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11. Die Höhle
Оглавление„Als der Fürst im Nordwesten der Insel einen Hafen anlegen wollte, traf er auf die dort noch lebenden Steinmagier. Erzürnt über die Zerstörung ihrer Heimat, töteten sie die Arbeiter des Fürsten. Korek musste sich etwas einfallen lassen. Doch er war ein kluger Magier und wusste um die Wirkung der Musik.“
Nuadas Erinnerungen
Festgehalten von Màdo
Vierhundert Winter nach Armor
Nachdem Brägan Jo von Nuada heruntergeholfen hatte, wandte er sich ab und eilte auf die Kraterwand zu, die sich drohend über ihnen in die Höhe reckte. Jo folgte ihm schwankend, ihre Beine fühlten sich taub an und wollten ihr nicht gehorchen. Korbinian ergriff ihren Arm und schob sie zwischen den den Boden bedeckenden Felsbrocken auf die Felswand zu. Aus gewaltigen Spalten in der Kratermitte stieg heller Rauch auf und wirbelte durch die erneut dicht fallenden Schneeflocken. Der Alte führte sie durch eine Öffnung im Fels in einen von Fackeln beleuchteten Gang, der sich weit in den Berg hineinzog, bevor er in eine gewaltige Höhle mündete, deren Wände im Schein der Feuer matt schimmerten.
Jo hielt inne und starrte verwundert in das Zwielicht. Hunderte von Menschen bevölkerten das Gewölbe und füllten es mit lautem Stimmengewirr. Männer, Frauen und Kinder standen in Gruppen zusammen oder saßen auf Decken und Fellen an den Feuern, über denen dampfende Kessel hingen. Ein schwerer süßer Geruch hing in der warmen Luft. Was machten all diese Menschen hier? Waren sie geflohen und hielten sich hier versteckt? Es musste einen guten Grund geben, warum sie sich in die unwirtlichen Berge zurückgezogen hatten. Jo sah sich um, in der Hoffnung, Motz zu entdecken, doch sie ahnte, dass er nicht hier war.
Je weiter Korbinian sie in die Höhle hineinführte, desto stiller wurde es. Misstrauische Augen musterten sie unfreundlich. Jo hielt den Blicken stand und starrte zurück, obwohl die Furcht um ihre Beine strich. Die Gesichter der Menschen waren verhärmt und zeugten von Trauer, großem Leid und Entschlossenheit. Einige trugen Narben, andere frische Wunden. Haut, Haare und Kleidung waren grau. Aus einer Gruppe lösten sich drei Männer und versperrten ihnen den Weg. Einer von ihnen zeigte auf sie und zischte ihr etwas zu, das sie nicht verstand. Jo konnte seinen Hass fühlen und blickte sich Hilfe suchend zu Korbinian um. Der Alte machte eine Handbewegung und die Männer wichen zurück wie von einer unsichtbaren Kraft gedrängt. Sie warfen Jo einen finsteren Blick zu, als Korbinian sie weiter in das Innere der Höhle schob.
Immer mehr Menschen näherten sich und bildeten einen Kreis um Jo und den Alten. Ihre kalten Blicke trafen Jo wie Nadelstiche. Wieso verhielten sie sich so feindselig? In diesem Moment trat Brägan neben sie. Nur zwei Worte sagte er, doch die Menschen stoben auseinander mit Achtung im Blick. War er ihr Anführer? Er führte Jo aus dem Kreis heraus an ein Feuer im hinteren Teil der Höhle, wo eine junge Frau ihr einen steinernen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit reichte.
Jo nippte daran und genoss den kräftigen süßen Geschmack des Weins, wohlige Wärme füllte ihren Magen. Schreie aus dem hinteren Teil der Höhle ließen sie herumfahren. Männer in Lederrüstungen kämpften dort mit Schwertern und Äxten, Pfeile sirrten von gespannten großen Bögen auf Zielscheiben an der Felswand. Was geschah hier?
„Jo!“ Brägans Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie drehte sich zu ihm. Er machte ihr ein Zeichen, neben ihm Platz zu nehmen. Er hatte den Umhang abgelegt und die Verzierungen des breiten Ledergürtels, den er über seiner Tunika trug, schimmerten gülden im Licht des Feuers. Seine grauen Augen musterten sie lange.
„Kommst du aus Frankreich?“
Jo riss die Augen auf und hätte vor Überraschung beinahe den Becher fallen lassen. Sie nickte. „Ja. Wie kommt es, dass du meine Sprache sprichst?“
Die Andeutung eines bitteren Lächelns huschte über Brägans Gesicht. „Meine Eltern waren in deiner Heimat, vor langer Zeit.“
Nun, wo sie sich verständlich machen konnte, verspürte sie eine große Erleichterung, auch wenn sie noch nicht wusste, was Brägan mit ihr vorhatte. Sie empfand keine Furcht vor ihm, doch sie fühlte die Kraft, die von ihm ausging. Er starrte in die Flammen und schien sie vergessen zu haben. Das Feuer zischte, als die junge Frau neben ihnen kleine Kugeln einer klebrigen Masse hineinwarf. Ein starker Zimtgeruch stieg Jo in die Nase.
„Bin ich hier auf Thuroth?“ Diese Frage brannte ihr seit ihrer Ankunft auf der Seele.
Brägan nickte. „Ja, du bist auf Thuroth.“
Wenn er sich wunderte, wieso sie nicht wusste, wo sie war, zeigte er es nicht. Jo seufzte leise. Einerseits war sie erleichtert, dass das Reiseamulett sie tatsächlich zum Ziel geführt hatte, andererseits begann sie zu ahnen, dass sie sich auf etwas eingelassen hatte, das weit jenseits ihrer Vorstellungskraft lag.
„Mein Bruder, ist er auch hier?“
Brägan schüttelte den Kopf. „Nein. Wie ist er verschwunden?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe nur den Teil eines Flügels über dem Abgrund gesehen.“
„Glich er Nuadas Schwinge?“
„Nein, er trug Stacheln.“
Brägan seufzte. „Das, was du gesehen hast, war der Flügel eines Myrk, eines großen Raubvogels. Er wird deinen Bruder zu einem der Horste auf den Berggipfeln gebracht haben.“
Ein Mann trat ans Feuer. Er trug eine gepolsterte lederne Weste und an seinem Gürtel hingen eine Schwertscheide und zwei Dolche. Er zeigte auf Jo und richtete leise Worte an Brägan, der ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte. Der Mann warf Jo einen unfreundlichen Blick zu und zog sich zurück.
Sie sah ihm nach. „Was haben die Menschen hier gegen mich? Warum sind sie so feindselig?“
Brägan musterte sie nachdenklich. „Du bist ihnen nicht willkommen. Sie halten dich für einen Spitzel des Feindes.“
Jo zog die Brauen zusammen. „Einen Spitzel?“
Brägan nickte, ohne ihr eine Erklärung zu geben.
„Glaubst du das auch?“
Seine Mundwinkel zuckten. „Du hast ein Feuer am Wachturm von Aderyn entzündet.“
„Na und?“ Sie stellte den leeren Becher auf den Boden.
„Der Turm wird nur vom Feind benutzt.“
Sie musterte ihn ungläubig. „Mir war kalt!” Sie hatte lauter als beabsichtigt gesprochen und senkte die Stimme. „Ich weiß ja nicht einmal, wer euer Feind ist.“
Brägan zog ihr Messer aus seinem Gürtel und drehte es in seinen kräftigen Händen. „Und du trägst eine Waffe.“
Jo stöhnte innerlich. „Natürlich trage ich eine Waffe. Du würdest auch nicht unbewaffnet in eine fremde Welt reisen.“
Er steckte das Messer lächelnd wieder in seinen Gürtel zurück.
„Nun, Jo aus den fremden Landen, sage mir, wie ihr nach Thuroth gelangt seid und welches eure Absichten sind.“ Eine hellgraue Strähne hatte sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst und fiel ihm ins Gesicht. Er schob sie hinter das Ohr und sah sie streng an.
Jo blinzelte und schaute ins Feuer. Brägans graue Augen beunruhigten sie. Er mochte erst Mitte zwanzig sein, doch seine Augen wirkten wie die eines alten Mannes, der schon viel gesehen hatte. „Können wir nicht zuerst überlegen, wie wir meinen Bruder retten können?“
„Nein.“
Sie fröstelte trotz der warmen Luft in der Höhle. „Ein Reiseamulett hat meinen Bruder, unsere Freunde Luc und Manù und mich hierhergebracht. Es gehörte einem Mann namens Mexx. Kennst du ihn?“
Brägan hob die Augenbrauen. „So ist denn ein Magier unter euch.“
Jo runzelte die Stirn. Was meinte er damit? Brägan sah sie an, als überlege er, ob sie ihm etwas verheimlichen wollte. Dann schien er einzusehen, dass sie nicht wusste, wovon er sprach. „Ein Reiseamulett bringt dich nur an den gewünschten Ort, wenn ein Magier den Reisezauber wirkt. Wusstest du das nicht?“
Verwundert senkte Jo den Kopf. Nein, das hatte sie nicht gewusst. War Manù eine Magierin? Warum hatte sie ihnen das vor der Reise nicht erzählt? Ein ungutes Gefühl bildete sich in ihrem Magen. Vielleicht hatte Manù eigene Gründe für die Reise nach Thuroth. Was wusste Jo schon von ihr?
„Nun?“ Brägans Stimme nahm einen bedrohlichen Unterton an.
Sie sah ihm fest in die Augen, auch wenn es ihr schwerfiel, und bemühte sich, überzeugend zu klingen. „Mein Bruder und Luc sind keine Magier, und ich auch nicht, wie du sicher schon bemerkt hast. Manù jedoch ... sie verdient in unserer Welt ihr Geld mit Wahrsagerei und begleitet uns, weil sie behauptet, über besondere Fähigkeiten zu verfügen, die uns helfen können. Ich kann dir nicht sagen, ob sie eine Magierin ist. Ich weiß nicht, was einen Magier ausmacht. Außerdem kenne ich sie selbst erst seit einer Woche.“
Brägan kniff die Augen zusammen und betrachtete sie aufmerksam, sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Würde er ihr glauben? So viel hing davon ab.
„Wie kommt ihr an das Amulett von Mexx?“
„Das ist eine lange Geschichte“, begann Jo und erzählte ihm, was ihr seit dem Fund des Buches in der Höhle widerfahren war. „Mexx muss den Fluch aufheben, sonst werde ich sterben.“ Sie zog das Buch aus dem neben dem Feuer liegenden Rucksack und reichte es ihm.
Brägan nahm ihr das Buch aus der Hand und betrachtete es. Er schlug es nicht auf. Dann flüsterte er etwas und sah zu Korbinian auf, der neben ihn getreten war und einen prüfenden Blick auf den Einband warf. Er nickte mit ernster Miene.
„Mexx kann den Fluch nicht aufheben“, sagte Brägan leise. Er wirkte auf einmal bekümmert. „Das kann nur der Magier tun, der ihn ausgesprochen hat. Mexx ist kein Magier, er ist der Fürst von Thuroth.“
Jo blinzelte verwirrt. Mexx lebte noch, doch er konnte ihr nicht helfen? „Aber ich weiß nicht, welcher Magier ...“, hob Jo an.
„Ich weiß es“, fiel Brägan ihr ins Wort und gab ihr das Buch zurück. Jo sah ihn erwartungsvoll an, ihr Herz begann schneller zu schlagen. „Doch es wird dir nichts nutzen.“
„Das verstehe ich nicht“, murmelte sie.
„Es handelt sich um Morfan, den Berater des Fürsten.“ Bitterkeit hatte sich in seine Stimme geschlichen und Jo bemerkte den mitfühlenden Blick, den Korbinian ihm zuwarf. „Er hat das Buch für Mexx verflucht. Jeder, der es liest, muss sterben. Er hat oft davon erzählt.“
Wie betäubt lauschte Jo seinen Worten. „Jeder, der es liest, muss sterben“, wiederholte sie leise.
Brägan nickte. „Es sei denn, der Fluch wird zurückgenommen.“
Sie sah zu ihm. „Wo kann ich Morfan finden?“
„Gar nicht.“
Sie war überrascht über die plötzliche Schärfe in Brägans Stimme und musterte ihn. Seine Stirn war in Falten gelegt und seine Kiefermuskeln traten vor Anspannung hervor. Sie war verunsichert.
„Wieso nicht?“
Er erhob sich. „Er wird dir nicht helfen.“
Was sollte das heißen? Sie sprang auf und hielt ihn am Arm fest. „Woher willst du das wissen?“
„Ich weiß es, Jo.“
Er schob ihren Arm zur Seite, drehte sich um und ließ sie stehen. Die Freude darüber, sich mit ihm verständigen zu können, war einer tiefen Verärgerung gewichen. Wieso war er so sicher, dass Morfan nichts für sie tun würde? Sie sah Hilfe suchend zu Korbinian, der ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie aus seinen listigen Augen eindringlich ansah.
„Weißt du, was das Böse ist, Jo?“ Sein Französisch war kaum zu verstehen. Sie schüttelte den Kopf. „Morfan ist das Böse!“ Er nickte ihr bedeutungsvoll zu und begab sich in die Mitte der Höhle, wo sich eine Menschenmenge um Brägan und einen jungen Mann mit Hakennase gebildet hatte.
Jo wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Brägan und Korbinian schienen keine gute Meinung von Morfan zu haben, doch was hatte sie mit den Ansichten der beiden zu tun? Wenn nur der Magier den Fluch aufheben konnte, der ihn ausgesprochen hatte, blieb ihr keine andere Wahl, als Morfan aufzusuchen. Doch es gab jetzt Dringenderes. Was würde Brägan für Motz tun? Sie wollte gerade auf ihn zugehen, um ihn danach zu fragen, als sie sah, wie er vier Männer zu sich rief und ihnen Anweisungen gab, woraufhin sie Mäntel, Schwerter und Bogen ergriffen und mit zwei Flughunden die Höhle verließen. Brägan drehte sich zu ihr.
„Sie werden nach deinem Bruder suchen.“
Jo seufzte vor Erleichterung und stieß den Ärger über Brägans vorheriges Verhalten zur Seite. „Danke.“ Sie zögerte. „Sind die Myrk sehr gefährlich?“
„Ja, ihre Schnabelhiebe verursachen fürchterliche Verletzungen und sind in der Regel tödlich. Es besteht nur wenig Hoffnung.“
Er wird sterben, wimmerte die Stimme in ihrem Kopf und Jo fühlte ihre Angst. Sie dachte an den Teil des Flügels, den sie gesehen hatte. „Wie groß sind diese Vögel?“
„Sie sind nur wenig kleiner als Flyre.“ Er zeigte auf die Riesenflughunde im hinteren Teil der Höhle. „Wende dich an Ceridwen, wenn du etwas benötigst.“ Er nickte der jungen Frau zu, die Jo bei ihrer Ankunft das Getränk gereicht hatte, und wandte sich ab.
„Was ist mit Luc und Manù?“, rief Jo ihm hinterher.
„Eine Suche nach ihnen würde meine Männer in Gefahr bringen. Ich kann nichts für sie tun.“
Ernüchtert sah Jo ihm nach. Hoffentlich hatten Luc und Manù bereits Hilfe gefunden. Ceridwen reichte ihr wortlos einen Teller mit dampfendem, scharf riechendem Gemüse und wandte den Blick ab. Ihr Unbehagen war greifbar. Sie hält mich wohl auch für einen Spitzel, dachte Jo, setzte sich wieder auf den warmen Höhlenboden und rührte lustlos in der Speise. Tödliche Schnabelhiebe. Sie holte tief Luft und verdrängte die Vorstellung, was die Vögel Motz in der Zwischenzeit angetan haben konnten. Der Gedanke, ihn nicht wiederzusehen, war unwirklich und kalt. Würde sie sich alleine auf die Suche nach Morfan machen müssen? Alleine, raunte die Stimme in ihrem Kopf und zum ersten Mal fühlte Jo bei diesem Wort einen Hauch von Angst.
Sie stellte den Teller ab, zog die Schuhe aus und rieb sich nachdenklich den schmerzenden Knöchel, während sie erwartungsvoll zum Höhleneingang sah, obwohl die Männer noch gar nicht zurückgekehrt sein konnten. Die Menschen schauten noch immer zu ihr herüber, grimmig und zweifelnd. Jo spürte Blicke in ihrem Rücken und drehte sich um. Hinter ihr stand eine kleine rundliche Frau mittleren Alters, die unschlüssig zu sein schien, ob sie sich nähern sollte. Als Jo sie ansah, trat sie ans Feuer. Sie war die erste, die Jo freundlich zulächelte.
„Mein Name ist Merve.“ Sie sprach Französisch!
Jo machte ihr ein Zeichen, sich zu setzen, und stellte sich ihrerseits vor.
Merve lächelte. „Brägans Mutter Siana ist eine gute Freundin von mir, wir arbeiten beide als Heilerinnen im Haus der Kranken. Ihr Mann Morfan hat ihr deine Sprache vor langer Zeit beigebracht und Siana hat sie mich gelehrt. Wir hofften, dass er uns eines Tages gemeinsam mit auf die Reise in deine Welt nehmen würde. Morfan war damals noch ... anders.“ Ihr Französisch war schwer zu verstehen.
Jo stutzte. Morfan war der Mann von Brägans Mutter? War er dann ...? „Ist Morfan Brägans Vater?“, brach es aus ihr heraus.
Merve nickte betrübt.
Aus welchem Grund hatte Brägan das nicht erwähnt? Und warum ging er davon aus, dass sein Vater ihr nicht helfen würde? Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Hat Brägan etwas gegen seinen Vater?“
Merve lachte bitter. „Ob er etwas gegen seinen Vater hat? Wir alle haben etwas gegen ihn.“ Sie zeigte auf die Menschen in der Höhle. „Wir alle haben uns Brägan angeschlossen, um Morfan und Mexx zu vernichten. Morfan ist einer der mächtigsten Magier der Inseln, doch er stellt seine Kräfte in die Dienste des Bösen und verstößt gegen die Gesetze der Duin Madainn.“ Sie schwieg.
Jo blinzelte verwundert. „Duin Madainn?“
„So werden die Magier von Thuroth genannt. Ihr Name geht auf Raik zurück, den Erschaffer der Inseln.“
„Woran erkennt man sie?“
„Sie tragen den breiten Magiergürtel über ihrer Tunika und den traditionellen Umhang“, erwiderte Merve.
Jo ließ ihren Blick durch die Höhle streifen und stellte fest, dass viele Männer derart gekleidet waren. Auch Brägan und Korbinian zählten zu ihnen.
Ihr Blick glitt zurück zu Merve. „Warum bekämpft ihr Morfan und Mexx? Was haben sie euch getan?“
Die Heilerin seufzte und starrte ins Feuer. „Sie lassen uns hungern, Jo. Die Insel ist reich an Nahrung, doch wir können sie uns nicht leisten, denn wir müssen hohe Abgaben entrichten. Wer nicht zahlt, wird verschleppt und in die Kerker geworfen. Männer und Frauen verschwinden spurlos und ihr Eigentum fällt an Morfan und Mexx. Die Familien, die du hier siehst, haben ihre Höfe, ihre Häuser und ihre Läden verloren und konnten sich rechtzeitig zu uns flüchten. Manchmal lässt Morfan die Toten in die Orte zurückbringen, als Warnung für die anderen. Überall auf der Insel sind seine Späher unterwegs, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Und sie suchen nach Brägan. Sein Vater hat ihn zum Feind der Insel erklärt und eine hohe Belohnung für seine Ergreifung ausgesetzt.“ Merve presste die Lippen aufeinander. „Morfan war es auch, der die Farben aus Thuroth verbannt und Malerei, Musik und Dichtkunst verboten hat. In dieser Welt gibt es keine Schönheit mehr. Sie ist fort, erloschen.“ Sie fuhr sich über das hochgesteckte Haar. „Die Menschen hatten keine Hoffnung mehr, bis Brägan vor einigen Wintern begann, Gleichgesinnte um sich zu scharen mit dem Ziel, Mexx und Morfan zu vernichten und Wohlstand und Freude nach Thuroth zurückzubringen.“
Betroffen beugte sich Jo vor. „Warum sind die Menschen nicht geflohen?“
Merve lächelte bitter. „Niemand kann Morfan entfliehen. Seine Schärgen finden jeden, überall. Auch die Seeleute kehren immer wieder nach Thuroth zurück, da ihre Familien sonst für ihr Fernbleiben büßen müssen.“
Jo schwieg. Das, was Merve von Morfan erzählte, hörte sich nicht gut an. Warum sollte er ihr, einer Fremden, helfen, wenn ihn schon das Schicksal der Inselbewohner nicht scherte? Aber sie hatte keine Wahl. Sie musste zu ihm. „Wo lebt Morfan?“
„In Mexx' Festung in Dùn Righ, im Osten der Insel.“ Eine Frau mit einem weinenden Kind ging an ihrem Feuer vorbei und wechselte einige Worte mit Merve. Der Junge hatte eine frische Narbe im Gesicht.
„Ist die Festung weit von hier?“
Merve musterte sie misstrauisch. „Ja, sehr weit. Warum möchtest du das wissen?“
Jo seufzte. „Ich brauche seine Hilfe. Er muss mich von einem Fluch befreien.“
Merve sah sie verständnislos an. „Hast du denn nicht gehört, was ich gesagt habe, Kind? Morfan um Hilfe zu fragen ist so gefährlich wie ein Kampf mit stumpfer Klinge. Du solltest dir wünschen, ihm nie zu begegnen.“
Jo musste schlucken. Wollte ihr denn niemand helfen, zu Morfan zu gelangen?
Merve berührte ihren Arm. „Er wird dich töten, Jo.“
Was machte das für einen Unterschied? Ohne ihn würde sie auch sterben.
„Sag mir, wie ich zu ihm gelange. Ich muss das Risiko auf mich nehmen.“
Merve wiegte den Kopf und sah sie lange an. „Ich werde es dir nicht sagen, denn du wirst uns verraten.“ Ihre Stimme klang bestimmt und bekümmert zugleich.
Jo kniff verärgert die Augen zusammen. „Ich verrate niemanden, der mir hilft.“
Merve lächelte mitleidig. „Vielleicht nicht willentlich. Doch glaube mir, Morfan kennt Mittel und Wege, um dich zum Reden zu bringen. Du wirst ihn anbetteln, ihm alles sagen zu dürfen, damit er von dir ablässt – und du wirst uns verraten.“
Jo presste die Lippen aufeinander. Warum hatte ausgerechnet Morfan diesen verdammten Fluch gesprochen? Hätte es nicht irgendein anderer Magier sein können, den sie gefahrlos aufsuchen und um Hilfe hätte bitten können? Missmutig ließ sie ihren Blick durch die Höhle streifen. Wo blieben die Männer, die Brägan zu Motz' Rettung ausgeschickt hatte?
Jo wollte noch weitere Fragen an Merve richten, als ein grau blinkendes Tier auf Brägan zuflog und sich auf seinen linken Unterarm setzte. Es sah aus wie eine riesige Libelle. Der Magier berührte es und hielt kurz darauf ein Stück Papier in der Hand, das er aufmerksam las. Ungläubiges Staunen huschte über sein Gesicht. Er gab das Papier an Korbinian weiter und rief etwas in die Menge, die schlagartig verstummte, stutzte und in begeisterten Jubel ausbrach. Zum ersten Mal sah Jo ein Lächeln auf den Gesichtern. Sie sah Merve fragend an.
„Brägans Späher haben Eadon gefunden, lebend!“ Die Heilerin klang fassungslos. Ein Strahlen huschte über ihr Gesicht und ließ ihre Augen funkeln.
Jo runzelte die Stirn. Wer war Eadon?
„Eadon ist Mexx' Vater“, ergänzte Merve. „Er ist lange vor meiner Geburt spurlos verschwunden.“
Mexx' Vater? „Aber Merve, da ist doch unmöglich.“
Die Heilerin legte ihr eine Hand auf den Arm. „Die Menschen hier leben länger als in deiner Welt.“
Brägan erhob erneut seine Stimme und Merve übersetzte leise: „Nun besteht Hoffnung! Eadon ist ein Freund der Sturmalben. Gelingt seine Befreiung, werden uns mächtige Verbündete zur Seite stehen. Er wird in einer der alten Drachenhöhlen auf der anderen Seite des Kraters gefangen gehalten, zusammen mit einem Mann, den wir nicht kennen. Es gibt vieles zu bedenken, denn der Höhleneingang wird von zwei Steinmagiern bewacht.“
Ein Raunen ging durch die Versammelten.
Da trat Korbinian vor und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Die Menge verstummte. „Zauber aus Alten Zeiten und dennoch nicht unbesiegbar. Steinmagier muss man überlisten.“ Die hypnotische Stimme des alten Mannes klang tief und mächtig und zog auch Jo in ihren Bann, obwohl sie seine Worte nur mit Merves Hilfe verstand. „Mein Ururgroßvater Korek war Magier des damaligen Fürsten Thuroths, als dieser entschied, im Nordwesten der Insel einen Hafen anzulegen. Bald stellte sich heraus, dass dort noch Steinmagier lebten. Erzürnt über die Zerstörung ihrer Heimat begannen sie, die Arbeiter zu töten, und drohten auch dem Fürsten mit dem Tod. Da sie mit Magie nicht zu bezwingen sind, griff Korek zu einer List: Er ließ Maogh, den besten Flötenspieler seiner Zeit, in einem Segelboot vor der Küste musizieren. Die Musik verzauberte die Steinmagier, sie stiegen ins Meer, um zum Ursprung der wundervollen Klänge zu gelangen, und ertranken.“
Erstaunte Ausrufe waren zu hören, andere schienen die Geschichte bereits zu kennen und schmückten sie lauthals mit weiteren Einzelheiten. Korbinian hob die Hand und unverzüglich kehrte Ruhe ein.
„Bevor wir entscheiden, ob wir diese List anwenden, gilt es zu klären, ob sich hier unter uns solch ein begnadeter Musiker ...“
Vier Männer betraten die Höhle und Korbinian verstummte. Eine dicke Schicht Schnee bedeckte ihre Umhänge und den Körper, den sie zwischen sich auf einem Tuch trugen, das sie vor einem der Feuer auf den Boden legten.
Jo sprang auf und stürzte durch die Menge. „Motz!“
Ihr Bruder lag reglos auf dem Bauch. Seine Jacke und sein Sweatshirt waren zerrissen und sein Rücken war vom Hals bis zur Hüfte eine einzige blutende Wunde. Jo schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund und fiel neben ihm auf die Knie. Als sie ihn berührte, spürte sie, dass sich das Leben aus seinem Körper stahl. Korbinian stieß sie unsanft zur Seite, während er neben ihr in die Hocke ging. Er hielt seine Hand über Motz' zerfetzten Rücken und murmelte Worte in einem monotonen Rhythmus. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt und Schweiß rann ihm über Stirn und Wangen, doch er sprach unbeirrt weiter. Benommen lauschte Jo seinen Worten und glaubte zu träumen, als sie sah, wie Hautfetzen sich nach und nach zusammenfanden und die Wunde sich schloss. Ungläubig starrte sie auf den vernarbten Rücken ihres Bruders. Sie bekam eine leise Ahnung von der Macht und den Kräften, die die Magier auf dieser Insel innehatten, und schauderte.
Korbinian seufzte tief, als er sich schwerfällig aufrichtete und davonging. Jo sah ihm ehrfürchtig nach. Merve kam herbei, kniete neben Motz nieder und ließ einige Tropfen aus einem Fläschchen auf seine Lippen fallen, woraufhin er tief Luft holte und die tödliche Blässe aus seinem Gesicht wich. „Er schläft jetzt“, sagte sie lächelnd.
Jo dankte ihr und setzte sich erleichtert neben ihren Bruder auf den Boden. Motz lebte! Sobald er sich erholt hatte, würde sie mit ihm auf die Suche nach Morfan gehen.
Korbinian war in die Mitte der Höhle zurückgekehrt und ergriff erneut das Wort.
„Er sucht einen Musiker wegen der Steinmagier“, übersetzte Merve, als plötzlich Musik die Höhle durchflutete. Jo drehte sich um und entdeckte einen Jungen, der auf einem Felsblock stehend ein Instrument spielte, das einer Geige ähnelte, jedoch ganz anders klang. Er mochte zehn Jahre alt sein. Die Melodie war leicht und zauberhaft. Als die Musik endete und der Junge sein Instrument senkte, winkte Korbinian ihn zu sich.
„Du beherrscht deine Moráwn wahrlich meisterhaft. Wer bist du?“
Merve schien bei der Übersetzung vor Stolz zu platzen. „Ich bin Gwydron, Camlins Sohn“, antwortete der Junge. „Und mein Sohn“, flüsterte Merve.
„Und ich bin bereit, euch zu helfen“, fügte Gwydron mit entschlossener Stimme hinzu.
Korbinian lächelte. „Darüber sind wir sehr froh.“
Brägan trat neben die beiden und legte dem Jungen die Hände auf die Schulter. Dann wandte er sich wieder den Umstehenden zu. „Wir können kein Boot vor der Küste segeln lassen, ohne dass Morfan davon Kenntnis erlangt. Aber es gibt hier im Berg einen See, in den wir die Steinmagier locken können. Wir werden Gwydron auf die Insel im See bringen, wenn du einverstanden bist, Camlin.“ Er hatte einen kräftigen Mann um die fünfzig angesprochen, der seine langen Haare zu zwei dicken Zöpfen zusammengebunden hatte und eine Tätowierung auf der Stirn trug. Camlin nickte grimmig und Brägan fuhr fort. „So ist es denn beschlossen.“
Er sprach noch eine Weile zu den Versammelten, doch Jo vermisste Merves Übersetzung nicht. Brägans Befreiungsvorhaben interessierte sie nicht, sie hatte eigene Pläne. Sie sah auf ihren Bruder hinab, der tief und fest schlief. Sie würde sich noch gedulden müssen. Langsam fielen ihr die Augen zu und sie sah Bilder von Klippen und tosendem Meer, hörte Möwengeschrei und schmeckte salzigen Wind. Etwas berührte sie am Arm und riss sie aus ihren Träumen. Motz Hand lag auf ihrem Ellenbogen.
„Motz!“ Sie beugte sich über ihn. Dabei fiel ihr auf, dass auch die Wunde an der Schläfe verschwunden war.
Er setzte sich auf, verzog das Gesicht und fuhr sich mit der Hand über den Rücken. „Was ist mit meinem Rücken?“ Er wand sich aus der zerfetzten Jacke und dem zerrissenen Sweatshirt und starrte mit gerunzelter Stirn auf die blutigen Fetzen.
„Kannst du dich nicht erinnern?“
Er schüttelte den Kopf. Jo erzählte ihm von seiner Entführung durch die Myrk und wie Korbinian die von ihnen verursachte Wunde geheilt hatte. Motz sah sie skeptisch an.
„Ich würde es auch nicht glauben, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte.“
„Also hat mir Zauberei das Leben gerettet.“ Verwunderung huschte über sein Gesicht. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander.
„Sind wir auf Thuroth?“, fragte Motz.
„Ja, das sind wir.“ Jo berichtete ihm, was ihr seit der Ankunft widerfahren war, was sie über den Fluch und seinen Urheber in Erfahrung gebracht hatte, und erwähnte auch Brägans Pläne, Eadon zu befreien. Dann zeigte sie Motz die Flyre, die mit angelegten Flügeln an der Decke der Höhle hingen. Er konnte kaum glauben, dass sie sprachen und dass Jo auf Nuada geritten war.
„Die Chancen, dass Morfan uns hilft, sind also mehr als gering“, sagte er nach einem Moment des Schweigens. Er zog die Augenbrauen hoch und schnalzte mit der Zunge. „Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht. Wo sind eigentlich Luc und Manù?“ Suchend schaute er sich um.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Jo leise. „Sie sind nicht mit uns am Wachturm gelandet und Brägan kann niemanden auf die Suche nach ihnen schicken, da er seine Männer nicht in Gefahr bringen möchte.“
„Das gefällt mir nicht. Was, wenn sie Hilfe brauchen?“ Er fuhr sich mit den Händen durch seine Haare, die offen auf seine nackten Schultern fielen.
Jo presste die Lippen zusammen und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass den beiden etwas zugestoßen sein könnte. „Wir können jetzt nichts für sie tun. Doch ganz so hilflos sind sie vielleicht gar nicht.“
Motz sah sie fragend an. „Brägan sagte, dass der Reisezauber nur gelingt, wenn ein Magier ihn spricht.“
„Ein Magier? Du meinst Manù?“ Seine Stimme klang überrascht. „Warum hat sie uns nichts davon erzählt?“
Jo zuckte mit den Achseln. Das hätte sie selbst gerne gewusst.
In diesem Moment traten Brägan und Korbinian zu ihnen und Jo stellte sie und Motz einander vor. Motz erhob sich schwerfällig und bedankte sich bei beiden für seine Rettung. „Ich stehe tief in eurer Schuld. Wenn es etwas gibt, was ich für euch tun kann …“
Brägan lächelte und schwieg.
Motz musterte ihn. „Was wirst du tun, wenn die Steinmagier nicht auf eure List hereinfallen?“
„Wir werden nicht versagen“, erwiderte er mit stolzem Blick und wandte sich ab.
„Wir sollten ihnen helfen, Jo. Wenn dem Jungen etwas passiert und er sein Instrument nicht spielen kann, könntest du einspringen und singen.“
Jo starrte ihren Bruder fassungslos an. „Was haben wir denn mit der Befreiung dieses Eadon zu tun?“
„Brägan und Korbinian haben uns beiden das Leben gerettet! Ohne sie wärst du vermutlich erfroren und ich mit Sicherheit verblutet. Ich fühle mich ihnen verpflichtet.“
Jo holte tief Luft.
„Denke nicht, dass ich ihnen für das, was sie für uns getan haben, nicht dankbar wäre, aber deshalb müssen wir ihre Angelegenheiten nicht zu unseren machen. Wir haben genug eigene Probleme!“
„Ohne sie würden wir jetzt nicht miteinander reden“, erwiderte Motz leise. Jo musterte ihn stirnrunzelnd. „Aber es ist nicht nur das. Wir sind schließlich hier, damit sich der Fluch nicht erfüllt.“
Jo stutzte. „Und was hat das mit Eadons Befreiung zu tun?“
„Verstehst du denn nicht? Was haben wir beide schon für Möglichkeiten, Morfan zur Aufhebung des Fluches zu bewegen? Wenn dagegen Brägan ihn besiegt, kann er ihn zwingen, uns zu helfen. Und wenn Eadons Befreiung die Chancen auf einen Sieg über Morfan erhöht, sollten wir auch etwas dazu beitragen.“
Jo sah ihn nachdenklich an. Vielleicht hatte er recht. Nach einer Weile erhob sich Motz erneut und ging auf Brägan zu, der mit einigen Männern zusammenstand. Was hatte er vor? Sie folgte ihm neugierig.
„Brägan, kann ich dich kurz sprechen?“ Der Magier drehte sich zu ihm. „Wenn du Morfan besiegst, ist es dir dann möglich, ihn dazu zu bringen, den Fluch zu beenden, der Jo bedroht?“
Jo stockte der Atem und sie ließ Brägans Gesicht nicht aus den Augen. Seine Miene trübte sich.
„Ihr wisst, dass ich meine Hilfe nicht versage, wenn sie möglich ist. Doch ich kann euch nicht versprechen, dass Morfan lange genug leben wird, um den Fluch aufzuheben.“
Jo presste enttäuscht die Lippen zusammen. Gab es denn gar keine Hoffnung?
Motz ließ sich nicht beirren. „Selbst wenn es nicht dazu kommen sollte: Wir sind dir sehr dankbar für deine bisherige Hilfe und möchten daher auch etwas zu Eadons Befreiung beitragen.“
Jo wunderte sich, dass er sich das kräftemäßig bereits zutraute. Die Verletzung schien ihn nicht geschwächt zu haben, während sie sich sehr müde fühlte.
Hakennase sah ihn ungläubig an und sagte etwas, das wie „Nein“ klang.
„Doch.“ Motz warf ihm einen entschlossenen Blick zu.
„Ihr seid Fremde und unsere Angelegenheiten gehen euch nichts an. Ihr könnt nicht mit uns kämpfen“, übersetzte Merve.
„Ums Kämpfen geht es doch gar nicht“, erwiderte Motz.
„Was hast du anzubieten, das uns von Nutzen sein kann?“, fragte Brägan vorsichtig.
„Jos Stimme, für den Fall, dass der Junge nicht spielen kann. Sie singt wunderschön.“
Brägans Blick wanderte zu Jo, die nicht fassen konnte, was ihr Bruder gerade getan hatte.
„Sing für uns“, forderte der Magier sie auf.
Jo schluckte. Sie hatte schon vor Publikum gesungen, aber nicht unter solchen Umständen. Und es war nicht nur die musikalische Begleitung, die sie vermisste. Sie zögerte.
„Na los“, hörte sie ihren Bruder leise drängen und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Die Noten der Oper, die sie komponiert hatte, tanzten vor ihrem inneren Auge. Hell und klar wie ein Sonnenstrahl im Frühling und verzaubernd wie Sternenlicht schwebte die Melodie aus ihr heraus und nahm Zweifel und Furcht mit sich.
Als sie die Augen öffnete, war es still. Die Menschen sahen sie an, verwundert, getröstet, gestärkt.
„Jo wird mit dir gehen, Gahan“, sagte Brägan zu Hakennase und übersetzte das Gesagte.
„Ich werde sie begleiten.“ Motz' Stimme klang entschlossen. Gahan war im Begriff, etwas zu sagen, doch Brägan kam ihn zuvor und erklärte sich einverstanden.
Motz verlor kein Wort über Jos Gesang, als sie sich zu dem Feuer begaben, an dem die Rucksäcke lagen. Er zog sich ein Sweatshirt an und setzte sich. „Mit diesem Gahan wird es noch Ärger geben“, sagte er leise.
Jo zog die Brauen zusammen. „Ihm wird etwas zustoßen.“
Motz sah sie überrascht an. „Du meinst, du hast wieder eine deiner Ahnungen?“
„Ich bin mir nicht sicher, das Gefühl ist nicht so stark wie zu Hause.“
Motz schob sein rechtes Hosenbein hoch und zog das Messer aus der Scheide an der Wade. Er betrachtete es nachdenklich und steckte es zurück. Jo beobachtete ihn und zum ersten Mal war sie froh, dass er so gut damit umgehen konnte.
„Bist du schon wieder kräftig genug, um mit uns zu kommen?“
„Es geht mir gut“, erwiderte Motz knapp. „Aber ich habe Hunger.“
Jo machte Ceridwen verständlich, dass Motz gerne etwas essen würde. Die junge Frau reichte ihm sofort Brot und Suppe und bot auch Jo etwas an, die dankend ablehnte.
„Ich wüsste zu gerne, wo Luc und Manù sind“, sagte Jo mehr zu sich selbst als zu ihrem Bruder.
Motz brach ein Stück vom Brot ab. „Ich hoffe nur, dass sie nicht Morfans oder Mexx' Bekanntschaft gemacht und ihnen von uns erzählt haben. So wie ich Morfan einschätze, wird er sofort nach uns suchen lassen, und das kann Brägan jetzt wirklich nicht gebrauchen.“