Читать книгу Der Würfel - Bijan Moini - Страница 6
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ОглавлениеAuf dem montäglichen Weg zur Arbeit war Taso in Gedanken bei seinem Treffen mit Tim. Hätte er der Allianz seine Hilfe zusagen sollen? Eigentlich könnte er sich ihren Plan doch wenigstens einmal anhören. Wovor hatte er Angst? Mit Peter war es im Moment ohnehin schwierig, und ansonsten gab es nicht viel, was ihn an sein jetziges Leben band.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. In dem dicken Wintermantel war ihm obenherum viel zu warm, in den Ledersandalen an den Füßen viel zu kalt. Nur die neongelbe Cordhose war einigermaßen wettertauglich. Gedankenversunken ging er die Straße hinunter, als ihn seine Smarts mit einem schrillen Ton an die Demoversion des Jedi-Spiels erinnerten, das ihm den Weg zur Arbeit erleichtern sollte. Er hatte überhaupt keine Lust darauf, also startete er das Spiel.
Kurz darauf schwebte eine Drohne neben ihm und öffnete ihren Bauch. Taso nahm einen großen, schweren Gürtel heraus. In zwei Halftern steckten Joysticks in der Form von Staffelstäben, die durch die SmEyes des Spielers aber je nach Bedarf wie Tennisschläger, Pistolen oder Schwerter aussehen konnten.
Taso legte sich den Gürtel um wie früher seine Cowboyverkleidung, nur dass er sich jetzt albern dabei vorkam. Sofort veränderten seine Smarts die Welt um ihn herum. Häuser, Straßen, Autos und Menschen verschwanden. Er stand allein in einer Schlucht aus rotem Sandstein. Hinter ihm loderte eine gigantische Feuerwand, zu seiner Linken kroch ein zäher Strom glühender Lava, rechts ragte eine von Ruß geschwärzte Felswand in den rauchverhangenen Himmel, vor ihm wand sich ein schmaler Pfad durch eine lebensfeindliche Landschaft.
Er zog aus dem Gürtel einen Joystick, der jetzt aussah wie ein Schwertgriff. Aus dem oberen Ende schoss eine armlange blaue Lichtsäule, das Lichtschwert begann eintönig zu brummen.
Taso spürte etwas am Arm und erschrak: Ein vielleicht fünfjähriges Mädchen klammerte sich an ihn und sah flehend zu ihm auf. Sie hatte Ähnlichkeit mit seiner Nichte Lisa. Natürlich. Am liebsten hätte er ihre Hand abgeschüttelt – oder eher das Metallstück, das sich aus dem Gürtel geschlängelt haben musste –, riss sich aber zusammen. Das Mädchen trug einen sandfarbenen Mantel und kniehohe braune Stiefel. Taso sah an sich herunter und stellte fest, dass er selbst ebenso gekleidet war.
Plötzlich stand eine Gestalt in einem weiten schwarzen Mantel vor ihm. Die Kapuze hing weit über ihr Gesicht, die Hände hatte sie wie ein Mönch in die gegenüberliegenden Ärmel gesteckt.
»Taso«, flüsterte das Mädchen, »hilf mir!« Taso seufzte. Sie klang sogar wie Lisa.
Aus dem Dunkel unter der Kapuze zischte eine unnatürlich hohe Männerstimme: »Meister Taso … es ist lange her!« Über dem Kopf der Gestalt poppten Informationen auf: Sarko Juĝisto, Shadow Hand der Sith, Schüler von Darth Rugal.
Taso wusste, was er tun sollte. Er löste den Arm des Mädchens, trat einen Schritt vor und hob sein Schwert. Sofort zog Juĝisto die Hände aus den Ärmeln und aktivierte zwei rot leuchtende Lichtschwerter.
Die Steuerung war intuitiv, und Taso startete gut in den Kampf. Mal hieb er, mal wehrte er ab, mal nutzte er seine freie Hand für Gesten, mit denen er das Tempo steuern und mit Zauberkraft Lava auf seinen Gegner werfen konnte. Er trieb den zunächst lachenden, dann fluchenden Sith vor sich her, verfolgte ihn durch die Schlucht. Er wich vorbeieilenden Zivilisten aus, überquerte den Lavastrom über einige große Steine, die nur wenige Sekunden aus der dampfenden Glut herausragten, bis er endlich zu einer langen, breiten Steintreppe kam. Die Treppe führte zu einem Plateau, auf dem ein Raumschiff stand. Juĝisto wartete auf einer der unteren Stufen. Er hatte die Kapuze abgenommen, dunkle Tattoos übersäten sein Gesicht, hasserfüllt fixierte er seinen Verfolger.
»Hier wird es sich entscheiden, Meister Taso!«, rief der Sith, bevor Taso losstürmte, ihn in einem wilden Kampf entwaffnete und dann mit einem glatten Hieb enthauptete. Juĝisto kippte zur Seite, sein Kopf rollte die Stufen hinab, bis er im glühenden Lavastrom versank. Das kleine Mädchen jubelte und tanzte lachend auf und ab, bevor es sich in respektvoller Entfernung vor ihm aufbaute und rief: »Vielen Dank, der Herr!«
Taso zögerte kurz, lächelte dann und sagte: »Es war mir eine Ehre, Frau … Zauberfackel!«
Lisa lachte auf, rannte die Treppen hinauf und kletterte in das Raumschiff. Das Gefährt erhob sich in den Himmel, und als Taso wieder nach vorn blickte, sah er die großen Türen des Landgerichts. Der Schweiß troff ihm vom Gesicht, er pellte sich aus seinem Mantel und wedelte Luft unter das T-Shirt. Ein vorbeigehender Mann sah ihn irritiert an, als wäre Taso soeben aus dem Nichts erschienen.
Hat dir das Spiel gefallen?, fragten seine Smarts. Eine Drohne hielt neben ihm und öffnete die Bauchklappe, Taso legte den Gürtel hinein. Das Spiel hatte ihm sogar verdammt gut gefallen, weshalb er die Demoversion kündigte und das Spiel mit nur einem von fünf Sternen bewertete, bevor er beschwingt das Gericht betrat.
Als er die Tür zu seinem Büro öffnete, verpuffte Tasos gute Laune. Schlagartig erklang laute Schlagermusik, über seinem Schreibtisch explodierte ein virtuelles Feuerwerk. Sein Kollege David stand mit ausgebreiteten Armen vor ihm und strahlte ihn an. Taso zwang sich zu einem begeisterten Lächeln und fügte sich steif der unausweichlichen Umarmung. Unaufrichtige Reaktionen wie diese hatten im Verlauf der letzten beiden Jahre dazu geführt, dass David Taso für seinen besten Freund hielt. Nachdem dann eine App errechnet hatte, dass Davids Chancen auf eine feste Freundschaft mit Taso höher als mit jedem anderen waren, hatte sich David kaum noch abschütteln lassen. Er war nie auf die Idee gekommen, dass die App durch Tasos Gaukelei ein völlig falsches Bild ihrer »Beziehung« hatte. Eigentlich wäre David prädestiniert gewesen für imaginäre Freunde, wie sie viele sozialunverträgliche Kubisten nutzten, aber er hatte ja Taso.
Taso konnte David nicht leiden. Manchmal sah er den Würfel schadenfroh grinsen, während er sich, wie heute, um eine gute Miene zum grausamen Spiel bemühte.
»Alles, alles, alles Gute nachträglich, mein Bester«, keuchte David und drückte Taso viel länger an sich als nötig. Davids beträchtlicher Bauch und penetranter Schweißgeruch raubten Taso den Atem. »Gefällt dir meine Überraschung?«
Endlich lockerte David seinen Griff und schwang den Arm mit großer Geste durch die Luft. Er hatte offensichtlich eine kostenlose Party-App verwendet, die Tasos Büro in einen Festsaal verwandelt hatte: Von der Decke baumelten gesmalte Girlanden und ein Banner mit der Aufschrift »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, [bitte Namen einfügen]!«. Die Wände waren in grellen Farben gestrichen, und in einer Zimmerecke stapelten sich drei gigantische Torten. In einer anderen Ecke standen ein paar berühmte Fußballspieler in den Trikots ihrer Mannschaften und plauderten mit zwei leicht bekleideten Supermodels. Auf Tasos Schreibtisch lag ein virtueller blauer Briefumschlag, der sich nach einem Klick als Gutschein für einen Bauernhofausflug entpuppte.
Taso schüttelte sich innerlich. Am liebsten hätte er David samt Fußballer und halb nackter Frauen brüllend rausgeworfen.
»Da kommen wir endlich mal raus aus der Stadt«, sagte David zwinkernd. »Wird Zeit, dass wir mal was zusammen unternehmen.« Tasos Kopf war kurz davor, zu zerspringen, während er sich überschwänglich bedankte.
»Die Deko hab ich komplett selbst ausgesucht!« David betrachtete zufrieden sein Werk. »Obwohl ich nach dem Date gestern eigentlich gar keine Zeit mehr hatte.« Sein Gesichtsausdruck trübte sich. Taso hätte lieber den Schlager voll aufgedreht oder sich zu den Fußballern gestellt, als dem zuzuhören, was nun unweigerlich folgte: Davids detaillierter Bericht eines weiteren gescheiterten Dates.
Nach ein paar Minuten erschien zu Tasos Glück sein Chef in der Tür. Für den aufrechten Kubisten und leidenschaftlichen Beamten war Taso sicher das größte Rätsel seiner Karriere. Taso wandte sich von David ab und schüttelte Herrn Richters ausgestreckte Hand, der ihm sogleich gratulierte. Taso musste an Juĝisto denken, hatte der nicht ganz ähnlich geklungen? Dem Chef folgten ein paar weitere Kolleginnen und Kollegen, die schuldigst ihre Pflicht taten und Taso die Hand schüttelten, bevor sie sich fernab von David einen Platz im Büro suchten. Die einzige weitere Umarmung kam von Julia, die nach der vorletzten Weihnachtsfeier bei Taso zu Hause gelandet war, um dann fluchend wieder abzuziehen, als er ohne Smartsunterstützung mit ihr ins Bett wollte. Als alle um ihn herumstanden und ihn erwartungsvoll ansahen, schwärmte Taso angestrengt von der Geburtstagsfeier seines Bruders, von den vielen alten Freunden und den hervorragenden Fenchelküchlein. David ergänzte lautstark, dass er natürlich gekommen wäre – eingeladen hatte Taso ihn nicht –, hätte seine Mutter nicht ihren Sechzigsten gefeiert.
Die Überraschungsparty dümpelte eine lange Weile vor sich hin. Endlich wollte sich Herr Richter mit einem weiteren Händedruck verabschieden, als plötzlich Frau Aydin den Raum betrat. Herr Richter schien ihre Anwesenheit zu spüren, denn er drehte sich blitzschnell um und zog die Hand zurück, bevor Taso sie ergreifen konnte.
Alltagsgespräche starben in Frau Aydins Gegenwart einen schnellen Tod und wurden entweder ersetzt durch andächtige Stille oder bemüht intellektuelle Unterhaltungen. Selbst David unterbrach seinen Julia ertränkenden Redeschwall.
Taso war immer wieder beeindruckt, welche Wirkung die zierliche Mittfünfzigerin auf andere hatte. Anders als Taso und seine Kollegen war sie Richterin und leitete eine der wenigen verbliebenen Berufungskammern des Landgerichts. Als Taso vor ein paar Jahren im Rahmen eines Minderheitenprogramms für Offliner ans Landgericht gekommen war, hatte sie ihn rasch unter ihre Fittiche genommen. Er hatte nie herausgefunden, ob sie eine glühende Kubistin mit Missionarseifer oder eine heimliche Offlinersympathisantin war. Auf entsprechende Fragen hatte sie ausweichend geantwortet. Alle würden von Programmen wie diesem profitieren, hatte sie gesagt, außerdem sei ihr der Schutz von Minderheiten wichtig, und auch das Grundgesetz gelte schließlich noch. Mit der Zeit hatte er das Gefühl, dass sie ihn einfach mochte, und das war ihm eigentlich am liebsten. Er hatte früh eine ihrer Gerichtsverhandlungen verfolgt und gestaunt, wie spielerisch sie Kläger, Beklagte und deren Anwälte im Griff hatte, wie souverän sie überzeugende von schwachen Argumenten trennte und wie selbstbewusst sie schließlich ihr Urteil begründete, als hätte sie nicht über mehrere Millionen Euro, sondern über den Schadensersatz für ein abgeschossenes Ped entschieden. Seither bat sie Taso alle paar Wochen um Rat zu ihren Fällen – ohne dass sie ihn wirklich bräuchte, denn er kannte keine bessere Juristin als sie. Dankbar und fasziniert diskutierte er die Fälle mit ihr, genoss es jedes Mal, wenn sich sein hungriges Hirn auf ihre Fragen stürzte wie ein Hund auf sein Stöckchen und er sich zur Abwechslung mit der Urteilskraft eines Menschen auseinandersetzen konnte statt mit der einer Software. Um dieses Vertrauensverhältnis und seine hohe Meinung von Frau Aydin nicht zu gefährden, hatte er nie gefragt, warum sich ein so kluger und reflektierter Mensch wie sie mit dem Kubismus arrangiert hatte. Er wusste ohnehin, dass ihn die Antwort nur enttäuschen konnte. Taso hatte schon zu viele Ausflüchte gehört.
Frau Aydin musterte irritiert die Bürodekoration. Die billigen Farben und das Zubehör standen in starkem Kontrast zu ihrer Erscheinung: Mit petrolfarbenem Rollkragenpullover und edlem schwarzen Jackett passte sie eher auf eine Vernissage als in diese unmotivierte Geburtstagsversammlung. Amüsiert beobachtete Taso den Überschwang, mit dem Herr Richter sie begrüßte und ihr für ihr Kommen dankte. Frau Aydin nickte nur höflich und ging rasch weiter zu Taso. Ihr Lächeln war nicht besonders herzlich, das war es nie, aber er wusste, dass es nicht aufgesetzt war.
»Herzlichen Glückwunsch. Haben Sie schön gefeiert?«
Taso lächelte. »Danke, ja.«
Sie runzelte die Stirn und sagte halblaut: »Ich hoffe, die Musik auf Ihrer Feier war besser als die hier.«
Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. David fuchtelte sofort in der Luft herum, worauf die Musik kurz lauter wurde, bevor sie endlich verstummte. Taso lachte in sich hinein. Er hätte nicht gedacht, dass er diese Zusammenkunft doch noch genießen würde.
Frau Aydins Gesicht entspannte sich. »Ich habe eine Kleinigkeit mitgebracht.« Sie hielt eine Champagnerflasche hoch. »Haben Sie ein paar Gläser?«, fragte sie Herrn Richter. Der nickte nur, eilte aus dem Büro und kehrte kurz darauf mit ein paar Wassergläsern zurück. Als Frau Aydin kurz darauf allen eingeschenkt hatte, hob sie ihr Glas. »Auf unseren geschätzten Kollegen Taso!« Sie sah ihn etwas länger an als gewöhnlich. »Auf seine sicher große Zukunft!«
Taso zögerte kurz, setzte ein schmales Lächeln auf und stürzte seinen Champagner hinunter.
Als endlich alle gegangen waren, zog er die Bürotür zu und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Er schloss die Augen, atmete tief durch und widerstand dem Impuls, die schreckliche Deko abzuschalten. Stattdessen drehte er sich so, dass er Fußballspieler und Supermodels nicht mehr sah. Hätte David eine kostenpflichtige App gewählt, würden sich die Simulationen jetzt mit ihm unterhalten wollen.
Taso startete seine Arbeitssoftware »Insta-Supervision«.
Als er vor zehn Jahren mit dem Jurastudium begonnen hatte, hatte er sich seine künftige Arbeit anders vorgestellt. Er hatte von leidenschaftlichen Plädoyers und aufreibenden Zeugenvernehmungen geträumt, von Gerechtigkeit und spannenden Geschichten aus dem prallen Leben, die er erzählen oder über die er urteilen würde. Nach dem Referendum hatte er im Recht zumindest noch eine Bastion gegen die technisierte Welt gesehen, einen Widersacher des ungezügelten Fortschritts, für den der Menschenverstand noch etwas zählte. Dann aber wurde »Instalaw« eingeführt. Das Programm entschied Rechtsstreite ad hoc: Aus Smartsaufnahmen und allen anderen Daten des Würfels ermittelte es, was passiert war, und fällte ein Urteil. Sehr praktisch, sehr schnell, und die Beteiligten sparten Gerichts- und Anwaltskosten. Wer die Instalaw-App aktiviert hatte, sah in einer Schlägerei nach jedem Fausthieb, wie viel Schmerzensgeld ihn dieser kostete, welche Strafe ihm drohte und wie sich beides bei weiteren Schlägen entwickeln würde. Instaurteile konnte man nur anfechten, wenn der Streitwert über 50.000 Euro lag. Dann entschieden, wiederum unterstützt vom Würfel, Menschen über den Fall. Menschen wie Frau Aydin.
Mit Instalaw nahm der Bedarf an Juristen rapide ab. Die wenigen offenen Richterstellen gingen an Kandidaten mit hohem Pred-Score, weil der Würfel ihre Eignung leichter einschätzen, sie effektiver einsetzen und besser durch das Berufsleben führen konnte. Taso hatte keine Chance gehabt. Auch Kanzleien waren für ihn nicht infrage gekommen, denn sie erhielten wie alle Unternehmen Steuervergünstigungen für hohe Pred-Scores ihrer Belegschaft. Ihm war nur eins übrig geblieben: Supervisor zu werden. Seine Aufgabe bestand in der Überprüfung von Instaurteilen, die keiner der Beteiligten angefochten hatte oder anfechten konnte, weil der Streitwert zu niedrig war. Dazu bekam er alle Informationen eines Falls auf seine Smarts gespielt. Bewertete er ihn anders als Instalaw, begründete er das und reichte die Sache weiter an die Instakammer des Gerichts. Selbst entscheiden durfte er nichts.
Instalaw war schnell besser geworden. Inzwischen vergingen ganze Wochen, in denen Taso keinen Anhaltspunkt für eine Fehlentscheidung fand. Die meiste Zeit seiner Arbeit fühlte er sich nutzlos oder unfähig und langweilte sich zu Tode. Es half nicht gerade, zu wissen, dass viele Supervisoren dieselben Fälle parallel begutachteten – um Instalaw weiter zu verbessern, zur Arbeitsbeschaffung oder einfach, weil die Überprüfung ohnehin fast nichts kostete. Supervisoren waren billig.
Trotzdem wollte Taso seine Arbeit nicht missen. Er verdiente etwas Geld zu seinem Grundeinkommen dazu, sah ab und an Frau Aydin und hatte unter der Woche etwas zu tun. Außerdem war er hier unbeobachtet: Der Würfel verknüpfte die Analysen der Supervisoren nie mit ihren digitalen Profilen, um die Unabhängigkeit der Justiz zu schützen. So konnte jeder infrage stellen, was Instalaw für richtig hielt – ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, was der Würfel von ihm erwartete und wie sich die Entscheidung auf den eigenen Pred-Score auswirken würde. Tasos Job war ein wenig wie eine Würfelfreie Zone im Auge des Kubismus.
Am späten Vormittag erinnerte Tasos Kalender ihn an einen Termin beim Chef. »Ah, Herr Doff«, begrüßte ihn Herr Richter, als Taso an dessen Bürotür klopfte. »Die Evaluierung, richtig? Kommen Sie rein.« Er winkte Taso zu sich und bot ihm den Stuhl gegenüber an. »Ich brauche noch einen Moment.« Taso nahm Platz und sah sich um. Dafür hatte er zu Beginn ihrer Meetings immer genügend Zeit.
Herr Richter hatte das Büro bei seinem Einzug aufwendig besmalt und es seither kaum verändert. Es war rundum vertäfelt und gab Taso jedes Mal das Gefühl, in einer alten bayerischen Gaststätte zu sitzen. Durch große Fenster in der Wand hinter dem Schreibtisch blickte der Besucher in einen sonnendurchfluteten Park, in dem Giraffen umherstolzierten. Die Wand daneben zeigte einige Gemälde berühmter Verfassungsrichter, zwischen ihnen hingen Bilder von Herrn Richter und seiner Familie. Auf die dritte Wand hatte er eine prachtvolle, offen stehende Flügeltür gesmalt, die sich zu einem Salon mit großem Kamin, schweren roten Polstersesseln und einem edlen Perserteppich öffnete. Die einzige Veränderung seit Tasos letztem Besuch war ein Zertifikat, das zu Herrn Richters Rechten an der Wand hing: Der Wächterrat gratuliert Herrn Egon Richter zum Erreichen eines Pred-Scores von 85. Die Zahl stand in einer eigenen Zeile und schimmerte golden. Für seinen unermüdlichen Einsatz für Frieden und Wohlstand danken wir ihm außerordentlich und versprechen ihm für die Zukunft alles Gute.
Taso musste schmunzeln.
Nach einer Weile stand sein Chef endlich auf und ging zu einem Beistelltisch mit einer Kaffeemaschine darauf, einer der wenigen echten Gegenstände im Büro.
»Kaffee?«, fragte er, nahm zwei neben der Maschine stehende Tassen und drehte sie vom Kopf auf die Füße.
»Gerne.«
»Letztes Mal hatten Sie schwarz mit viel Zucker, richtig?«
Taso war verblüfft, dass Herr Richter sich das gemerkt hatte. »Ja, aber heute hätte ich gern einen Milchkaffee ohne Zucker.«
Herr Richter grunzte verächtlich und machte sich an der Maschine zu schaffen. Kurz darauf reichte er Taso kommentarlos eine Tasse mit schwarzem Kaffee, in den er extra viel Zucker gerührt hatte, und setzte sich wieder. Herr Richter mochte Routine, auch bei anderen Menschen. Prompt saß Taso in einem der vertrauten roten Salonsessel im gesmalten Nachbarzimmer. Nur das harte Holz unter seinem Po erinnerte ihn daran, dass er sich nicht fortbewegt hatte. Auch dieser Szenenwechsel war fester Bestandteil eines Gesprächs mit seinem Chef.
Herr Richter saß im Polstersessel gegenüber und rührte stumm in seiner Tasse, bis ihm ein grünes Licht am Ende des Löffels signalisierte, dass der Inhalt jetzt nach seinem Geschmack temperiert war. Nach dem dritten Schluck begann er zu sprechen. »Sie wissen ja, dass Instalaw schon lange ziemlich rundläuft: Die Instakammer unseres Gerichts musste in den letzten zwei Jahren nur sieben Urteile ändern. Bei über zehntausend Fällen, das müssen Sie sich mal vorstellen!« Seine Augen leuchteten kurz, dann wurde er wieder ernst. »Wir werden deshalb künftig immer weniger Fälle in der Supervision bearbeiten und …«, er räusperte sich, »nachdem die Minderheitenförderung ausgelaufen ist, rücken nun die Offliner in den Fokus.« Taso wurde flau im Magen. Herr Richter scheiterte an einem entschuldigenden Lächeln. »Ich mache es kurz: Sie werden künftig weniger arbeiten müssen, nämlich nur noch von Montag bis Mittwoch statt bis Donnerstag.« Herr Richter nahm noch einen Schluck Kaffee und trommelte nervös mit den Fingern gegen das Porzellan. »Vielleicht … schauen Sie sich mittelfristig nach etwas Neuem um. Man weiß ja nie, wie sich die Dinge hier entwickeln, nicht wahr?«
Taso hätte schreien können. Es kostete ihn alle Kraft, seinen Zorn im Zaum zu halten. Er arbeitete regelmäßig doppelt so viele Fälle ab wie David oder irgendein anderer Kollege. Niemand in seiner Abteilung hatte einen Juraabschluss, auch Herr Richter nicht. Diese Maßnahme war nicht nur ungerecht, sie ergab einfach keinen Sinn! Sein Chef wusste das, und trotzdem saß er ruhig auf seinem Thron und vollstreckte diese hässliche Politik.
»Das hat überhaupt nichts mit Ihrer Leistung zu tun!«, fuhr Herr Richter eilig fort. »Ich habe Frau Aydin neulich erst wieder erzählt, was für gute Arbeit Sie machen. Aber Sie wissen ja, wie das System funktioniert. Wenn Sie doch nur …«
»Ich kann das gut verstehen, machen Sie sich keine Sorgen«, unterbrach Taso ihn gepresst. »Muss ich mir wohl noch ein Hobby suchen.« Mit Mühe verzog er seine Mundwinkel so, dass ein Lächeln erkennbar wurde.
Herr Richter schien irritiert. »Ihr Gehalt wird leider auch angepasst«, schob er vorsichtig hinterher.
»Ich habe sowieso kaum Ausgaben.« Taso stand etwas schneller auf, als es sein Kreislauf verkraftete. Er schwankte kurz und hielt sich am Stuhl fest, bis der Schwindel verging. Er war nun nicht mehr im Salon, sondern wieder in Herrn Richters Büro. »Wenn sonst nichts mehr ist …«
Sein Chef schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie sich den Rest der Woche frei, Herr Doff, Sie haben es verdient.«
Im Flur wurde Taso speiübel. Mit wackeligen Beinen registrierte er den Eingang einer E-Mail in seinem Sichtfenster: eine automatische Kündigung seines Mietvertrags zum Ende des Monats. Kurz darauf folgten Angebote der Zentralen Wohnungsvermittlung für noch günstigere Einzimmerapartments.
Zurück in seinem Büro schloss Taso die Augen, damit der Würfel nicht sehen konnte, wie er wild mit den Armen in die Luft boxte und den Mund zu einem langen, lautlosen Schrei aufriss. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und versuchte, sein übliches Tagespensum abzuarbeiten.
Als David mit betretener Miene in der Tür stand, wusste Taso, dass er es nicht schaffen würde. Offenbar hatte sich die Neuigkeit längst rumgesprochen. David versuchte, Taso zu umarmen, was dieser ohne zu überlegen abblockte. Mit verzweifelter Miene suchte David nach Auswegen aus der Misere. Taso solle doch seinen Pred-Score bis knapp über 50 steigern, schlug er vor, damit er nicht mehr als Offliner gelte. Taso nickte und versprach, es sich zu überlegen. Erst nachdem er ihm wiederholt lautstark für seine Anteilnahme gedankt hatte, wurde er David wieder los.
Auf dem Nachhauseweg fühlte er sich deutlich schlechter als damals, als das Gericht seine Fünftagewoche um einen Tag gekürzt hatte. Wenn Herr Richter recht behielt, wäre er bald arbeitslos. Wer würde ihn dann noch einstellen? Niemand wollte Offliner in seinem Unternehmen, geschweige denn Gaukler. Dank Grundeinkommen würde er zwar nicht verhungern – aber was bliebe ihm dann noch? Vielleicht sollte er doch alles hinschmeißen. Seinen Job kündigen, Arbeit in einer WfZ suchen, sich dem Widerstand anschließen. Dem Kubismus endgültig den Finger zeigen.
Eine Meldung seines Newsfeeds riss ihn aus den Gedanken: Tims Chefin Pascale Bellaxa war vorübergehend festgenommen worden. Als Festnahme bezeichnete jedenfalls sie selbst die Gefährderansprache, zu der man sie vorgeladen hatte, ihre vierte in diesem Jahr. Eine Liveschaltung zeigte sie vor dem Polizeihauptquartier.
Taso hatte Pascale schon lange nicht mehr gesehen, aber die Würde und Stärke, die sie ausstrahlte, waren ganz die alten. Ihre blauen Augen waren dezent, aber wirkungsvoll geschminkt, ihr schmales Gesicht war eingerahmt vom hochgestellten Kragen eines schwarzen Mantels, dessen knallgelbes Innenfutter am Saum und an den Ärmeln aufblitzte und der sicher morgen im Modeteil des Gauklers zu sehen sein würde. Pascale wirkte vollkommen gefasst, während sie die Arme effektvoll durch die Luft bewegte, um die Worte ihrer kräftigen Stimme zu unterstreichen: »Das ist unwürdig! Nicht nur ich werde regelmäßig hierher verschleppt, um Rede und Antwort zu stehen, die ich nicht schulde – Hunderten anderen Offlinern geht es genauso! Diese Schikane muss ein Ende haben! Noch diese Woche werden uns wohlgesinnte Abgeordnete eine Gesetzesinitiative starten, mit der wir …«
Tasos Augen blieben an einem Mann hängen, der mit verschränkten Armen einige Meter hinter Pascale stand. Taso zoomte heran und erkannte Zhong Schneider, der lächelnd die Rede verfolgte. Gerade als Taso den Blick wieder abwenden wollte, drehte Schneider leicht den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Taso erstarrte. Konnte Schneider wissen, dass er ihn ansah? Mit klopfendem Herzen und einem unguten Gefühl beendete er die Übertragung.
Wenige Hundert Meter trennten Taso noch von seiner Wohnung. Er konnte es kaum erwarten, sich die Smarts herauszunehmen und aufs Sofa zu fallen. Er wollte an nichts mehr denken, einfach die Augen schließen und in einen traumlosen Schlaf sinken.
Müde registrierte er schon von Weitem eine junge Frau, die auf den Stufen zu seiner Haustür saß. Neben ihr stand ein großer Rucksack. Sie hatte ihr Kinn auf die Knie gestützt, das dunkle, leicht gewellte Haar fiel ihr ins Gesicht. Ihre braun-rot karierte Bluse und ihr langer schwarzer Rock erinnerten Taso an die altmodische Kleidung der Namischen.
Namische kamen eigentlich nie in die Stadt. Andererseits würde das die beiden über ihr schwebenden Datenschürfer erklären, die die Frau sicher beobachteten, weil sie keine Smarts trug.
Als Taso näher kam, hob sie den Kopf, sah ihn an und lächelte unsicher. Der Anblick ihres runden, gleichmäßigen Gesichts mit den großen grünen Augen und dem auffälligen Muttermal auf der rechten Wange riss Taso in eine andere Zeit.
Obwohl er sie lange nicht mehr gesehen hatte, erkannte er Dalia sofort.