Читать книгу Der Würfel - Bijan Moini - Страница 7
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ОглавлениеEtwas in Taso machte einen Sprung und sank nur ganz langsam wieder zu Boden. Mit einem Blick erkannte er, dass Dalia Reißaus genommen hatte. Er konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern.
»Hi Dalia«, sagte er betont nüchtern, wissend, dass sein Tonfall nicht zur Mimik passte.
»Hallo Taso.« Ihre Stimme war tiefer und melodischer, als er sie in Erinnerung hatte. Sie erhob sich und ging einen Schritt auf ihn zu. Als sie den Oberkörper zu ihm beugte, blieb Taso steif stehen, obwohl er sie gern umarmt hätte. Dalia trat zurück, verlegen blieben sie voreinander stehen und sahen sich an. Die Ansätze von Krähenfüßen um Dalias Augen waren neu, auch ihre Haare waren dunkler und deutlich länger als früher, ihre Lippen leuchteten knallrot. So manche gesliftete Frau würde neidisch bei ihrem Anblick.
Peinlich berührt blickte Taso an seinem Wintermantel hinunter auf die Ledersandalen. Selbst nackt sähe er besser aus.
Die Drohnen über ihnen sanken tiefer, ihre gierigen Linsen brannten sich in Tasos Kopfhaut. Die kleinere flog zur Seite, um sein Gesicht zu filmen, als spürte sie, dass daran gerade etwas Interessantes abzulesen war.
Er griff nach Dalias Rucksack. »Darf ich?«
Dalia wirkte irritiert. Sie hatte offensichtlich eine herzlichere Begrüßung erwartet. Dann nickte sie aber und trat beiseite. Taso warf den Rucksack mit einer betont lässigen Bewegung über die Schulter, unterschätzte das Gewicht und geriet kurz ins Straucheln.
»Alles okay?«, fragte Dalia, die Arme ausgestreckt, als wollte sie ihn auffangen.
»Danke, alles im Griff.« Er grinste unwillkürlich, öffnete die Haustür und bedeutete ihr vorauszugehen.
Auf dem Weg nach oben schüttelte er ungläubig den Kopf. Es kam nicht oft vor, dass er Besuch aus Humaning bekam. Und schon gar nicht von einer Namischen. Dalias und seine Eltern waren eng befreundet – so eng, dass er zeitweise Angst gehabt hatte, seine Eltern würden unter die Religs gehen. Denn Dalias Mutter leitete die Humaninger Namischen-Gemeinde, und auch ihr Vater ließ keine Gelegenheit für ein Glaubensbekenntnis aus. Als Taso die vier das erste Mal zusammen erlebte, staunte er über seinen Vater, der still dasaß und die Augen niederschlug, während Herr Bartas ein Tischgebet sprach. Als Taso klein gewesen war, hätte sein Vater bei solchen Gelegenheiten mit den Augen gerollt oder sein Missfallen noch deutlicher ausgedrückt. Aber das Leben in einer WfZ im Nirgendwo hatte ihn verändert.
Als Taso vor etwa zwei Jahren mal wieder seine Eltern besucht hatte, waren die Bartas vorbeigekommen und hatten Dalia mitgebracht. Taso hatte Dalia zuletzt als störrischen Teenager erlebt und war ziemlich überrascht, beim Mittagessen einer jungen Frau gegenüberzusitzen. Durch die anwesenden Eltern fühlte er sich wie ein Schuljunge, während er immer wieder heimlich Augenkontakt zu ihr suchte. Später hatte er sich zu ihr aufs Sofa gesetzt. Sein Vorhaben, sie in ein lebhaftes Gespräch zu verwickeln, scheiterte kläglich, denn er wusste einfach nicht, worüber er mit einer sechs Jahre jüngeren Namischen reden sollte. Schließlich begann sie die Unterhaltung und fragte ihn mit großen Augen über sein Leben »da draußen« aus: wie hoch sein Pred-Score sei, was der überhaupt messe, wie das mit dem Grundeinkommen funktioniere und wer es bekomme, was er arbeite und ob er viele Freunde – und eine Freundin – habe, wie Kubisten ihre Freizeit verbrächten und wohin er schon alles gereist sei. Im Gegensatz zu den allermeisten anderen Einwohnern von Humaning brannte sie förmlich darauf, jedes Detail der Würfelwelt zu erfahren. Ihre Neugier und Direktheit waren Taso zunächst unangenehm, aber je mehr sie nachfragte, desto bereitwilliger gab er Auskunft, schmückte seine Antworten aus wie ein neuzeitlicher Seefahrer seine Berichte aus fernen Ländern. Dalia amüsierte sich prächtig. Vielleicht verschwieg er ihr deshalb, dass er ein Gaukler war, und genoss lieber die Leichtigkeit, mit der er, ganz gegen seine Gewohnheit, über das Leben im Kubismus sprach, ja beinahe von ihm schwärmte. Mit einer Anekdote über Davids Freundschaftsschwüre brachte er sie sogar zum Lachen. Sie warf den Kopf zurück und schüttelte sich so ungehemmt, wie er es selten gesehen hatte, wischte sich eine Träne von der Wange und sah ihn erwartungsvoll an. Er bemerkte, dass sie auf einmal ziemlich dicht beieinandersaßen, und geriet wieder ins Stocken. Instinktiv sah er sich nach Dalias Eltern um, die eine solche Nähe zu einem ungläubigen Beinahe-Kubisten – mehr war er in ihren Augen nicht – sicher missbilligen würden. Aber Dalia schien entspannt, und er erkannte, dass sie doch etwas Wichtiges verband: Dalia widersetzte sich ihrer Welt auf dieselbe Weise wie er sich seiner – direkt unter den Nasen der Obrigkeit, mit offenem Visier. Nur dass er gegen einen Computer kämpfte und sie gegen ihre Eltern.
Natürlich war Dalias Eltern nicht verborgen geblieben, was sich auf dem Sofa abgespielt hatte. Als Taso bei späteren Humaning-Besuchen auf die beiden getroffen war, war Dalia nie dabei gewesen. Herr Bartas hatte Fragen nach seiner Tochter nur mit todernstem Blick und seltsam anmutenden Zuckungen seiner beeindruckenden Schultern beantwortet, während sich ihre Mutter zumindest noch um Ausreden bemüht hatte.
Taso hatte Dalia schließlich einen Brief geschrieben, in dem er einfach nur wissen wollte, wie es ihr ging. Er hatte es lange aufgegeben, auf eine Antwort zu warten, und nun bekam er sie doch, mit zwei Jahren Verspätung und von ihr persönlich.
Taso führte Dalia in den Flur seiner Wohnung und verstaute rasch seine Smarts. Als er sich lächelnd zu ihr drehte, zögerte er. So anstrengend es war, ständig seine wahren Gedanken und Gefühle zu verbergen, manchmal war es ein willkommener Schutz. Jetzt zum Beispiel war er unsicher, wie er sich verhalten sollte. Schließlich gab er sich einen Ruck und umarmte sie. »Schön, dich zu sehen.«
Etwas perplex, aber auch erleichtert erwiderte Dalia die Umarmung. Das ganze Gewicht des Tages fiel von Taso ab. »Entschuldige die Zurückhaltung vor der Tür, aber ich bin in der Öffentlichkeit immer etwas … reserviert.«
Dalia winkte ab. »Macht nichts. Du musst ja auch ganz schön überrascht gewesen sein. Gott sei Dank hast du mich überhaupt erkannt.«
»Natürlich! Du hast dich kaum verändert … Also schon, du bist älter geworden, aber du siehst dir immer noch verdammt ähnlich.« Taso grinste und fuhr sich durch die Haare. Bevor ihm ein weiterer doofer Spruch rausrutschen konnte, zog er den Vorhang am Ende des Flurs zur Seite und ließ sie in sein dunkles Zimmer treten. Er schaltete das Licht ein. Es roch muffig. Wie gern hätte er die Fenster aufgerissen.
Dalia sah sich um. Taso vermied es, ihrem Blick zu folgen, und ging zum Kleiderschrank. Den irritierten Gesichtsausdruck beim Anblick seiner schwarzen Fenster kannte er schon von den wenigen früheren Besuchern. Er entledigte sich seiner Sandalen, streifte den Mantel ab und zog sich eine ausgewaschene Kapuzenjacke über das T-Shirt. Die gelbe Cordhose würde Dalia verkraften müssen, im Vergleich zur Namischen-Kleidung war sie sogar beinahe modisch.
»Sieht ein bisschen wild aus hier, ich weiß«, entschuldigte er sich mit Blick auf das ungemachte Bett. »Ich habe selten Gäste.«
»Nicht schlimm. Ich habe mich ja auch nicht angemeldet.« Dalia lächelte. Taso war dankbar, dass sie ihr Befremden so gut versteckte. Sie zeigte auf den Stapel Pakete vor dem Vorhang. »Warum sind die alle noch zu?«
Jedem anderen hätte Taso vermutlich geradeheraus gesagt, dass er mit der Münze entschied, welche Pakete er öffnete, welche er ungeöffnet stehen ließ und welche er zurückschickte. »Ach, da ist nichts Wichtiges drin, ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, sie zu öffnen … Tee?« Dalia nickte. Er ging in die angrenzende Küche, setzte Wasser auf und lehnte sich an den Türrahmen zum Wohnbereich. Eine Zeit lang sah er Dalia an, ohne etwas zu sagen. Sie hatte sich an den Esstisch gesetzt und erwiderte stumm seinen Blick. Dann verschränkte sie die Arme auf der Tischplatte und legte den Kopf darauf. »Nein, sie wissen nicht, dass ich hier bin«, murmelte sie. Langsam hob sie den Kopf wieder.
Taso nickte, ging zurück in die Küche und holte zwei Tassen aus dem Schrank. Als er den Tee abmaß, hörte er plötzlich Dalia an einem Fenstergriff herumhantieren. »Halt!«, schrie er und hechtete zurück ins Zimmer. Der Messlöffel fiel mit einem schrillen Klirren auf die Küchenfliesen.
Dalia zuckte erschrocken zurück und sah ihn verwirrt an. »Sind die Fenster kaputt?«
»Nicht direkt.« Er spürte, wie er rot wurde. »Ich mag offene Fenster nicht so gern. Jedenfalls nicht tagsüber.«
Er wusste, dass er ihr früher oder später die Wahrheit sagen musste. Sonst würde sie ihn für einen Wahnsinnigen halten. Nervös schob er die Hände in die Hosentaschen. Wahrscheinlich würde sie ihn so oder so für wahnsinnig halten. »Mir gehts um die Drohnen«, sagte er leise und begann seufzend zu erklären. »… und wenn dann jemand bei mir ist, den der Würfel nicht kennt, wollen sie erst recht herein«, schloss er.
»Deshalb auch die schwarzen Fenster.«
Taso nickte.
»Das meinten deine Eltern also damit, dass du den Würfel ablehnst … Aber was wäre denn so schlimm daran, wenn er deine Wohnung sieht?«
Taso sah sie traurig an. In ihrer Frage schwang solch ein Unverständnis mit, dass sein Herz ganz schwer wurde. Vielleicht war jetzt doch noch nicht der richtige Zeitpunkt für die ganze Wahrheit. »Ich will einfach nicht, dass er mir beim Leben zusieht«, sagte er knapp.
Dalia nickte nachdenklich. Dann fragte sie mit einem Lächeln: »Können wir das Fenster wenigstens einen Spaltbreit öffnen? Wenn die Fremde in deiner Wohnung erstickt und nicht mehr rauskommt, hättest du bald mehr als Drohnen in der Wohnung …«
Taso lächelte beklommen zurück. Er wollte etwas kontern, ihm fiel aber nichts Sinnvolles ein. Er hatte die Fenster schon seit Monaten nicht geöffnet – für die Luftzirkulation sorgten nur die Lüftungen in Bad und Küche – und wollte heute keine Ausnahme machen. Zu seiner eigenen Überraschung sagte er allerdings: »Vielleicht das Küchenfenster? Ich öffne es ein bisschen und stelle was Schweres davor, damit keine Drohnen reinkönnen.«
Dalia nickte eifrig.
Das Küchenfenster öffnete sich in Richtung Wandschrank, weg von der Tür zum Zimmer. Viel zu sehen bekämen die Drohnen durch den kleinen Spalt also nicht. Taso drehte den Griff des Fensters und löste es mit einem Ruck vom Rahmen, was an das Geräusch beim Abziehen eines Klebestreifens erinnerte. Nur Augenblicke später belüfteten die Rotoren eines Datenschürfers seine Küche. Mit dem Rücken zu Dalia zeigte Taso ihm den Mittelfinger.
Als sie am Tisch saßen, verrührte Taso langsam den Zucker in seiner Tasse, ohne mit dem Löffel den Rand zu berühren. Er suchte nach einem einfühlsamen Gesprächseinstieg. Im Grunde wusste er nichts über Dalias Leben in Humaning. Er konnte nur vermuten, dass sie mit so überzeugten Namischen als Eltern ihr Leben lang kontrolliert und indoktriniert worden war. Ihre Flucht musste sie viel Überwindung gekostet haben. Kein Wunder, dass sie nicht von allein erzählte.
»Warum bist du hier?«, fragte er möglichst sanft.
Dalia umfasste ihre Tasse und pustete konzentriert hinein. »Ich wusste nicht, wo ich sonst hinsollte … Meine ganze Familie sind Namische. Nur meine Tante nicht, aber die hätte mich trotzdem sofort zurückgebracht.« Ihr Blick haftete fest an ihrer Tasse. »Ich kenne sonst niemanden hier draußen – ich war ja erst vierzehn, als wir umgezogen sind. Und die meisten meiner damaligen Freundinnen sind mit ihren Familien auch nach Humaning oder in andere WfZs gezogen.«
»Wo habt ihr denn früher gewohnt?«
Dalias Blick huschte kurz zu Taso. »In einem kleinen Dorf im Harz.« Sie biss auf ihrer Unterlippe herum. »Du warst der Einzige, der mir in den Sinn kam … Gestern hab ich mich endlich getraut, deine Mutter nach deiner Adresse zu fragen, unter dem Vorwand, dass ich dir schreiben will. Dann habe ich schnell ein paar Sachen gepackt, hab den anderen gesagt, dass es mir nicht gut geht, und bin während des Mittagsgebets abgehauen. Nicht weit vor der Stadtgrenze ist eine Bushaltestelle, von dort war es eigentlich ganz einfach. Zwar ein bisschen unheimlich, diese Geisterbusse, aber ich habs überlebt.«
Taso nickte. »Ist … ist irgendwas passiert, weshalb du abgehauen bist?«
Dalias Gesicht verhärtete sich, jetzt sah sie Taso direkt an. »Nein, nichts ist ›passiert‹! Reicht es nicht, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe? Ich hab zweiundzwanzig Jahre so gelebt, wie andere es für richtig hielten. ›Gottesfürchtig‹ nannten sie das, dabei hatte es mit Gott nicht das Geringste zu tun!«
Taso wusste nicht, was er sagen sollte.
Dalia wandte den Blick wieder ab und sprach nun leiser. »Entschuldige. Aber es muss nicht immer erst was ›passieren‹, damit man sich ein anderes Leben wünschen darf. Ich habe viel zu lange gebraucht, um das zu verstehen.«
Tasos Mund fühlte sich plötzlich trocken an. Er schämte sich, obwohl er nichts falsch gemacht hatte. »Vielleicht ist es das Letzte, worüber du jetzt reden willst …«, sagte er nach einer Weile, »aber ich hab keinen Schimmer, wie dein Leben in Humaning war.«
Dalia sah ihn verbittert an. »Leben? Das war kein Leben, es war die Hölle.« Sie trank einen Schluck und starrte in Richtung Küche, aus der die Rotorengeräusche einer neuen Drohne zu hören waren. »Die Namischen behaupten zwar, sie seien keine Sekte, aber genau das sind sie, und zwar von der schlimmsten Sorte. Wusstest du, dass ich Humaning nie allein verlassen durfte? Wenn wir doch mal draußen waren, durfte ich mit niemandem reden, und meine Eltern verteufelten alles und jeden, dem wir begegneten. Einmal habe ich mich mit einer Freundin rausgeschlichen. Wir haben im Nachbarort ein Bier getrunken. Mein erstes Bier überhaupt! Das war so ein genialer Nachmittag … Natürlich hat uns jemand gesehen und verpfiffen. Mein Vater ist völlig ausgerastet. Als ich nach Hause kam, hat er mich in den Keller gesperrt. Einen Monat musste ich dort bleiben, durfte nur raus, wenn ich aufs Klo musste. Da war ich achtzehn!« Dalia schüttelte den Kopf. »Natürlich hab ich damals kaum protestiert, sondern einfach meine Zeit abgesessen … und mich sogar schuldig gefühlt.«
Taso sah sie bestürzt an.
Dalia lächelte verbittert. »Aber diese räumliche Enge ist nichts gegen die Hirnwäsche. Mindestens einmal am Tag musste ich zur Kirche. Unsere Prediger beschimpften Kubisten erst nur als Götzenanbeter, inzwischen seid ihr alle schlicht des Teufels. Jede Woche erreichen uns aus der Muttergemeinde in Amerika weitere Regeln und Neuinterpretationen von Bibelstellen. Du kannst dir nicht vorstellen, was man als Teenager alles falsch machen kann. ›Deine Bluse zeigt zu viel Arm!‹ … ›Sprich den Namen des Herren nicht ohne Grund!‹ … ›Der Umgang mit diesem oder jenem ist nicht gut für dich!‹ … Jeden Tag musste ich mir so was anhören!
Einmal hat mich mein Vater mit Smarts erwischt. Ein Freund hatte die irgendwo draußen gefunden und war deswegen der große Star unter uns Sektenkindern. Ich war total glücklich, als ich sie mal ausleihen durfte. Ich wollte mir nur ansehen, was jeder außer uns sich da in die Augen und Ohren steckt. Sie funktionierten in Humaning natürlich nicht, und wahrscheinlich waren sie sowieso kaputt. Trotzdem hat mich Papa gezwungen, meine ›Sünde‹ im nächsten Gottesdienst zu beichten. Mama sprach dann vor der versammelten Gemeinde das Urteil: Zwei Wochen durfte niemand mit mir reden. Wie bereitwillig meine Mutter ein Exempel an mir statuierte, hat mir wirklich Angst gemacht.«
Taso wusste noch immer nicht, was er sagen sollte. Solche Informationen hatte der Gaukler in seinen Berichten über die Namischen verschwiegen und sie lieber für ihre Ablehnung des Würfels, für ihre Disziplin und Überzeugung gefeiert. Aber wirklich überrascht war er auch nicht. Wie so oft wollte niemand hinter die Fassade blicken.
»Vor zwei Jahren haben unsere Nachbarn CRAC-Anhänger versteckt«, fuhr sie fort. »Ich weiß nicht, ob du die kennst, das ist die Christian Resistance …«
»… Against Cubism«, ergänzte Taso.
Dalia nickte. »Das muss man sich mal vorstellen – die verstecken Terroristen, die bereit sind, für ihre Sache zu töten … im Namen Gottes! Die haben sogar zwei Freunde von mir rekrutiert. Deren Eltern waren auch noch stolz darauf. Von da an wollte ich nur noch weg, raus aus dieser verlogenen Gemeinde. Aber ich wusste nicht, wie das gehen sollte, ich kannte ja nichts anderes. Meine ganze Familie, alle meine Freunde waren in Humaning.« Dalia stiegen Tränen in die Augen. »Sind in Humaning.«
Taso ertrug es kaum, sie so niedergeschlagen zu sehen. Er wollte, dass sie sich besser fühlte, wusste aber nicht, was er tun konnte. Ungeschickt versuchte er, das Gespräch am Laufen zu halten. »Warum … Warum bist du nicht früher abgehauen?«
Dalia verzog gequält das Gesicht. Sofort bereute Taso die Frage. »Ich habe seit dem Nachmittag mit dir kaum über etwas anderes nachgedacht«, sagte sie.
Tasos Herz schlug schneller.
»Aber so einfach war das nicht. Es hat lang gedauert, bis ich verstand, dass ich meinen Eltern nichts schulde. Dass Gott nicht von mir wollen kann, dass ich unglücklich bin. Dass unsere Prediger keinen besseren Zugang zu ihm haben als ich selbst. Und außerdem war … ist da diese Angst vor einer fremden Welt, von der ich nichts verstehe …«
»Nein!«, rief Taso und sprang auf. Er hatte aus den Augenwinkeln etwas durch die Küche huschen sehen. Mit zwei Sätzen war er dort, schnappte die Minidrohne aus der Luft und schmetterte sie gegen die Wand. Wütend knallte er das Fenster zu. Warum hatte er nur nachgegeben? Er schloss die Augen, bis sein Puls sich beruhigte. Dalia sollte seinen Ärger nicht bemerken und auf sich beziehen.
Mit einer Mischung aus Triumph, Ekel und Frust fingerte er den zerstörten Spion wie einen toten Käfer vom Küchenboden, ging zu Dalia und legte ihn auf den Tisch. Wie viel das Ding wohl gefilmt hatte? »Manche Datenschürfer tragen solche Minidrohnen im Bauch«, erklärte er. »Wenn sie selbst nicht reinkommen, probieren sie es mit denen hier.« Mit zusammengekniffenen Augen inspizierte er das wespengroße Objekt. »Ich wusste nicht, dass die Mistviecher schon so klein sein können.«
Als er aufblickte, sah er das Unverständnis in Dalias Gesicht. »Vielleicht …«, begann sie zögerlich und schlug die Augen nieder.
»Vielleicht was?«
»Vielleicht hätte ich doch nicht herkommen sollen.«
»Dalia, nein … «
»Tut mir leid, dass ich deinen Abend so durcheinanderbringe.« Traurig sah sie ihn an. »Ich hab ehrlich gesagt nicht darüber nachgedacht, wie es für dich ist, wenn ich einfach so auftauche.« Sie stand auf und lief unruhig im Zimmer umher, ihr Blick huschte von einer Zimmerecke zur anderen. »Vielleicht kannst du mir gar nicht helfen.«
Taso stand ebenfalls auf. »Ich möchte dir aber helfen.«
»Und wie, wenn du solche Angst vor der Welt da draußen hast?« Dalia zeigte auf die zerstörte Drohne und sah sich weiter um.
Als Taso begriff, dass sie ihren Rucksack suchte, ging er zu ihr und fasste sie sanft an der Schulter. Sie blieb stehen und sah ihn an. Er musste schlucken, bevor er sprechen konnte. »Sorry, dass ich gerade so aufgesprungen bin. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich freue mich sehr, dich zu sehen. Und dass du zu mir gekommen bist.«
Dalia entspannte sich ein wenig, er ließ die Hand wieder sinken.
»Ich verstehe gut, warum du aus Humaning wegwolltest«, fuhr er fort. »Ich will ja selbst nicht in einer WfZ leben, da fühlt sich alles so eng und gestrig an, auf dem Land noch mehr als in den Städten. Du hast recht, ich bin kein Kubist, aber ich kenne diese Welt trotzdem sehr gut. Und ein kritischer Begleiter ist genau das, was du bei deinen ersten Schritten hier brauchst.«
Taso sah, wie Dalia nachdachte. Er gab ihr einige Sekunden, bevor er ergänzte: »Ich hab morgen sowieso frei. Du kannst heute Nacht hierbleiben, und morgen früh besorgen wir dir alles, was du für den Anfang brauchst. Vielleicht mache oder sage ich ab und zu komische Dinge, aber ich helfe dir wirklich gern.«
Nach einem Moment erwiderte Dalia sein aufmunterndes Lächeln und nickte langsam. Er hoffte, dass sie das aus Überzeugung und nicht aus Alternativlosigkeit tat, freute sich aber über den kleinen Sieg.
»Gut. Ich mache uns jetzt mal was zu essen, und du erzählst mir, wie du dir das Leben hier so vorstellst.«
Dalia folgte Taso in die Küche. Gegen die Anrichte gelehnt begann sie von ihrer Zukunft zu erzählen. Stockend und etwas skeptisch zunächst, bald aber mit wachsender Begeisterung. Sie schwärmte von aufregenden Partys, tiefen Freundschaften und der großen Liebe, von exotischen Reisen, virtuellen Welten und neuem Wissen, von einem erfüllenden Beruf, tollem Essen und großartiger Unterhaltung – von all den Dingen eben, von denen sie gehört hatte oder die ihrer Sehnsucht entsprungen waren. Je länger sie sprach, desto kräftiger leuchteten ihre Augen. Und je kräftiger sie leuchteten, desto schwieriger war es für Taso, sich aufs Kochen zu konzentrieren. Es lag etwas in der Luft, das er selbst schon lange nicht mehr gespürt hatte: Hoffnung und sogar ein wenig Euphorie. Erschrocken bemerkte er, wie sehr er Dalia um ihre Vorfreude und die Aufbruchstimmung beneidete. Trotzdem genoss er die folgenden Stunden sehr. Sie aßen Nudeln mit einem handgemachten Pesto aus Diagon Alley und tranken bis in die Nacht hinein Tee. Dalia träumte, Taso ermutigte, ab und zu lachten sie zusammen. Über die Vergangenheit verloren sie kein Wort mehr.
Erst als Dalia auf dem Sofa eingeschlafen war und Taso auf der Luftmatratze lag, kamen ihm Zweifel. Durfte er Dalia in den Kubismus führen? Ihr bei der Selbstunterwerfung helfen? Gegen all seine Überzeugungen handeln?
Es war stockfinster, trotzdem dauerte es nicht lange, bis er seine Hose und die darin liegende Münze gefunden hatte. Er warf sie gerade so hoch, dass er sie im Dunkeln fangen konnte. Aufgeregt erfühlte er die oben liegende Seite, fuhr erst quer über die abgewetzte Oberfläche, dann von oben nach unten, immer wieder. Ja, es war die Fünf, sie musste es sein, er hatte »Zahl« geworfen.
Ganz sicher war er sich aber nicht.
Taso wurde von den ungewohnten Geräuschen einer anderen Person im Raum geweckt. Er öffnete die Augen und sah direkt in Dalias Gesicht. Sie saß fertig angezogen im Schneidersitz auf dem Schlafsofa und sah ihn an, als brächen sie gleich zu einer Weltreise auf.
»Guten Morgen!«, sagte sie etwas zu laut.
»Guten Morgen«, murmelte er und richtete sich lächelnd auf. »Aufgeregt?«
»Ja! Sehr!« Sie strahlte und klatschte mit den Händen auf die Oberschenkel. »Brauchst du lange?«
Taso versprach, sich zu beeilen. Er stand auf, ging zum Schrank und holte die Würfel heraus. Als er sie auf den Boden warf, bemerkte er Dalias bohrenden Blick. Er erklärte ihr sein Ankleidesystem und legte währenddessen die gewürfelten Klamotten heraus: schwarze Stiefel, dunkelgrüne Stoffhose, blaues Businesshemd, löchriger weißer Pulli und grün-weiße Funktionsjacke. Dalia sah ihn mit großen Augen an. »Du entscheidest nie selbst, was du anziehst.«
»Darüber muss ich nie nachdenken. Ist doch praktisch, oder?« Erst jetzt bemerkte er, dass Dalia dieselbe Kleidung trug wie am Tag zuvor. Sofort bereute er seine Worte.
Unverdrossen kam sie zu ihm hinüber und durchstöberte den Inhalt des Schranks. Sie lachte ein paarmal laut auf und schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, ich hätte … Obwohl, das hier geht doch.« Sie nahm schwarze Businessschuhe, Bluejeans, ein weißes T-Shirt, einen engen blauen Sweater und eine schwarze Stoffjacke aus dem Schrank. »Wie wärs heute damit? Hättest doch genauso gut das hier würfeln können …« Sie lächelte schelmisch.
Taso starrte auf die Auswahl. Die Stücke wirkten zwar ausgesucht, aber es stimmte natürlich, er hätte sie auch würfeln können. Er dachte an das letzte Mal zurück, als er zufällig gut angezogen aus dem Haus gegangen war. Seinem Pred-Score hatte es nicht geschadet. Entschlossen nahm er die Kleider, ging ins Bad und zog sich an. Als er wieder herauskam, schenkte Dalia ihm ein strahlendes Lächeln, und das mulmige Gefühl im Bauch verschwand. Taso bereitete ein kleines Frühstück aus Müsli und Obst zu, das Dalia ungeduldig hinunterschlang.
»Was machen wir als Erstes?«, fragte sie, als sie kurz darauf die Straße entlanggingen.
»Zuerst besorgen wir dir Smarts. Die brauchst du eigentlich für alles: zur Identifikation, fürs Bezahlen, für die Arbeit und fürs Studium … Danach richten wir dir ein Bankkonto ein, beantragen dein Grundeinkommen und suchen dir eine Wohnung.«
Dalia schien verunsichert. »Ganz schön viel für einen Tag.«
Taso schüttelte den Kopf. »Das können wir praktischerweise alles im Cubecenter erledigen.« Er hatte zynisch klingen wollen, aber Dalia strahlte.
Sie sahen den gewaltigen, würfelförmigen Bau des Cubecenters schon von Weitem. Die Fenster der oberen Etagen waren abgedunkelt. Stand man direkt davor, spiegelte sich in seiner Glasfassade die Silberkugel des Fernsehturms. Das durch viele Schiebetüren zugängliche Erdgeschoss war komplett einsehbar. Dalia richtete ihren Blick jedoch nicht aufs Cubecenter, sondern auf die andere Straßenseite, auf der ein paar Demonstranten Schilder in die Höhe hielten. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben! stand auf einem, Frei statt hörig! auf einem zweiten. Ein wenig abseits der Gruppe hielt eine weitere Person ein leeres Schild in die Höhe. Dort, wo sich ihr Gesicht befinden sollte, sah Taso nur einen weißen Fleck. Der Statur nach zu urteilen, war es eine Frau.
»Warum stehen die hier?«, fragte Dalia.
»Um Menschen davon abzuhalten, sich zu integrieren.«
»Wie die Abtreibungsgegner bei uns vorm Frauenarzt«, sagte Dalia nachdenklich.
»Was steht auf dem Schild ganz links?«, fragte Taso.
»Kannst du das nicht lesen?«
»Nein, ist zensiert. Meine SmEyes zeigen nur leeres Papier.«
»Zensiert?« Dalia sah ihn irritiert an und las vor: »Kubismus macht krank.«
»Nicht belegbar, deshalb zensiert«, murmelte Taso.
»Kennst du diese Leute?«
»Nein. Ist nicht so mein Ding, anderen Menschen ins Gewissen zu reden. Komm, lass uns reingehen, sonst bemerken die uns noch.«
Sie wandten sich zum Cubecenter.
»Hey!«, rief einer der Demonstranten. »Wartet mal!«
Mit einem Gefühl, als stieße er sie in einen Abgrund, schob Taso Dalia in die Eingangshalle.
Hinter dem Tresen in der Mitte der Halle saßen eine junge attraktive Frau und ein etwas älterer Mann. Als sich Taso und Dalia näherten, erhoben sie sich lächelnd. Taso lief ein Schauer über den Rücken, obwohl die Raumtemperatur sehr angenehm war.
»Willkommen! Ich bin Leslie«, stellte sich die Frau mit piepsiger Stimme vor. Sie war Taso auf Anhieb unsympathisch. »Lasst mich raten: Ihr seid deinetwegen hier!« Leslie überschlug sich fast vor Begeisterung. Sie ging leichtfüßig um den Tresen herum, trat auf Dalia zu und berührte sie sanft am Arm. Dalia zuckte zurück. »Du kommst aus Humaning, richtig?« Dalia nickte und sah sie überrascht an. Leslie lachte. »Wusste ich’s doch! Oder vielmehr der Würfel.« Sie zwinkerte Dalia zu. »Jedenfalls bist du neu in der Stadt und noch nicht registriert.« Sie blickte zu Taso. »Danke, dass du sie hergebracht hast, deine Freundin ist bei mir gut aufgehoben.«
»Das glaube ich gern«, beeilte sich Taso zu sagen. »Aber ich bleibe lieber hier.«
Dalia nickte entschieden, woraufhin Leslie nur mit den Schultern zuckte und Taso fortan ignorierte. Er fühlte sich völlig fehl am Platz, aber er würde Dalia auf keinen Fall allein lassen.
Leslie hakte sich bei ihr ein und führte sie in den hinteren Bereich der Halle. An Dalias steifer Haltung erkannte Taso, dass auch sie Leslie befremdlich fand.
»Als Erstes bekommst du passende Smarts«, säuselte Leslie, während vor ihnen zwei Regale aus dem Boden stiegen, in denen unzählige Smartsbehälter lagen. »Weißt du, wie die funktionieren?«
»Ich …«
»Das ist gar kein Problem«, unterbrach Leslie sie, nahm einen Behälter aus dem Regal und erklärte ihr die Funktionsweise.
Dalia hörte aufmerksam zu. »Und wie lange hält der Akku?«
»Mindestens zwanzig Stunden. SmEyes laden sich aber auch durch Wimpernschläge und Sonnenlicht wieder auf. SmEars haben ohnehin einen größeren Akku. Warte mal …« Leslie ergriff Dalias Oberarme und fixierte ihre Augen. Dann drehte sie Dalia einmal nach links und einmal nach rechts, um die Ohren auszumessen. Kurz darauf leuchteten im Regal etwa ein Dutzend Smartsbehälter auf. »Die hier müssten dir alle passen.«
Dalia zögerte. »Und was kosten die? Ich weiß nicht, ob ich …«
»Kein Problem, diese drei Exemplare sind kostenlose Einsteigermodelle, alle würfelfinanziert. Sie unterscheiden sich kaum voneinander.«
Taso überlegte, ob er erwähnen sollte, dass es bei früheren Modellen zu Hacks gekommen war, die Überfälle, Erschießungen und andere Dinge simulierten, verkniff es sich dann aber doch.
»Die hier drüben«, sprach Leslie weiter, »steigen von vorn nach hinten in Preis und Leistungsfähigkeit, vor allem was Zoomstufen und Lärmfilter angeht. Sie tragen sich auch etwas angenehmer, vor allem in den Augen, wobei Einsteiger die Unterschiede kaum bemerken. Aber du kannst sowieso jederzeit vorbeikommen und deine Smarts umtauschen.«
Dalia sah Taso fragend an.
»Ich habe so ein Standardding«, sagte er lustlos.
»Dann nehme ich auch erst mal eins von denen.«
Leslie nahm ein Set aus dem Regal und half Dalia dabei, erst die SmEyes, dann die SmEars einzusetzen. Dalia blinzelte einige Male, während ihre Smarts starteten. Dann sah sie sich fasziniert um, bis ihr Blick an Leslie hängen blieb. »Oh, wow, du siehst ja ganz anders aus!« Leslie lachte verlegen und wollte ihr erklären, was Sliftings waren, aber Dalia wusste schon Bescheid. Sie drehte sich zu Taso und lachte. »Du siehst genauso aus wie vorher.«
Taso lächelte innerlich. Er hatte sich nur ein einziges Mal gesliftet. Es war an einem Abend gewesen, an dem er sich besonders einsam gefühlt hatte. Er hatte unbedingt ausgehen wollen, sich aber den falschen Club ausgesucht. »Keine Offliner«, hatte der Türsteher gesagt und ihm den Weg versperrt. Taso hatte nicht lockergelassen, bis der Türsteher schließlich gemeint hatte, er solle sich wenigstens sliften. Hinterher hatte Taso nicht sagen können, was erniedrigender gewesen war: an der Tür abgewiesen oder mit falschen Muskeln und einer absurden Haartolle hineingelassen worden zu sein.
»Wenn du Lust hast, können wir dich später zusammen sliften!«, sagte Leslie aufgeregt zu Dalia. »Entweder man macht es selbst, oder man sucht sich einen Stil aus und lässt sich überraschen. Die ersten drei Tage sind bei den meisten Anbietern umsonst.«
Dalia machte eine abwehrende Handbewegung. »Vielleicht ein andermal, danke.«
»Na gut.« Leslie klatschte in die Hände. »Als Nächstes müssen wir dich registrieren, denn ohne Registrierung kein Bankkonto und ohne Bankkonto kein Grundeinkommen.«
Leslie wollte sich wieder bei ihr einhaken, aber Dalia wandte sich im selben Moment mit einer scheinbar zufälligen Drehung ab. Leslie lief voraus zu einem sich aus dem Boden schraubenden Terminal. Tasos Hand schnellte reflexartig nach vorn und hielt Dalia zurück. Er hatte eigentlich nichts sagen wollen, aber nun konnte er nicht anders: »Danach«, er nickte in Richtung Terminal, »bist du endgültig drinnen. Bist du dir wirklich sicher, dass du das willst?«
Dalia ergriff seine Hand und sagte bestimmt: »Ja.« Sie drehte sich um und zog ihn mit sich. Von dem Gefühl seiner Hand in ihrer betäubt, folgte er ihr. Sie lösten den Griff nur langsam.
Leslie wartete lächelnd neben dem Terminal. »Achtung, das ziept jetzt ein bisschen …« Sie riss Dalia mit einer flinken Bewegung einige Haare vom Hinterkopf. Dalia schrie auf, fasste sich an die versehrte Stelle und beobachtete Leslie verärgert dabei, wie sie die Haare ungerührt in eine kleine Öffnung des Terminals saugen ließ.
Taso kratzte sich unwillkürlich am Hinterkopf.
»Stell dich bitte hierhin, leg die Hände auf das Display und folge den Anweisungen deiner Smarts«, sagte Leslie.
Dalia trat an das Terminal und tat, wie ihr geheißen. Sie nannte Name und Geburtsdatum, kurz darauf vermeldete das Display: DNA verifiziert, Ident zugewiesen.
Leslie klatschte wieder. »Wunderbar!«
»Meine Smarts fragen, ob ich ein Konto bei der EZB einrichten möchte.«
»Ja, möchtest du«, antwortete Leslie.
Auch Taso nickte – und verdrängte das Gefühl, gerade dem Initiationsritual eines verrückten Kults beizuwohnen.
»Ja!«, sagte Dalia viel zu laut. Und kurz darauf: »Oh, das ging schnell. Und ich habe sogar schon 1.500 Euro drauf!«
»Dein Grundeinkommen für April«, erklärte Leslie. »Je höher in Zukunft dein Pred-Score«, Leslie hob beim letzten Wort fragend die Stimme, aber Dalia signalisierte ihr Verständnis, »desto mehr kannst du dir dazuverdienen.«
»Warum?«, fragte Dalia.
»Wie, warum?«
»Warum bekommt nicht jeder gleich viel?«
»Daten sind Geld wert, denn je berechenbarer wir sind, desto effizienter die Wirtschaft. Deshalb belohnt der Würfel Berechenbarkeit.«
»Und wer zahlt Geld für die Daten?«
Leslie zögerte und antwortete dann mit starrem Blick: »Der Würfel hat ein Datenmonopol. Das heißt, alle in kubistischen Staaten generierten Daten landen sofort und ausschließlich bei ihm. Wer Daten erhebt, bekommt Geld für sie – selbst für die eigenen Daten. Ein Unternehmen, das Daten für seine Produkte und Dienstleistungen braucht, also jedes Unternehmen, muss für die von anderen erhobenen Daten einen Preis bezahlen, den der Würfel ermittelt.«
Dalia dachte kurz nach. »Und warum bezahlen Unternehmen für die Daten anderer und arbeiten nicht nur mit ihren eigenen?«
»Zusammenarbeit ist Trumpf!«, las Leslie weiter. »Jedes Unternehmen profitiert davon, wenn es für seine Berechnungen auch auf die Daten Dritter zugreifen kann: Der Bäcker weiß, was er morgens backen soll, der App-Programmierer, wie viele Angestellte er wann braucht, und der Sefahersteller, was seine Kunden mittelfristig wollen und ausgeben können. Daten zu teilen hat uns reich gemacht – auch weil ein und dieselben Daten nicht länger mehrfach erhoben werden müssen.«
»Kann man mich dann auch beim Duschen beobachten, wenn man dafür bezahlt?«, fragte Dalia stirnrunzelnd.
Leslie lächelte verschmitzt. »Das entscheidest du allein. Der Würfel erkennt selbst, wie sensibel Daten sind. Er gibt sie Dritten nur frei, wenn das dem Datenschutzniveau entspricht, das du gewählt hast. Ist er unsicher, fragt er dich. Wählst du ein niedriges Schutzniveau, erhältst du einen Zuschlag auf dein Grundeinkommen, und das kann je nach Lebens- und Finanzlage einen ganz schönen Unterschied machen!« Die junge Angestellte zupfte an ihren Haaren. »Es geht aber auch umgekehrt: Viele Promis bieten auf Informationen über sich selbst, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollen. Je nachdem, was ein Datenschürfer aufgetrieben hat und wie viel davon sein Herrchen veröffentlichen würde, kann das ganz schön teuer werden!«
»Ich glaube, wir haben das Wichtigste für heute geschafft«, schaltete sich Taso ein. Er wurde langsam unruhig. Diese Umgebung erdrückte ihn, Leslie nervte gewaltig, und er hatte das Gefühl, Dalia in Sicherheit bringen zu müssen.
»Bekommen wir den Rest denn allein hin?«, fragte Dalia ihn.
»Natürlich.« Er klang pampiger als gewollt.
»Eine Sache noch«, ereiferte sich Leslie. »Sobald dein Pred-Score über 50 steigt, bekommst du rückwirkend das monatliche Grundeinkommen seit dem Start des Würfels überwiesen. Das sind in deinem Fall 139.518 Euro!«
Taso erschrak, Dalia sah sie ungläubig an. »Ich bekomme 140.000 Euro geschenkt?«
»Sobald dein Pred-Score über 50 steigt, ja. Ein Anreiz für Offliner, die lange außerhalb des Systems gelebt haben.«
Dalia lachte begeistert auf und drehte sich zu Taso, der keine Miene verzog. Er konnte nicht glauben, dass ihre Eltern all die Jahre auf ihr Grundeinkommen verzichtet hatten. Es gab nicht viele Offliner, die so prinzipientreu waren, dass sie wie seine eigenen Eltern von Ersparnissen oder von Spenden lebten.
»Wenn du möchtest«, sagte Leslie beschwörend und beugte sich dicht zu Dalia, »können wir dich sofort von null auf mindestens 30 bringen! Wir bieten nämlich einen ausgezeichneten Integrationskurs an, in dem der Würfel dich kennenlernen …«
»Den musst du aber nicht heute machen!«, ging Taso dazwischen. Er ließ alle Zurückhaltung fallen und sah Leslie wütend an.
Die Kubistin ignorierte ihn. »Der Kurs dauert nicht lange und …«
»… ist überhaupt noch nicht nötig!« Taso fand es ungeheuerlich, wie aufdringlich diese blöde Kuh war. Sie bekam für Dalias Registrierung natürlich eine nette Provision, die sich nach der Vermittlung eines Integrationskurses vermutlich vervielfachen würde. Er sah Dalia an und hoffte, dass sie seinen eindringlichen Blick verstand. »Du bist gerade mal einen Tag hier. Sich zu registrieren ist eine Sache – sich zu integrieren