicht leugnen, aber diese Macht war eine andere als die, die er angedeutet hatte. Vielleicht konnte er mir helfen, herauszufinden, was für eine Macht mir das Amulett ermöglichen sollte.
„Hast du auch die Macht gespürt, als du das Amulett getragen hattest?", wollte ich von ihm wissen.
„Nein, bei mir hatte es nur die Träume geformt. Die volle Macht daraus zu schöpfen, ist nur einem Engel möglich."
Und ich las weiter in seinen Gedanken, dass ihm keine Erlaubnis zugesprochen war, das Amulett zu tragen. Im Gegenteil, es wäre sehr gefährlich für ihn geworden bis hin zu einer tiefen Ohnmacht und Gefangener seines eigenen Traumes zu werden. Sein Vater hatte ihn gewarnt, aber er war genauso neugierig wie ich. Das Verbot seines Vaters zu ignorieren hatte schließlich dazu geführt, dass er mich gefunden und nach Randor gebracht hatte. Ich vermutete, dass er mit der Macht des Amulettes die Macht des Wissens besaß und sich nicht mehr an mich erinnern konnte, weil er es nicht mehr trug. Ich blickte ihn mit einem wissenden Ausdruck in meinen Augen an und sah das Verständnis in Don‘kars Augen aufglimmen. Er nahm mich in die Arme und hielt mich eine halbe Ewigkeit sanft an sich gedrückt. Es war so schön, dass ich mir wünschte, er würde mich nie wieder loslassen und ich könnte die Zeit anhalten.
Ich fürchtete, dass ich genau das getan hatte, denn etwas verwirrte mich in diesem Moment, beunruhigte mich.
Etwas war anders.
Die Flammen im Kamin, die lustig vor sich hin loderten, nachdem Don‘kar die Glut geschürt und neue Holzscheite nachgelegt hatte, flackerten nicht mehr. Das Feuer stand still, die Schatten an der Wand in meinem Blickfeld blieben an der gleichen Stelle stehen. Was mich noch mehr entsetzte, war die Tatsache, dass Don‘kars Herz aufgehört hatte zu schlagen. Ich löste mich aus seinen steifen Armen und er stand weiter in der liebkosenden Haltung da. Entsetzt schlug ich mir die Hände vor‘s Gesicht, unterdrückte einen Aufschrei und zwang mich, schnell nachzudenken. Ich hatte mir gewünscht, dass der Augenblick nie aufhören würde und genauso war es geschehen. Mit aller Macht konzentrierte ich mich auf den Wunsch, dass die Zeit in ihrem Verlauf weitergehen sollte. Die Flammen und die Schatten an der Wand begannen einen Augenblick darauf wieder ihr Spiel zu vollführen, den ewigen Tanz bis zum Erlöschen und auch Don‘kar regte sich wieder.
„Ich war ein wenig müde, muss eingeschlafen sein, aber ich hatte dich doch im Arm gehalten...", stammelte Don‘kar verwirrt, als er mich ein paar Schritte vor sich stehen sah.
Ich blickte ihn stumm an, konnte ihm aber die Wahrheit nicht sagen. Er hätte es genauso wenig wie ich verstanden. Das belastete mich. Ich konnte die Macht nicht einschätzen, aber wusste nun, dass sie existierte und größer war, als mein Verstand es erfassen konnte. Ich wusste nicht, ob Don‘kar gestorben wäre, wenn die Zeit noch länger erstarrt geblieben wäre. Ich wusste nicht, ob die Zeit nur in der Hütte oder ob in diesen Momenten auf ganz Randor die Zeit still gestanden hatte oder im ganzen Sonnensystem oder sogar im ganzen Universum! Ein Gedanke begann mich besonders zu quälen: War Randor eine Welt im blauen Himmelsstern oder war dieser ein Tor zu einem anderen Universum, einem anderen Sonnensystem? War ich gefangen in einer kleinen, blauen Glasmurmel oder hatte es mich in ein weit entferntes Sonnensystem geschleudert? So viele Fragen und keine einzige Antwort! Vielleicht würde ich nie eine Antwort darauf erhalten.
Don‘kar konnte mein Verhalten immer weniger verstehen und ich nahm es ihm nicht übel, da ich selbst nicht wusste, was warum geschah. So verschloss ich meine Gedanken in meinem Innersten und entschied, die Dinge von nun an auf mich zukommen zu lassen. Das ständige tiefe, verzweifelnde Grübeln machte mich krank, ich musste einfach dem Kommenden mit Mut entgegensehen.
„Wie geht es Ralin?", fragte ich, um ein wenig abzulenken und die angespannte Situation zu entschärfen.
„Nach unserem Ritt ist er ein wenig erschöpft gewesen aber jetzt steht er seit einer Weile voller Ungeduld im Stall und brennt darauf, wieder weite Strecken zu ziehen. Wir sind sonst beinahe jeden Tag in der Eiswüste geritten."
„Bis ich da war."
„Ja, bis du da warst."
Ich begann, mich ein wenig schuldig zu fühlen, weil beide wegen mir ihren gewohnten Tagesablauf geändert hatten.
Aufmunternd bestätigte ich: "Jetzt braucht ihr keine Rücksicht mehr auf mich zu nehmen, ich bin in Ordnung."
„Du kannst mit auf die Jagd kommen, wenn du möchtest", bot mir Don‘kar an.
Oh ja, dachte ich, aber ich konnte doch zu Fuß keine weiten Strecken im hohen Schnee zurücklegen. Das wollte ich ihm lautstark sagen, hielt allerdings inne, als ich einen seiner Gedanken auffing und dieser mich so sehr beunruhigte, dass ich stutzte. Was hatte er da gedacht? Hab ich das wirklich richtig verstanden?
‚Wie sie wohl aussehen wird?‘
Wie ich wohl aussehen werde? Wieder ein Geheimnis, das er mir verschwiegen hatte! Ich wollte die Dinge auf mich zukommen lassen, doch nun überholten mich die Ereignisse wieder einmal mit Lichtgeschwindigkeit! Wie ich wohl aussehen werde? Ein Mensch, ein Engel, ein Wächter. Ich spürte, dass er etwas anderes damit meinte, denn die Macht des Amulettes begann sich in mir zu regen. Und ein Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Doch wo? Und wann? Und warum? Wie ich wohl aussehen werde?
„Wollen wir gehen?", fragte ich und der Bann, in den meine labyrinthartigen Gedankengänge mich gezogen hatten, war gebrochen.
Don‘kars Gesicht erstrahlte. Als er die Tür öffnete, erfasste mich ein eiskalter Luftstrom, wirbelte meine Haare ins Gesicht und zerrte an meinem Körper. Er legte sich kurz darauf und doch hatte ich in diesem Luftstrom etwas gefühlt, das ich mit den Worten magisch, geheimnisvoll und unergründlich beschreiben konnte. Dieses Gefühl hinderte mich daran, das Vulkanfell mitzunehmen, das ich dringend gegen die vorherrschende Kälte benötigte.
Wie ich wohl aussehen werde? Ich hatte Macht, ich würde etwas sein, was nie ein Mensch zuvor gewesen war, ich würde ein Wesen mit unendlicher Macht sein, ein Wesen mit unsterblicher Magie. In diesem Moment wurde mir bewusst, warum ich immer dachte, dass ich alles schon einmal erlebt hatte. Es war ein Déjà-vu in dem Sinne, dass mein Traum auf einmal für mich Realität wurde – jetzt augenblicklich! Diese Erinnerung verdeutlichte mir, dass ich die Macht nicht erst besaß, seit ich das Amulett trug, ich besaß sie von Anfang an, das Amulett hatte diese Erinnerung wieder geweckt, ließ mich die Macht fühlen, die tief in mir geschlafen hatte. In diesem Moment der Erkenntnis fühlte ich mich unbeschreiblich mächtig. Das Gefühl der Macht in mir verstärkte sich so sehr, dass ich dachte, ich würde vor Glück und Freude beinahe sterben. Endlich war der leere Raum in mir, dem ein besonderes Gefühl gefehlt hatte, wieder angefüllt. Ich war vollständig. Ich lebte!
Don‘kar sank vor mir auf die Knie und verwirrt blickte ich ihn an.
„Steh bitte auf!", bat ich ihn und bemerkte, was ihn so sehr verwirrte, dass er vor mir auf die Knie sank.
Ich starrte an mir herunter und erkannte, dass mein ganzer Körper in einem blauen, einem sehr bekannten blauen Licht leuchtete, geradezu darin eingehüllt war. Ich berührte Don‘kar sanft an den Schultern und wollte ihn auf die Beine ziehen, denn ich wusste, warum er vor mir kniete. Er hatte zum ersten Mal den Beweis gesehen, dass ich die Macht tatsächlich besaß. Es war ein Zeugnis meiner Macht, aber das ganze Ausmaß eröffnete sich mir noch nicht. Ich war mir sicher, dass ich es bald herausfinden würde.
Don‘kar stand zögernd auf: "Ich habe es gewusst, die ganze Zeit. Du bist der Engel, die Wächterin."
Wir liefen gemeinsam in den Stall, in dem Ralin stand. Der Stall grenzte an die Hütte und war beinahe so groß wie diese. Um in den Stall zu gelangen, mussten wir um die Hütte herum gehen und schon hörte ich das aufgeregte Schnauben und Wiehern des Pferdes, das uns gewittert hatte. Während des kurzen Weges unter den dunklen Tannen um die Hütte herum berührte ich Don‘kar sanft am Arm.
„Knie nie wieder vor mir nieder. Du hast mich aus der Eiswüste gerettet, dir verdanke ich mein Leben", betonte ich ernst.
„Warum hast du das Fell nicht mitgenommen, wenn wir jetzt in die Eiswüste gehen?", fragte er, anstatt auf meinen Wunsch zu reagieren.
„Ich werde es nicht benötigen", stellte ich nüchtern fest.
„Das heißt, dass du dich aus der Eiswüste selbst hättest retten können", schlussfolgerte er.
„Da habe ich mich noch nicht an meine Macht erinnert. Erst dein Amulett hat die verborgenen Kräfte in mir geweckt."
Don‘kar begann, Ralin gewissenhaft zu satteln und als er ihm das Zaumzeug anlegte, war der Rappe nicht mehr zu halten, so viel Energie pulsierte in dem Pferdekörper, der unbedingt ins Freie wollte. Ralin stupste mich freundschaftlich am Rücken, als wir nach draußen gingen. Ich lächelte, drehte mich um, streichelte ihm sanft über die Nüstern und redete leise mit ihm. Er drehte die Ohren aufmerksam nach vorne und beäugte mich, als ob er jedes meiner Worte tatsächlich verstehen würde. Ich drückte mich an Ralins Fell, weil ich zu frieren begann. Nur, weil ich die Macht hatte, war ich trotzdem nicht gegen die Kälte gefeit. Vor der Hütte blieben wir drei stehen und Don‘kar strahlte erwartungsvoll.
Ich entfernte mich ein paar Schritte von Don‘kar und Ralin, stellte mich mit beiden Beinen fest auf den gefrorenen Boden und schloss die Augen. Ich spürte, dass ich bereit war, von meiner Macht Gebrauch zu machen. Sie begann in meinem ganzen Körper zu fließen, wie das Blut in meinen Adern. Das blaue Licht um mich herum intensivierte sich, ich fühlte das beginnende Vibrieren in meinen Eingeweiden, meinen Armen, Beinen und meinem Kopf. Sämtliche Nerven pulsierten in mir - ich gab mich dem Gefühl ganz hin. Zu spüren, wie meine Arme wuchsen, wie sie länger wurden, wie ich nicht mehr auf meinen zwei Beinen stehen konnte, mich nach vorne fallen ließ, war ein erstaunliches Gefühl. Mein Hals formte sich länger und breiter, ich fühlte die kräftigen Halsmuskeln, die sich anspannten, mein Kopf nahm eine gänzlich andere Form an und etwas Starres ragte aus meiner Stirn heraus, was ebenso ein Teil meines neuen Körpers war, wie das Fell, das plötzlich aus meiner Haut wuchs und sich rasch verdichtete. Meinen Körper empfand ich wie eine einzige, formbare Masse aus Wachs - er mutierte, veränderte sich, wurde fest und warm und die Verwandlung war vollendet.
Ich wagte es noch nicht, die Augen zu öffnen, doch eines spürte ich mit überraschender Klarheit: Die Kälte um mich herum ließ meinen neuen Körper nicht frieren. Ich öffnete langsam die Augen und drehte mich nach Don‘kar und Ralin um. Das Pferd bewegte sich nicht, sein Atem aus den Nüstern stob in kleinen, weißen Wolken vor seinem Maul. Es blickte mich wissend an. Don‘kar stolperte mit langsamen, unsicheren Schritten auf mich zu. Seine Augen glänzten fiebrig, doch es war kein Fieber in ihm, es war das erfüllte Sehnen. Er schlang mir seine Arme um meinen Hals, streichelte meine dichte Mähne, berührte ehrfurchtsvoll mein langes, gewundenes Horn.
„Lass uns durch die Eiswüste reiten", sprach ich und war erstaunt über meine sanfte Stimme, die sich in meinen neuen Ohren anders, unbekannt und doch vertraut anhörte.
Don‘kar stieg auf Ralin auf und dieser bewegte sich auf mich zu. Er knabberte an meiner Mähne und rieb seine Nüstern an meinem weichen, weißen Fell am Hals. Ich erwiderte die gleiche zärtliche Geste, dann drehte ich mich auf meinen Hinterbeinen um und stürmte aus dem Wald heraus in die Eiswüste hinein.
Ich war eins mit den eisigen Böen, es gab für mich eine Zeit lang nur noch das Rauschen des Windes in meiner Mähne, das kraftvolle Ausschreiten meiner vier Beine, das Ausstoßen hoher, wiehernder Laute, die Freude an meinem neuen, mächtigen Körper. Ich ließ mich in den Schnee fallen, wälzte mich auf dem Rücken hin und her, stand wieder auf, schüttelte das kalte, weiße Pulver aus meinem Fell, galoppierte weiter durch die hohen Schneewehen, erkannte die unendliche Weite des Weißes mit meinen neuen, uralten Augen und verfiel schließlich leicht erschöpft in einen lockeren Trab. Der Wind rauschte in meinen Ohren, der weiße, dampfartige Atem tanzte vor meinen Augen - ich genoss das Gefühl der Freiheit, mich ganz anders als in einem menschlichen Körper bewegen zu können.
Als ich ein Schnauben neben mir vernahm, drehte ich meinen Kopf. Don‘kar und Ralin ritten neben mir. Ralin war begeistert von meinem neuen Körper und ich begrüßte ihn freudig wiehernd. Don‘kar hatte immer noch dieses entrückte Glänzen in seinen Augen, glaubte noch nicht ganz, was er doch sah. Wenn ich es selbst nicht gespürt, wenn ich intensiver darüber nachgedacht hätte, wären ehrlicherweise Zweifel in mir aufgekommen. Skrupel hätten fraglos an mir genagt, bis ich wieder Crisca gewesen wäre, die alte Crisca in ihrer menschlichen, zerbrechlichen Hülle zitternd in der Eiswüste stehend. Ich ließ diese Bedenken nicht zu, denn ich fühlte mich so glücklich wie lange nicht mehr und genoss dies in vollen Zügen. Sofort begann ich wieder zu galoppieren, veranstaltete mit Ralin ein Wettrennen, der es mit Don‘kar als zusätzliche Last natürlich schwerer hatte als ich. Er holte mich immer wieder ein - ich war ein sehr kleines Einhorn, hatte meine Gestalt geändert, aber nicht meine Größe.
Wir waren weit von dem Tannenwald entfernt, als ich einen kleinen See in der Ebene entdeckte. Ich galoppierte voran und bewunderte die vereiste Oberfläche, die halb mit Schnee bedeckt war. Die Wasserpflanzen und Ufergewächse am Rande des Sees waren lustige, kleine Schneemänner und plumpe Schneehaufen, die durch ihr weißes Funkeln ein interessantes Eigenleben entwickelten. Ich senkte den Kopf und berührte die starre Oberfläche mit meinem Horn. Augenblicklich begann das Eis an der Fläche, die mein Horn berührte, zu schmelzen. Das zuerst stecknadelkopfkleine Loch breitete sich schnell nach allen Seiten aus und nach kurzer Zeit war ein handtellergroßes Stück geschmolzen. Ich hob meinen Kopf und beobachtete den Prozess fasziniert. Bald war die eisfreie Stelle so groß, dass ich mich in dem darunter zum Vorschein kommenden dunklen Wasser spiegeln konnte. Mir blickte der schmale, lange Kopf eines Einhorns entgegen, aus der Mitte meiner Stirn entsprang ein gewundenes Horn und meine Augen blickten mir unendlich traurig, alt und weise entgegen. Ich stieß einen wiehernden Laut aus, halb Überraschung, halb Traurigkeit. Nachdem ich mich von meinem neuen Spiegelbild losgerissen hatte, bemerkte ich Don’kar in meiner Nähe. Er beobachtete mich aus seinen Augenwinkeln heraus und als ich mich zu ihm umdrehte, wandte er sich offen in meine Richtung.
„Du bist wunderschön", kam es über seine Lippen.
Ich schritt auf ihn zu. Eine seltsame Spannung lag auf einmal in der Luft, ich fühlte sie, konnte sie aber nicht zuordnen. Ich berührte Don‘kar mit meinem Horn sanft an seiner Wange. Er schlang seine Arme um meinen Hals, kraulte meine Mähne mit großer Sorgfalt, als ob er befürchtete, mir weh zu tun.
„Lass uns jagen gehen", hörte ich mich sagen.
Er ließ mich los: "Wir sind zu weit von meinem Jagdgebiet entfernt, ich weiß nicht, ob wir hier erfolgreich sein werden."
„Lass es uns versuchen."
Wir wurden wirklich nicht sehr erfolgreich, aber es gelang uns, einige Hasen zu erlegen und somit unser Abendessen zu sichern. Ein gutes Abendessen, obwohl ich gar keinen Hunger mehr verspürte und mir die kleinen Fellknäule leid taten, andererseits war mir bewusst, dass sie unser Überleben im Winter sicherten.
Nach einigen Stunden, ich erkannte Müdigkeit in Don‘kars und Ralins Augen, erreichten wir den dunklen Tannenwald, in dem sich Don‘kars Hütte befand. Ich spürte nicht einmal den Hauch einer Müdigkeit in meinem neuen, wundervollen Körper. Unsterblich, kraftvoll, ausgeruht und unbesiegbar fühlte ich mich.
Don‘kar führte Ralin in den Stall, nahm ihm den Sattel und das Zaumzeug ab, rieb ihn mit duftendem Stroh trocken und legte ihm zum Schluss ein warmes Fell über. Ich stand die ganze Zeit daneben und spielte mit Ralin, nun doch müde und erschöpft. Nachdem wir uns von Ralin verabschiedet hatten, gingen wir um den Stall herum und standen schließlich vor der Eingangstür zu Don‘kars Reich. Nur mit äußerster Konzentration konnte ich ein Bein nach dem anderen auf den gefrorenen Boden setzen - ich war am Ende meiner Kräfte und zitterte am ganzen Leib.
Es war die Zeit gekommen, wieder meine menschliche Gestalt anzunehmen. Innerlich sträubte ich mich dagegen, fühlte ich mich doch in der Gestalt eines Menschen zerbrechlich, sterblich und gleichzeitig wusste ich, dass ich nicht ewig ein Einhorn sein konnte, nicht sein durfte. Nie wieder böte sich dann die Gelegenheit, nach Hause kommen zu können. Wollte ich das? Nach Hause? Ich schüttelte diesen Gedanken aus meinem Kopf, da es noch nicht soweit war, darüber nachzudenken. Ich durfte kein Einhorn bleiben. Einhörner gab es nicht mehr, hatte es vielleicht noch nie gegeben, zumindest auf der Erde nicht. Ich würde für alle Zeit allein bleiben - dieser Gedanke jagte mir Angst ein. Als Mensch hatte ich Don‘kar an meiner Seite. Dennoch, dieses Gefühl der Macht, ein Einhorn sein zu können, wann immer ich es wollte oder wenn es geboten schien, war überwältigend.
Durch intensive Konzentration spürte ich, wie sich die Macht in mir sammelte, Energie sich in und um meinen Körper verdichtete und ich bereit wurde für die Verwandlung. Ich schloss die Augen und spürte die einsetzenden Veränderungen, die einhergingen mit einer totalen Erschöpfung. Meine Arme begannen zu schrumpfen, mein Kopf fühlte sich an, als ob sich die Masse darin verdichten würde, mein gesamter Körper vibrierte. Ich fiel auf die Knie, spürte die eisige Kälte meine Haut beißen, die nicht mehr von einem wärmenden Fell bedeckt war. Mein Bewusstsein schwand zunehmend, der Kampf dagegen war erfolgreich – die Verwandlung vollendet! Ich hielt die Augen geschlossen, kämpfte gegen die Wellen der Übelkeit an, die meinen Körper schüttelten, die schließlich verebbten. Als ich einen Blick auf meine Arme riskierte, überkam mich eine große Erleichterung - sie sahen wieder vollkommen menschlich aus. Ein kontrollierender Blick auf meine Beine, die im Schnee lagen und sich völlig taub vor Kälte anfühlten, bestätigte mir, dass die Verwandlung gelungen war. Ich grinste in mich hinein. Nicht übel für einen Menschen, der sich zum ersten Mal in ein Einhorn und wieder zurück verwandelt hatte - wenn der Prozess zum Schluss auch nur durch meine Erschöpfung gelang. Don‘kar hatte mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen und ein Gedanke, den ich kurz von ihm auffing, löschte die letzten Zweifel in mir aus. Ich war wieder die Crisca, die er draußen in der Eiswüste vor dem Tod gerettet hatte. Dennoch las ich ein verstecktes Gefühl des Bedauerns in seinen Gedanken - ein Einhorn hinterlässt Spuren in jedem, der es gesehen hatte.
Frierend rappelte ich mich auf und Don‘kar stützte mich, indem er mich am Arm festhielt, er hatte Angst, dass ich vor Erschöpfung stürzen würde. Dankbar lächelte ich ihn für diese Fürsorge an - ich fühlte mich sehr schwach. Die Verwandlung hatte mich mehr Kraft gekostet als geahnt.