Читать книгу Die verborgenen Inseln - Birgit Blume - Страница 7
4. Ein Entschluss
ОглавлениеAngespannte Stille erfüllte das Wohnzimmer, nur durchbrochen von Großmutters leisem Schluchzen und dem Prasseln des Feuers im Kamin. Motz erhob sich langsam und sah in die Runde. Er schien die Worte abzuwägen.
„Ihr seid also der Ansicht, Judith sei an einem Fluch gestorben. Ihr könnt natürlich glauben, was ihr wollt, aber erwartet nicht, dass wir diesen Unsinn ebenfalls für die Wahrheit halten. Und ich kann nur hoffen“, seine Stimme nahm einen bedrohlichen Unterton an, „dass ihr uns nicht einreden wollt, Jo sei in Gefahr, weil sie dieses Buch gelesen hat.“
Die Großmutter sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
„Großmutter“, sagte Motz mit gepresster Stimme und ging einen Schritt auf sie zu. „Willst du denn nicht einsehen, dass deine Mutter an einer unbekannten Krankheit litt? Es mag ja sein, dass sie an den Fluch glaubte, aber daran gestorben ist sie sicher nicht. Es gibt keine Flüche!“
„Du weißt nicht, wovon du redest.“ Melindas Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt.
Motz lachte auf. „Warum weigerst du dich, den Tatsachen ins Auge zu sehen und zuzugeben, dass Judith todkrank war? Warum erfindest du diese dramatische Geschichte? Menschen sterben nun einmal, Melinda, dafür braucht es keine Flüche.“
„Ich habe nichts erfunden“, krächzte die Heilerin. Ihre Wangen färbten sich dunkelrot.
„Das reicht jetzt!“ Die Stimme des Großvaters dröhnte durch das Zimmer.
„Ja, Großvater, ich gebe dir recht. Es reicht wirklich, ich möchte von diesem Blödsinn nichts mehr hören. Verschont uns in Zukunft damit.“ Motz wandte sich zum Gehen. „Komm, Jo.“
„Geh schon vor“, sagte Jo leise.
Ihr Bruder verdrehte die Augen und verließ kopfschüttelnd das Wohnzimmer. Sekunden später fiel die Haustür ins Schloss. Jo lauschte ihm nachdenklich hinterher.
War ihre Urgroßmutter wirklich an einem Fluch gestorben oder war dies wieder eine von Melindas düsteren Geschichten? Jo schüttelte leicht den Kopf, bevor sie sich den Großeltern zuwandte.
„Was macht euch so sicher, dass es ein Fluch war, der Judith den Tod brachte? Warum kann es keine Krankheit gewesen sein, die zu jener Zeit nicht erkannte wurde?“
Großvater schüttelte den Kopf. „Judith zeigte dieselben Symptome und denselben Krankheitsverlauf wie Mell, die Frau aus dem Buch.“
Jo schürzte die Lippen. „Das muss nicht an einem Fluch gelegen haben.“
„Was willst du damit sagen?”, krächzte Melinda.
„Judith glaubte daran, dass Mexx sie auf dem Fest verflucht hatte, und als sie danach sein Buch fand, war sie davon überzeugt, das Schicksal von Mell erleiden zu müssen.“ Jo sah zur Großmutter hinüber. „Und dann ist es auch so gekommen.“
Großmutters Augen weiteten sich und füllten sich mit Hoffnung. „Du meinst …“
„Das Buch ist verflucht“, fiel Melinda ihr ins Wort und heftete ihren Blick auf Jo. „Willst du die Gefahr denn nicht sehen?“
Jo schüttelte den Kopf. „Dafür brauche ich mehr als deine Meinung.“
Melinda schwieg. Zorn tanzte in ihren Augen.
„Es gibt in Paris jemanden, der helfen kann.“ Großvater erhob sich und trat auf Jo zu. „Mádos Enkelin Manù lebt in dem Haus, in dem sich damals seine Praxis befand. Ich schlage vor, dass du Motz und Luc am Wochenende nach Paris begleitest und ihr mit Manù nach dem Manuskript sucht, das Marcel damals nicht finden konnte. Vielleicht habt ihr mehr Glück.“
Jo sprang auf. „Wozu soll ich nach diesen Aufzeichnungen suchen, wenn ich gar nicht weiß, ob das Buch verflucht ist?“
Melinda hob an, etwas zu sagen, doch Jo brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Das Manuskript kann auch Informationen darüber enthalten, wie man einen Fluch erkennt“, wandte Großvater ein und warf Jo einen bedeutungsvollen Blick zu.
Sie schüttelte verwundert den Kopf. „Du glaubst an den Fluch.“
Großvater nickte.
„Auch du wirst das tun“, hauchte Melinda. „Bald schon.“
Jo warf einen kurzen Blick zur Großmutter, die sich mit zittriger Hand über die Stirn fuhr, drehte sich um, eilte aus dem Raum und trat aus der Haustür ins Freie. Der Wind hatte die Regenwolken davongetrieben und sich in eine leichte Brise verwandelt, die ihr sanft über das Gesicht strich.
In Gedanken versunken folgte Jo dem hinter dem Haus beginnenden Feldweg, ohne wahrzunehmen, wohin sie ihre Schritte lenkte. Sie hatte keine Erfahrung mit Flüchen. Sie schloss nicht aus, dass es sie geben mochte, doch waren sie auch verantwortlich für den Tod ihrer Urgroßmutter? Lag es nicht viel näher zu glauben, dass Judith von der Existenz des Fluches überzeugt war und so ihren Tod selbst herbeigeführt hatte?
Ein eisernes Tor versperrte Jo den Weg. Blinzelnd erkannte sie, dass sie vor dem Eingang des Dorffriedhofs stand. Sie schob den Torflügel auf und ging auf die knorrige alte Eiche zu, deren Äste Schatten spendend über Judiths Grab hingen. Von hier aus hatte man einen wundervollen Blick über die Klippen hinaus auf das Meer, dessen Oberfläche in den vereinzelt zwischen den Wolken hervortretenden Sonnenstrahlen schimmerte. Hier möchte ich auch einmal begraben werden. Sie blickte auf den kleinen Grabstein, der die schlichte Inschrift Judith Moreau, 1920–1940 trug. Davor stand eine Vase mit verwelkten Blumen.
Müde setzte sich Jo auf die steinerne Grabumrandung. Der Wind raschelte im Herbstlaub der Eiche, ein Blatt fiel zu Boden, braun, matt, gestorben. Grillen zirpten, hell, laut, lebendig. Eine kleine Eidechse huschte über den Boden und verschwand in der Steinmauer, die den Friedhof umrandete. Tiere machten sich keine Gedanken über ihren Tod, sie lebten einfach und starben, wenn ihre Zeit gekommen war. Warum können wir Menschen das nicht auch?
„Was soll ich tun?“, hauchte sie, während sie sich über das Grab beugte und es vom Herbstlaub befreite. Was, wenn das Buch doch verflucht und sie in Gefahr war? Sollte sie nach diesem Manuskript suchen, in der Hoffnung, dass es Hinweise enthielt, wie man einen Fluch erkannte und ihn aufhob? Nur, wenn Marcel damals keinen Erfolg gehabt hatte, wie groß waren dann ihre Chancen so viele Jahre später? Oder sollte sie abwarten, ob sich die Krankheit auch bei ihr zeigte?
Nein!
Eine fremde Stimme schoss ihr durch den Kopf, während die Äste der alten Eiche im aufgefrischten Wind wogten und sich nach ihr reckten. Erschrocken sprang Jo auf und starrte auf das Grab. Die Vase mit den Blumen war umgefallen, die Blütenblätter lösten sich von den Stängeln und wehten auf sie zu. Sie fuhr herum und lief durch das Tor hinaus auf den Feldweg.
Sie wusste nun, was sie tun würde.
Kurz vor dem Strand bog sie zum Hotel von Lucs Eltern ab. Motz war dabei, im Garten Sonnenliegen zu stapeln, die wie jedes Jahr in der großen Garage über den Winter eingelagert wurden. Als er sie erblickte, winkte er sie zu sich.
„Jo, lass dich bloß nicht von diesem Unsinn beeinflussen“, sagte er aufgebracht. „Es gibt keine Flüche. Ich kann nicht fassen, dass Großvater daran glaubt, er ist doch sonst so vernünftig. Vergiss die Geschichte einfach.“
„Hmm ...“ Jo betrachtete die Hortensienbüsche, die den Rasen säumten. „Ich werde am Wochenende mit euch nach Paris fahren, um mit Mádos Enkelin nach dem Manuskript zu suchen.“
Sie wusste, was jetzt folgen würde.
Er drehte sich zu ihr, ein Lauern im Blick. „Du glaubst an Melindas Geschichte!“
Sie antwortete nicht.
„Das hätte ich mir ja denken können. Du mit deinen Ahnungen und Vorhersagen und dem ganzen Mist. Du bist echt …“
Jo reckte ihr Kinn vor.
Er presste die Lippen aufeinander und senkte den Kopf.
„Ich werde euch begleiten und nach dem Manuskript suchen.“
Motz sah auf. „Ich werde dir nicht dabei helfen.“
„Das habe ich auch nicht erwartet.“
Sie drehte sich um und ließ ihn stehen.