Читать книгу Der Würfel - Bijan Moini - Страница 3
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ОглавлениеDie Fenster waren mit schwarzer Folie überzogen. Es roch nach feuchtem Holz und chlorhaltigem Schimmelentferner. Die Lüftung im Bad und der Abzug in der Küche surrten auf Hochtouren. Ein schwerer Vorhang versperrte den Blick in den Flur, davor stapelten sich ungeöffnete Pakete.
Taso lag in Boxershorts und T-Shirt auf dem Schlafsofa. Seine Finger spielten geübt mit einer großen silbernen Münze, als von außen etwas leise an der Scheibe kratzte. Er erstarrte und lauschte, bis das Geräusch verstummte. Nachdem es still blieb, wandte er sich zur Deckenlampe und schloss abwechselnd das linke und das rechte Auge. Mal verdeckte der hängende Lampenschirm die Uhr über der Küchentür, mal nicht. Mal hatte er alle Zeit der Welt, mal war er zu spät.
Schon zum fünften Mal warf er die Münze in die Luft und fing sie mit der flachen Hand wieder auf. Bei den vorherigen Würfen hatte die kaum noch erkennbare Kopfseite oben gelegen. Nun war es die ebenso abgewetzte Fünf.
Taso stöhnte – aber Zahl war Zahl. Missmutig erhob er sich und schlurfte zum offenen Kleiderschrank neben dem Sofa. Die vielen Kleiderbügel waren jeweils von eins bis sechs nummeriert: Auf den ersten sechs Bügeln hingen Hosen verschiedener Farben und Schnitte, auf den nächsten Hemden, dann Pullover und Jacken. Darunter standen mehrere Paar Schuhe. Er beugte sich über einige Bauchfalten nach unten, entnahm einer Schublade des Schranks fünf Würfel und warf sie auf den Boden. Der Würfel, der dem Schrank am nächsten lag, zeigte eine Zwei. Taso griff nach dem zweiten Bügel der Stange. Die weiße Schlaghose also. Der zweitnächste Würfel zeigte eine Sechs. Taso verzog das Gesicht und nahm den sechsten Hemdenbügel aus dem Schrank.
Nachdem er sich vollständig angezogen hatte, prüfte er im Badspiegel seufzend seine Erscheinung. Hawaiihemd, Wollpullover und Jeansjacke passten nicht besonders gut zu Schlaghose und Turnschuhen. Er war zwar gewohnt, wie ein Verrückter rumzulaufen, aber so ganz überwunden hatte er seine Eitelkeit nie. Er strich sich etwas Haargel auf die Finger und verteilte es wild in seinen dunkelbraunen Haaren, damit sie ihm nicht mehr vor die Augen fielen. Während er sich die Hände wusch, vermied er weitere Blicke in den Spiegel. Vielleicht sollte er ihn abhängen, um sich unnötiges Leid zu ersparen. Oder einfach auch mit schwarzer Folie überkleben.
Zurück im Zimmer nahm er ein kugelförmiges Päckchen mit einer feinen Schleife vom Tisch und steckte es in die linke Hosentasche. In die rechte schob er routiniert seine Münze, trat durch den Vorhang in den Flur und schloss ihn so hinter sich, dass vom Rest der Wohnung nichts mehr zu sehen war. Auf einer Kommode neben der leeren Garderobe stand eine kleine schwarze Box. Er öffnete sie mit demselben Widerwillen wie früher seine Zahnspangendose. Sie war vollständig mit Schaumstoff ausgekleidet, der einen Behälter mit zwei Klappen schützte. Oder besser: Taso vor seinem Inhalt.
Unter der ersten Klappe schwammen zwei braune Kontaktlinsen in einer milchigen Flüssigkeit. Auf ihre Oberfläche war ein Abbild von Tasos Augen gelasert, die schwarzen Pupillen waren kleine Kameras. Mit gestrecktem Zeigefinger setzte sich Taso die Linsen nacheinander ins Auge; sofort sogen sie sich an seinem Augapfel fest. Taso verabscheute dieses Gefühl und mehr noch, was darauf folgte. Für einen Moment war alles schwarz. Dann sah er wieder die Garderobe im Flur, übertragen von den Kameras in seinen Augen. Vor ihm drehte sich ein dreidimensionaler Würfel ein paar Sekunden um die eigene Achse und wechselte dabei fließend die Farbe von Weiß zu Grau zu Silber und schließlich zu Gold.
Nach dem Würfel erschienen Buchstaben. Bitte setze deine SmEars ein.
Taso hatte die zweite Klappe bereits geöffnet, nahm zwei wachsartige Stöpsel heraus und schob sie in die Ohren, wo sie sich sofort verkürzten und gleichzeitig so ausdehnten, dass sie seinen Gehörgang perfekt verschlossen.
Danke, dass du Smarts von YEE nutzt, die meistgetragenen SmEyes und SmEars der Welt, sagte eine Frauenstimme in seinen Ohren.
Im Randbereich seines Blickfelds erschienen die Icons zahlreicher Applikationen. Ein Newsfeed und ein Kalender bettelten wackelnd um Aufmerksamkeit, auf der anderen Seite blinkten die Absender und Betreffzeilen einiger E-Mails und einer Videonachricht. Von Tim war nichts dabei.
»Vision leeren«, sagte Taso und sah wieder nur den nackten Flur. Mit einem leichten Stechen im Bauch verließ er die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Vor ihm erschien ein dreidimensionales Schlüsselsymbol in der Luft.
Die Tür verriegelt sich in drei Sekunden.
Er ging die Treppe hinunter und hörte den Schließmechanismus der Wohnungstür, bevor sich der Schlüssel vor ihm in einen grünen Haken verformte, der einen Augenblick später verschwand. Eine halbe Etage tiefer blieb er auf der untersten Treppenstufe stehen. Der Schritt auf die Straße kostete ihn jedes Mal Überwindung. Die Wohnung war seine Welt, draußen herrschte der Würfel. Der Würfel war überall: in Drohnen am Himmel, in Fahrzeugen auf der Straße, in den Smarts anderer Menschen, in Kameras, Mikrofonen und Sensoren an Kleidern, Körpern und Gebäuden. Er lauerte gierig, wartete auf Taso, auf einen Moment der Schwäche, eine unüberlegte Äußerung, eine unwillkürliche Geste, eine Gefühlsregung. Er war wach, wenn Taso müde war, war da, wenn Taso allein sein wollte. Er scherte sich nicht um Tasos Bemühungen, sich seinem bohrenden Blick und unerbittlichen Urteil zu entziehen.
Taso atmete noch einmal tief durch wie ein Schauspieler vor der Premiere, beschwor ein Lächeln herauf und trat durch die sich öffnende Haustür nach draußen.
Es war der erste Freitag im April, und schwere Wolken verdeckten den Himmel. Das Brummen unzähliger Propeller übertönte jedes Frühlingsgeräusch. Lieferdrohnen mit kleinen und großen Ladungen flogen geschäftig von hier nach dort. Über ihnen drehten Polizeidrohnen wie Adler ihre Kreise. Noch weiter oben schwebten dickbäuchige Mutterschiffe mit Tauschbatterien, betrieben von gewaltigen Solarsegeln.
Vor Taso rollte eine Herde selbstfahrender Autos lautlos die Straße entlang. Der Gehweg war verwaist. Er steckte die Hand in die Hosentasche und fühlte die Münze. Mit etwas ruhigerem Puls lief er los.
Über sich hörte er das Surren einer Drohne, die die schwarzen Fenster seiner Wohnung nach Nahrung absuchte, nach einem Loch im Dunkel. Sie fuhr einen Schaber aus und kratzte über das Glas – erfolglos, weil die Folie von innen aufgeklebt war – und zog wieder davon. Triumphierend sah Taso ihr nach.
Die Drohne schürfte für ihren Besitzer nach Daten. Der Würfel zahlte gut für frische Informationen. Für die Suche nutzten Datenschürfer Karten, auf denen weiße Flecken eingezeichnet waren – Orte, über die der Würfel keine, wenige oder veraltete Daten besaß.
Tasos Wohnung war ein solcher Fleck, sein weißer Fleck. Der Würfel hatte keine Ahnung, wie es darin aussah, ob es dreckig oder sauber war, wie oft er Zähne putzte, masturbierte oder aufs Klo ging, was er hörte, las oder sang, aß oder trank, sprach oder schrieb. Jede zu Hause verbrachte Stunde war ein bisschen Chaos, jede Minute ein Akt des Widerstands.
Taso reckte das Kinn und richtete seinen Blick wieder auf den Gehweg.
Soll ich dir gutes Wetter smalen?, fragte die Stimme in seinen Ohren.
Er holte die Münze aus der Hosentasche und wog sie in der Hand. Seit er denken konnte, hatte sie ihn fasziniert. Früher hatte sie seiner Großmutter gehört, die sie als Kind bekommen und als eine Art Glücksbringer bei sich getragen hatte. Jedes Mal, wenn Taso sie besuchte, wollte er die Münze sehen, mit ihr spielen, sie stundenlang mit sich herum tragen. Irgendwann begann seine Großmutter, sie für ihn zu werfen. Zeigte sie fünfmal hintereinander Zahl, dürfe er sie behalten, sagte sie. Als er fünfzehn war, gehörte sie ihm. Seit diesem Tag fühlte er bei jedem Verlassen des Hauses nach dem vertrauten Silberstück in seiner Hosentasche. Auch die Beerdigung seiner Großmutter vor einigen Jahren ertrug er nur, indem er die Münze fest in seiner Hand umschlossen hielt.
Er warf sie in die Luft. Zahl.
»Ja, smal mir gutes Wetter«, sagte er trocken. Im Zeitraffer wichen die Wolken strahlendem Sonnenschein. Die ganze Straße leuchtete auf, Autos und Häuser warfen Schatten, und er spürte beinahe die Sonne auf der Haut – wäre da nicht der feucht-kühle Wind gewesen, der ihm um die Ohren fegte. Ein paar Cent pro Stunde würde ihn dieses absurde Wetter-Feature jetzt kosten.
Wohin möchtest du?
Taso befragte wieder die Münze – Kopf – und schwieg. Als er die Straße überquerte, hielten die Sefas automatisch, Ampeln gab es schon lange nicht mehr. Seinen Weg begleiteten virtuelle Werbeplakate, mal erschienen sie auf dem Boden, mal vor ihm in der Luft. Er verdiente zu seinem Grundeinkommen kaum etwas hinzu, weshalb er den Werbeblocker nur selten einsetzte. Die Angebote waren bunt gemischt und unspektakulär: keine Reisen ins All oder per Überschall nach Afrika, kein Loft mit Blick auf den Fernsehturm am Alex, kein eigenes Sefa, sondern Werbung für einen Offlinerintegrationskurs, für eine neue Generation günstigen Fleischersatzes und für ein Augmented-Reality-Spiel, in dem man sich den Weg zur Arbeit mit einem Lichtschwert freikämpfen musste. Der Chefentwickler schwor, dass das Spiel Tasos Lust auf die Arbeit um zehn Prozent steigern würde.
Nichts davon interessierte ihn auch nur im Geringsten. Aber er genoss die kläglichen Versuche des Würfels, seinen Geschmack zu erraten. Denn sie zeigten, dass seine Mühe nicht umsonst war und er dem Würfel ein Rätsel blieb – so, wie es sich für einen routinierten Gaukler gehörte. Taso vereinbarte seinen x-ten Termin für einen Integrationskurs, den er nie besuchen würde, bestellte etwas Kunstfleisch und trug für Montag in den Kalender ein, auf dem Weg zur Arbeit das dämliche Jedi-Spiel auszuprobieren. Plötzlich brauste ein Polizei-Sefa an ihm vorbei und hielt ein paar Meter vor ihm am Straßenrand. Er verkniff sich ein Seufzen.
»Sag Peter bitte, dass ich zur Polizei muss und mich verspäte«, murmelte er und ärgerte sich sofort über das »Bitte«. Eigentlich hatte er nichts gegen die Verzögerung, große Lust hatte er auf die Geburtstagsparty seines Zwillingsbruders nicht, aber auf ein Zusammentreffen mit der Polizei hätte er heute trotzdem verzichten können.
Erledigt.
Sollte er störrisch sein? Er warf die Münze: Zahl. Also ja. Als er das Fahrzeug erreichte, stieg eine Frau aus. Sie war um die dreißig, trug eine enge Uniform, die eine sportliche Figur erkennen ließ, und hatte ihr dickes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Hallo, Herr Doff, Vogel mein Name.« Sie gab ihm die Hand. »Tragen Sie Smarts?« Ihr Tonfall war bestimmt.
»Ja.«
»Gut. Würden Sie mich bitte für eine halbe Stunde aufs Revier begleiten?«
Taso gab sich empört: »Muss das sein? Ich bin gerade auf dem Weg zur Geburtstagsfeier meines Bruders.«
Die Polizistin hielt inne, offenbar ging sie ein paar ihr angezeigte Informationen durch. »Richtig … herzlichen Glückwunsch!«, sagte sie schließlich mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich muss Sie trotzdem bitten mitzukommen. Hätten Sie auf eine unserer drei Ladungen reagiert …«
»Ich hatte dieses Jahr schon zwei Gespräche«, unterbrach Taso sie genervt. »Warum denn schon wieder?«
Vogel hatte offenbar nicht mit Widerstand gerechnet und wischte mit den Händen vor sich durch die Luft. Vielleicht aktivierte sie ihre Konversationshilfe, vielleicht rief sie Verstärkung.
»Ich entscheide nicht selbst über Gefährderansprachen.« Eine fußballgroße Polizeidrohne flog herbei und positionierte sich über ihr. »Laut unseren Informationen ist ein Gespräch mit Ihnen überfällig. Wenn Sie also bitte mitkommen würden …« Die Polizistin zeigte mit einer auffordernden Handbewegung auf ihr Sefa.
Taso holte seine Münze aus der Tasche und warf sie vor der irritierten Polizistin in die Luft. Die Drohne surrte etwas lauter und öffnete kleine Klappen an ihren Vorderseiten, aus denen sich schlanke Rohre schoben. Taso sah auf die Münze: Kopf. Wortlos stieg er in das Fahrzeug. Draußen hörte er die Polizistin ausatmen.
Taso sah während der gesamten Fahrt stumm aus dem Fenster. Polizei-Sefas durften schneller fahren als andere, von Würfelhand bildeten die Fahrzeuge vor ihnen eine Gasse. Aus dem Wageninneren wirkten die Straßen noch voller als vom Gehweg, die Sefas fuhren im Abstand von wenigen Zentimetern hintereinander her, ohne einen Unfall zu verursachen. Vor zwei Jahren hatte die Stadt die U-Bahn geschlossen, weil Carsharing günstiger geworden war als der öffentliche Nahverkehr. Nur Logistikunternehmen nutzten noch die alten Tunnel. Abgasfreie, leise Autos hatten auch die Wohnungen an viel befahrenen Straßen wieder attraktiv gemacht. In die Erdgeschosswohnungen konnte Taso allerdings nicht sehen. Früher hatte es Vorhänge gegeben, heute versagten ihm seine SmEyes den Einblick. Nur manche Fenster sah er nicht verschwommen, sondern klar: die mit schwarzer Folie beklebten. Erschrocken stellte er fest, wie wenige es geworden waren. Sein Blick blieb an einem Café hängen, aus dessen Frontscheibe ein Baum herauszuwachsen schien. Früher war hier ein Comicladen gewesen, in dem sein Bruder und er ganze Nachmittage verbracht hatten, immer auf der Hut vor dem Besitzer und seinen Ermahnungen, die Hefte nicht nur zu lesen, sondern gefälligst auch zu kaufen. Einige dieser Comics hatte Taso noch immer. Von den Ladengeschäften seiner Kindheit war aber keines übrig geblieben. Stattdessen reihte sich nun Café an Restaurant an Bar. Als würden die Menschen den ganzen Tag nur noch trinken und essen und trinken. Und so war es eigentlich auch. Zumindest für viele.
Das Polizeihauptquartier lag nur wenige Minuten entfernt. Die dunklen Scheiben des riesigen Gebäudes waren von weißem Beton umrandet. Wie ein Wachturm stand es in der Häuserlandschaft, überragte die angrenzenden Gebäude mindestens um das Doppelte. Vogel parkte den Wagen in der Tiefgarage und führte Taso zu einem Aufzug.
Er kannte das Revier schon viel zu gut: Zwanzigmal war er bestimmt schon hier gewesen, meist für Gefährderansprachen. Das erste Mal hatte man ihn kurz nach dem Referendum vorgeladen. Damals hieß das Gebäude noch Internationales Handelszentrum und beherbergte überwiegend Unternehmen; die Polizei belegte nur vier Etagen. Die Einführung des Würfels stülpte jedoch die gesamte Wirtschaft um, und das Gebäude leerte sich rasch. Nur eine Anwaltskanzlei in der fünfzehnten Etage, die sich früh auf den Wandel eingestellt hatte, hatte überlebt. Den Rest des Gebäudes übernahm schrittweise die in den Jahrzehnten zuvor aufgeblähte Polizei. Nach einem Einbruch der Kriminalitätsrate besetzte der Verfassungsschutz immer mehr Etagen. Vogel fuhr mit Taso in den vierten Stock und führte ihn wortlos einen Gang hinunter, bis sie vor einem kleinen, hellen Raum stehen blieb. »Mein Büro«, sagte sie und deutete auf ein spärlich befülltes Wandregal und einen leeren Schreibtisch mit zwei Stühlen davor. »Es wird noch etwas trostlos auf Sie wirken. Ich bin gerade erst eingezogen und habe noch keine Version für Gäste gesmalt.«
Taso nahm Platz und stellte sich an die Wand gesmalte Videos von Vogels wildesten Gefährderansprachen vor. »Ich muss sowieso meine Smarts rausnehmen, richtig?«
Sie sah ihn irritiert an und las dann hektisch etwas durch, das ihr ihre SmEyes anzeigten. »Richtig«, sagte sie nach einer Weile und lächelte angestrengt. Das war offenbar ihre erste Gefährderansprache.
Taso nahm seine SmEars heraus. »Ich mag die Dinger sowieso nicht«, sagte er, »aber ohne kommt man ja nicht mal mehr in seine Wohnung und wird überall hin von Datenschürfern verfolgt.«
Vogel holte einen Smartsbehälter aus dem Regal. Umständlich fummelte sie daran herum, bis er endlich aufsprang, und reichte ihn mit spitzen Fingern über den Tisch.
Nachdem Taso auch die SmEyes herausgenommen und in dem Behälter verstaut hatte, verstand er, warum Vogel plötzlich so nervös war: Sie hatte ihr äußeres Erscheinungsbild gesliftet. Ohne Smarts sah er nun, wie sie wirklich aussah: Sie war nicht dreißig, sondern höchstens um die zwanzig. Ihre Haut war unreiner als eben noch, die Wangen leicht gerötet. Das satte Schwarz ihrer Haare war einem dumpfen Rotton gewichen; geschminkt war sie auch nicht mehr. Ihre Uniform spannte über der Hüfte und den breiten Oberschenkeln, auch ihre Körpergröße hatte sie in ihrer Slifting-Version gestreckt. Außerdem war auf dem Schreibtisch eine Schüssel mit Schokoladentäfelchen aufgetaucht, die sie offenbar für Gäste und bestimmt auch für Kollegen weggesmalt hatte. Taso war amüsiert, ließ sich aber nichts anmerken. Ein so aufwendiges Slifting war rechenintensiv und damit teuer, ging aber bestimmt auf Staatskosten. Vogel mied seinen Blick, setzte sich und sah angestrengt an ihm vorbei, während sie offenbar ihre Anweisungen durchging.
Sie räusperte sich vor dem Hauptteil des Gesprächs.
»Sie wissen, warum Sie hier sind?« Ihre Stimme klang nun sehr viel höher.
»Nicht wirklich«, antwortete Taso freundlich. »Darf ich?« Er zeigte auf die Schüssel mit den Schokoladen.
»N-natürlich«, stammelte Vogel, woraufhin er ein Täfelchen ergriff, auswickelte und sich in den Mund schob.
Vogel sah ihn kurz an und fuhr dann fort. »Wir sprechen regelmäßig mit Personen, die demnächst Straftaten begehen könnten. Eingangs muss ich Ihnen erklären, warum wir Sie für ein Risiko halten.« Sie verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch und wurde etwas ruhiger. »Zunächst einmal haben Sie einen extrem niedrigen Pred-Score. Ehrlich gesagt habe ich noch nie jemanden mit einem niedrigeren getroffen, dabei kenne ich gar nicht so wenige Offliner – und sogar noch einen anderen Gaukler.«
Taso fühlte sich geschmeichelt. Wenn er auf irgendetwas im Leben stolz war, dann auf seinen Predictability-Score. Der niedrige Wert hob ihn von den vielen Menschen ab, die ein möglichst vorhersehbares Leben führen wollten. Manche taten es für die damit verbundene Bequemlichkeit, andere für ein höheres Grundeinkommen, und wieder andere sahen in der Jagd nach Pred-Punkten schlicht ein Spiel, das immer schwieriger wurde, je weiter man kam. Taso erschauderte bei dem Gedanken an den dänischen Archivar, der mit knapp 91 Preds den Rekord hielt; es gab niemanden, den der Würfel besser vorhersehen konnte.
Taso arbeitete unablässig daran, das Gegenteil zu gewährleisten. Keiner seiner Offlinerfreunde machte es dem Würfel schwerer, sein Verhalten vorherzusehen, keiner gaukelte ihm erfolgreicher etwas vor. Aber es gab unter den Offlinern ohnehin kaum noch Gaukler. Seinen Pred-Score niedrig zu halten war harte Arbeit, denn 60 bis 70 Preds erreichte man schnell. Die meisten Offliner versteckten sich deshalb lieber vor dem Würfel, den sie als Feind Gottes oder ihrer Selbstbestimmtheit verdammten. Taso aber wollte sich nicht verstecken. Lieber gaukelte er dem Würfel Gedanken und Gefühle vor, die er nicht hatte – mit einer Disziplin, die ihn zu einem der besten Gaukler der Stadt machte. Aber auch sehr einsam.
»Gaukeln Sie doch selbst mal – ist sehr befreiend!« Er zerknüllte das Schokoladenpapier, legte es neben die Schüssel und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Vogel fuhr ungerührt fort: »Sie wurden seit dem Referendum zwölf Mal wegen Chaosstiftens verurteilt. Zwölf Mal in nur acht Jahren …«
»Das hat man mal demonstrieren genannt«, unterbrach Taso sie. Er wollte das Ganze zwar nicht unnötig in die Länge ziehen, aber er konnte nicht einfach dasitzen und ruhig zuhören, wie beim letzten Mal.
»Demonstrieren ohne Anmeldung! Das stürzt jedes Mal das öffentliche Leben ins Chaos. Drei Mal hat man Ihnen sogar Vorsatz nachgewiesen.«
»Weil ich bei Flashmobs mitgemacht habe.«
»Es ist egal, was genau Sie gemacht haben. Jedenfalls war es strafbar.« Vogel atmete tief durch.
Taso musste an seinen ersten Flashmob zurückdenken, kurz nach dem Referendum. Er hatte sich mit Gleichgesinnten am Potsdamer Platz verabredet, damals die meistbefahrene Kreuzung der Stadt. Auf ein Kommando waren sie auf die Straße gestürmt und hatten einen Tanzkurs veranstaltet. Als das erste Hupkonzert verklungen war, hatten sich mehr und mehr Autofahrer lachend zu ihnen gesellt. Nur ein Jahr später wurden sie bei einer ähnlichen Aktion ausgebuht, so große Angst hatten die meisten Menschen schon da vor einem Abfall ihres Pred-Scores.
»Sie waren vor dem Referendum ein sehr aktiver Gegner des Kubismus …«
»Ich lehne den Würfel bis heute ab.«
Vogel nickte. »Sie besuchen immer noch regelmäßig Würfelfreie Zonen und haben mutmaßlich viel Kontakt zu anderen Offlinern. Andererseits sind Sie noch nie im Zusammenhang mit Extremisten aufgefallen. Seit zwei Jahren sind Sie auch nicht mehr politisch aktiv.« Sie sah ihn eindringlich an. »Ist das alles so korrekt?«
Taso wusste, dass Vogel jede seiner sicht- und hörbaren Körperreaktionen in Echtzeit auswerten ließ. »Ja«, antwortete er mit kräftiger Stimme.
Sie musterte ihn eine Weile und schien zufrieden. »Sie sind trotzdem auf einem sehr unguten Weg, wenn ich das so sagen darf«, sagte sie in einem Ton, als dürfte sie das so sagen. »Bei Ihren Vorstrafen drohen Ihnen bei erneuten Verstößen hohe Geldstrafen oder sogar die Kündigung Ihres Dienstverhältnisses. Erst recht, wenn Sie doch einmal in die falschen Kreise geraten sollten.«
Taso hätte am liebsten mit der Hand auf den Tisch geschlagen und der ungelenken Polizistin entgegengeschmettert, was er von ihrem belehrenden Ton und diesem ganzen Affenzirkus hier hielt, aber er sah sie nur aufmerksam an. Wie so oft schluckte er es hinunter, schluckte alles einfach hinunter, fütterte damit seinen inneren Antrieb. »Danke für Ihre Besorgnis, Frau Vogel«, sagte er, »aber sie ist vollkommen unbegründet – ich habe mich vorhin erst zu einem Integrationskurs angemeldet. Ich bin für den Kubismus keine Gefahr.« Taso erhob sich. »Kann ich jetzt gehen oder haben Sie sonst noch …?«
Vogel sprang auf, allerdings nicht wegen Taso, sondern wegen des Mannes, der plötzlich in der Tür stand. Als Taso ihn erkannte, zog sich alles in ihm zusammen.
»Na, Frau Vogel«, sagte Zhong Schneider, »haben Sie Besuch von einem Stammgast?« Er lachte und trat ins Büro.
Taso hatte Schneider lange nicht gesehen. Vor einiger Zeit hatte er gehört, dass der alte Polizist in den Verfassungsschutz gewechselt war und dort eine neue Einheit leitete, die sich ausschließlich dem antikubistischen Extremismus widmete. Er hatte gehofft, ihm nie wieder zu begegnen, denn eigentlich war Schneider für Gefährderansprachen nicht mehr zuständig.
Ein Blick auf Vogel verriet, dass der hohe Besuch auch sie überraschte. Aufgeregt begrüßte sie Schneider und bot ihm ihren Stuhl an. Er nahm wie selbstverständlich Platz und forderte Taso auf, sich wieder zu setzen. Mit einem schmallippigen Lächeln kam Taso der Aufforderung nach.
»Gut sehen Sie aus, Herr Doff! Wie ich sehe, gaukeln Sie immer noch auf höchstem Niveau – oder dem niedrigsten, besser gesagt.« Er lachte wieder und scrollte mit der Hand durch sein Blickfeld. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »19,84 Punkte! Wahnsinn. Wie mühsam das sein muss!«
Schneider richtete seinen Blick wieder auf Taso und sah ihn eine gefühlte Ewigkeit einfach nur an. So hatte er bislang jede Ansprache begonnen. Taso ertrug dieses wortlose Starren nur schwer. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte es ihn aus der Bahn geworfen. Seine jugendliche Arroganz hatte sich so schnell aufgelöst wie der muskulöse Bauch nach Ablauf seines bislang einzigen Slifting-Abos. Die sorgfältig vorbereitete Argumentationskette war augenblicklich vergessen gewesen, nach einer Minute hatte er einfach nur noch rausgewollt.
Schneider stützte seine drahtigen Unterarme auf den Tisch. Nun würde er zu sprechen beginnen. »Vielleicht überrascht Sie das, aber trotz Ihres eigentümlichen Hobbys zähle ich Sie zu den Guten. Deshalb bin ich heute hier.«
Taso lehnte sich zurück. Deshalb war wohl auch er selbst heute hier.
»Wir befürchten einen größeren Terroranschlag. Die Informationen sind vage, aber es könnten sehr viele Menschen zu Schaden kommen. Man munkelt, dass sich der Widerstand zunehmend radikalisiert.«
Taso blickte kurz zu Vogel, die geschäftig nickte, obwohl sie das vermutlich selbst zum ersten Mal hörte.
»Ich muss Ihnen nicht erklären, wie gefährlich die HF, CRAC und die ganzen anderen Verrückten sind.« Schneider lockerte seine Schultern, bis es knackte. »Ich möchte Sie bitten, Augen und Ohren offen zu halten – in den Würfelfreien Zonen der Stadt oder wo Sie sich sonst so rumtreiben … Ihre Freizeit verbringen, meine ich.« Er sah Taso wieder eindringlich an. »Ich weiß, dass Sie immer noch gut vernetzt sind. Und Sie wissen, dass der deutsche Staat Hinweisgeber ordentlich bezahlt. Es würde sich also für alle lohnen.«
Taso konnte nicht verhindern, dass seine Augen etwas größer wurden. Es war kaum zu glauben: Der große Schneider bat ihn um Hilfe. Entweder war er verzweifelt oder ahnungslos. So oder so schien der Widerstand ganze Arbeit zu leisten.
»Sie wollen, dass ich Ihnen helfe?«
»Warum denn nicht? ›Gewalt gegen eine vom Volk gewünschte Herrschaftsform ist nicht legitim!‹«, las Schneider vor. »Das waren mal genau Ihre Worte.«
Taso schwieg. Er fand die Vorstellung absurd, für Schneider zu spitzeln – völlig egal, was er erfahren würde oder einmal gesagt hatte. Ja, er war strikt gegen Gewalt, auch gegen den Kubismus, trotzdem würde er Schneider keine Informationen zustecken. Niemals.
»Als ich das gesagt habe, war ich fast noch ein Kind.«
Schneider hob die Augenbrauen. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie Terroranschläge inzwischen gutheißen?« Sein Blick wurde todernst. »Wenn ich mitbekommen sollte, dass Sie Terroristen decken, stecke ich Sie persönlich in den Knast. Das garantiere ich Ihnen.«
»So meinte ich das nicht«, sagte Taso schnell. »Ich halte Gewalt immer noch für den falschen Weg, da können Sie mir die Worte im Mund verdrehen, wie Sie wollen.« Er griff erneut in die Schüssel mit den Schokoladen, um Schneiders Blick auszuweichen. Der sah verdutzt zu Vogel, die daraufhin hektisch in der Luft herumfuchtelte und ihm ein nun wohl für jedermann sichtbares Täfelchen anbot. Schneider lehnte es mit einer unwirschen Handbewegung ab und wandte sich wieder an Taso.
»Heißt das, Sie helfen uns?«
Taso zögerte. Er holte seine Münze heraus.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein!«, rief Schneider. »Das ist kein Spiel, es geht um Menschenleben, verdammt!«
Taso warf die Münze ungerührt in die Luft – Zahl. »Wenn ich etwas höre, das mir zu weit geht, melde ich mich.«
Schneider schüttelte den Kopf und widmete sich einer Anzeige in seinem Sichtfeld. Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Der Würfel hat eine Wahrscheinlichkeit von 73,52 Prozent errechnet, dass Sie das ernst meinen. Damit kann ich vorerst leben. In spätestens einem Monat lade ich Sie zum Rapport.«
Taso unterdrückte ein Grinsen. Vielleicht war er nicht nur einer der besten Gaukler, sondern der beste überhaupt.