Читать книгу Die verborgenen Inseln - Birgit Blume - Страница 6
3. Enthüllungen
ОглавлениеAm nächsten Morgen ergriff Jo das Buch und verließ das Zimmer. Am Fuß der Treppe traf sie auf Großmutter, die sie mit ihren blauen Augen musterte.
„Geht es dir gut?“
Jo nickte.
„Bitte geh nicht mehr bei …“
„Ja“, unterbrach Jo sie. „Ich verspreche es.“
Sie hatte vorgehabt, Großmutter nach der Widmung zu fragen, doch etwas ließ sie zögern. Stirnrunzelnd verbarg sie die Hand, in der sie das Buch trug, hinter ihrem Rücken.
„Was hast du da?“
„Nichts.“
Großmutter zog die Brauen hoch, setzte die Brille auf, die an einer Kette um ihren faltigen Hals hing, und streckte ihre Hand aus.
Jo wich einen Schritt zurück.
Großmutter trat näher.
Furcht stand zwischen ihnen, doch es war nicht Jos Furcht.
Großmutter nahm ihr das Buch aus der Hand, las den Titel und riss die Augen auf. Mit zitternden Händen schlug sie den Einband auf und blätterte die erste Seite um. Ihre Miene wurde starr, ihre fröhlichen Augen kalt und grau. Das Buch glitt aus ihren Händen auf den Holzboden.
„Hast du es gelesen?“ Ihre Stimme war nur noch ein Hauch.
Jo stutzte. „Ja, wieso?“
Großmutter sank stöhnend gegen die Wand des Flures, ihr schneeweißes, zu einem Knoten gestecktes Haar löste sich und fiel ihr auf die Schultern. „Was hast du getan?“
Jo starrte in das Gesicht der alten Frau, aus dem jegliche Farbe gewichen war. „Großvater!”
Die Ateliertür sprang auf. „Was gibt es?“
„Komm schnell her!“
Er lief herbei und fing seine Frau auf, die an der Wand zu Boden gleiten drohte. „Julie, was ist mit dir? Soll ich nach Doktor Maroux rufen?“
Sie nickte stumm, Entsetzen im Blick. Er trug sie ins Wohnzimmer und legte sie auf das Sofa. Jo kniete sich vor sie und hielt ihre eiskalten Hände. Einige Minuten später kam der Arzt und Jo zog sich mit Motz, der vom Joggen zurückgekehrt war, auf die windige Terrasse zurück. Fröstelnd zündete sie sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Sie warf Motz einen lauernden Blick zu, doch die Vorwürfe blieben aus.
„Was ist passiert?“, fragte er stattdessen und musterte sie mit gerunzelter Stirn.
„Großmutter hat das Buch gesehen, das ich letzte Nacht in der Höhle gefunden habe. Es hat sie furchtbar erschreckt.“ Sie zog noch einmal an der Zigarette und zertrat die Kippe auf den Steinfliesen.
Motz krallte seine Finger in ihren Arm. „Du hast ein Buch aus der Höhle mitgenommen?“ Er hatte seine Stimme zu einem zornigen Flüstern gesenkt. „Ist dir nicht der Gedanke gekommen, dass dieses Buch der Grund sein könnte, warum wir diese Höhle nicht betreten sollten?“
Jo blinzelte. Nein, dieser Gedanke war ihr nicht gekommen. Sie riss sich los und lief auf den Rasen. Furcht strich um ihre Beine.
Sie hörte, wie sich der Arzt verabschiedete. Kurz darauf trat Großvater auf die Terrasse. Tiefe Falten hatten sich in seine Stirn gegraben, sein weißes Haar hing ihm wirr ins Gesicht.
„Großmutter hat eine Beruhigungsspritze bekommen, es wird ihr bald besser gehen.“ Seine Stimme klang müde und traurig zugleich. „Und dann müssen wir reden.“
Motz warf Jo einen bösen Blick zu, bevor er ihm ins Wohnzimmer folgte. Dort ergriff Großvater das Telefon und wählte eine Nummer.
„Melinda? Das Buch.“ Er räusperte sich. „Es ist gefunden worden.“
Jo blieb reglos auf der Schwelle der Terrassentüre stehen. Das Buch? Was hatte das zu bedeuten?
Nach dem Telefonat bat Großvater Motz, die Heilerin Melinda und ihren Mann Marcel abzuholen und herzubringen. Beim Hinausgehen sah Motz seine Schwester fragend an. Sie zuckte mit den Achseln.
„Großvater, was ...?“
„Später“, antwortete der, ohne sie anzusehen, und setzte sich neben seine Frau auf das Sofa.
Jo verließ das Wohnzimmer, betrat die Küche und ließ sich auf die Holzbank sinken. Sie stützte den Kopf auf ihre Hände und schloss die Augen. Die Ahnung, etwas Furchtbares in Gang gesetzt zu haben, ließ sie schaudern.
Bald kehrte Motz mit Melinda und Marcel zurück. Jo begrüßte die beiden und begab sich mit ihnen ins Wohnzimmer, wo sie sich neben ihren Bruder auf das von hohen Bücherregalen umrahmte alte Ledersofa setzte. Marcel, den alle den Schweigsamen nannten, stellte sich zu Großvater an den Kamin. Jo musterte ihn. Er war groß und kräftig, seine Haut straff und seine Augen klar. Er wirkte wie ein Mann von höchstens vierzig Jahren, doch sie wusste, dass er fast doppelt so alt war. Das Gesicht der Heilerin war hingegen noch runzeliger, als Jo es in Erinnerung hatte, doch ihre blassen Augen waren wach wie eh und je und sahen zu Großmutter, die mittlerweile in einem der Ohrensessel saß und auf die in ihrem Schoß liegenden Hände starrte. Die Blässe in ihrem Gesicht war einem Hauch von Rot gewichen.
Das Licht stahl sich aus dem Raum, als wollte es der düsteren Stimmung entfliehen. Wind fegte um das Haus und trieb Regentropfen gegen die Terrassentür. Jo sehnte sich danach, ins Freie zu laufen, in Wind und Regen. Sie sah auf und stellte fest, dass Melinda sie beobachtete.
„Hol das Buch, Jo.“ Die Heilerin ließ sich ächzend in dem Sessel vor dem Kamin nieder.
Jo erhob sich zögernd und betrat den Flur. Das Buch lag noch immer auf den Holzdielen, unscheinbar und harmlos. Sie betrachtete es nachdenklich, während sie in die Knie ging. Die Seite mit der Widmung war aufgeschlagen. Welch düstere Geschichte verbarg sich dahinter? Stand das J für ihre Großmutter Julie? War dies der Grund für ihr Entsetzen? Sie schlug das Buch zu und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück. Melinda nahm es ihr aus der Hand, sah es mit einem Ausdruck des Bedauerns an und warf es ins Feuer.
Jo hob die Brauen, ein Moment der Verwunderung. Sie setzte sich und lehnte sich gegen die Sofakissen. Soll es doch verbrennen.
Melinda lächelte wissend und blickte in die Flammen, die das Buch umzüngelten. Ein schwaches bläuliches Licht überzog den Einband und die in das Leder geprägten Buchstaben blitzten hell auf.
„Marcel, bitte“, sagte sie endlich. Der Schweigsame holte das Buch mit dem Feuerhaken aus dem Feuer, nahm es zu Jos Erstaunen in seine bloßen Hände und überreichte es der Heilerin. Es war gänzlich unbeschädigt.
„Man kann das Buch nicht verbrennen.“ Melinda sprach so leise, dass Jo sie kaum hörte. „Man kann es auch nicht zerreißen, zerschneiden oder ertränken. Es lässt sich nicht zerstören.“ Sie machte eine kurze Pause. Ihr Atem ging schwer. „Aus diesem Grund habe ich es vor fünfundsechzig Jahren in der Höhle verborgen.“
Jo musterte die Heilerin überrascht. Sie hatte das Buch versteckt? War sie die M aus der Widmung?
Motz rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. „Worum geht es hier eigentlich?“
„Dieses Buch hätte nie gefunden werden dürfen.“ Melindas Augen bohrten sich in die von Jo, während der Ausdruck großen Leides wie eine Wolke über ihr Gesicht huschte.
Jo seufzte innerlich und warf Großmutter einen Blick des Bedauerns zu, den diese nicht wahrzunehmen schien. Sie wollte zu ihr laufen, ihr erklären, dass sie im Sturm nicht gemerkt hatte, in welcher Höhle sie Zuflucht gefunden hatte. Dass sie das Versprechen nicht gebrochen hatte. Doch sie bewegte sich nicht.
Melinda räusperte sich. „Eure Urgroßmutter Judith ist in diesem Raum gestorben.“ Ihre Stimme klang mit einem Mal dunkel und unendlich traurig. „Doch war es keine Krankheit, die ihr den Tod brachte.“ Sie hielt inne.
„Sie wurde ermordet.“
„Ermordet?“, fragten Jo und Motz gleichzeitig.
Melinda nickte, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
„Das Unglück nahm im Januar 1940 seinen Anfang. Eure Urgroßmutter Judith lebte in jener Zeit mit ihrem Mann Edouard, einem bekannten Maler, und ihrer Tochter Julie, eurer Großmutter, in Paris. Es war eine schwere Zeit. Frankreich hatte Deutschland im Herbst zuvor den Krieg erklärt und viele Pariser verließen die Stadt. Auch Judith hatte vor, hierher zu ihren Eltern zu fliehen, doch zunächst stand Edouards Ausstellung in einer großen Pariser Galerie an. Trotz oder vielleicht gerade wegen der gedrückten Stimmung und der Angst vor einem Angriff der Deutschen war das Interesse an Kunst in Paris damals sehr groß. Judith wohnte in der Nähe des Friedhofs Père Lachaise, den sie täglich aufsuchte, da ihre Erstgeborene dort begraben lag.“
Jo stutzte. „Sie hatte noch ein Kind?“ Davon hatte Großmutter nie gesprochen.
„Ja, Simone. Sie starb bei der Geburt. Eines Tages lernte Judith auf dem Friedhof den Heiler Mádo kennen, der dort jeden Nachmittag das Grab seiner Frau besuchte. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft. Oft wanderten sie gemeinsam durch die Alleen des Friedhofs und tranken hinterher eine Tasse Tee in Mádos Praxis, die sich direkt gegenüber dem Friedhofseingang befand. Als Judith sich eines Tages nach dem Tee von Mádo verabschiedete, betrat ein Mann die Praxis.“
Melinda schwieg, ihre Augen starrten ins Leere.
„Ich habe noch gut in Erinnerung, wie Judith ihn beschrieb“, fuhr sie leise fort. „Groß, mit pechschwarzen Augen ohne Pupillen, mit dunkelgrauen Haaren und Augenbrauen. Selbst die Haut und die Lippen hatten einen grauen Schimmer.“ Die Heilerin sah auf. „Ihr wisst, wie attraktiv eure Urgroßmutter war.“
Jo nickte stumm. Die wenigen Schwarz-Weiß-Fotos, die Großmutter besaß, zeigten eine große, elegante Frau. Hüftlange, dunkle Haare umrahmten ein stolzes Gesicht mit hellen Augen und einem ansteckenden Lächeln.
„Sie war es gewohnt, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch dieser Mann starrte sie auf eine Art und Weise an, die ihr zutiefst unheimlich war. Mádo stellte ihn als Mexx vor. Als Judith am nächsten Tag von Edouard erfuhr, dass ein gewisser Mexx vier seiner Bilder zu einem sehr hohen Preis gekauft hatte, zog sie kurz in Erwägung, ihn zu bitten, die Bilder zurückzukaufen, doch sie verwarf den Gedanken. Was hätte sie auch als Begründung angeben sollen? Dass Mexx ihr nicht geheuer war? Sie befürchtete, dass Edouard sie auslachen würde.“
„Na ja, er hat schließlich nur ein paar Bilder gekauft. Das ist wirklich kein Grund, um in Panik zu geraten“, bemerkte Motz.
„Er hat leider noch viel mehr als das getan“, hauchte Großmutter.
„Am nächsten Morgen fand Judith vor der Wohnungstür einen Strauß Rosen mit einer Karte von Mexx. Sie warf die Blumen fort. Am Nachmittag des gleichen Tages standen frische Rosen auf dem Grab ihrer Tochter. Judith war darüber sehr zornig, suchte Mádo auf und fragte ihn nach Mexx' Adresse, weil sie ihn zur Rede stellen wollte. Als sie dem Heiler anvertraute, dass sie sich vor Mexx fürchtete, erklärte der sich sofort bereit, noch am Abend für Judith mit Mexx zu sprechen. Sie nahm sein Angebot gerne an.“
„War Mexx ein Patient von Mádo?“, unterbrach Motz die Erzählung.
„Nein. Mádo hatte ihn auf einer Versammlung von Ärzten und Heilern kennengelernt, die sich mit magischer Heilkunst beschäftigten. Als Mexx erfuhr, dass Mádo ein Buch über dieses Thema schrieb, bot er seine Unterstützung an. Er behauptete, von einer Insel zu stammen, auf der Magie praktiziert wurde.“
Jo wurde hellhörig.
Motz' Blick verriet, was er davon hielt. „Welche Insel soll das denn gewesen sein?“
„Sie hieß Thuroth.“
Er schnaubte. „Thuroth? Nie gehört.“
Melinda nickte. „Niemand kannte diese Insel, sie war auf keiner Landkarte verzeichnet und Mexx war nicht bereit, ihre Lage zu offenbaren. Nach anfänglichen Zweifeln begann Mádo jedoch, die Berichte von Mexx für authentisch zu halten. Sie enthielten Details über magische Heilkunst, die weit über das vorhandene schriftliche Quellenmaterial hinausgingen und es folgerichtig ergänzten. Das konnte sich Mexx nicht ausgedacht haben. Mádo war schließlich überzeugt, dass Thuroth wirklich existierte.“
Jo stutzte.
„Judith verabredete sich mit Mádo für den Nachmittag des nächsten Tages und verabschiedete sich. Auf dem Bürgersteig vor seiner Praxis wurde sie von einer Bekannten aufgehalten und beobachtete, dass Mádo mit seiner Tasche das Haus verließ. Das war das letzte Mal, dass sie ihn sah.“
Motz beugte sich vor. „Das letzte Mal?“
Melinda nickte. „Am nächsten Nachmittag klingelte eure Urgroßmutter zu der vereinbarten Zeit an der Türe seiner Praxis, aber er öffnete nicht. Es war nicht seine Art, ein Treffen mit ihr zu vergessen, und sie vermutete, dass er zu einem Notfall gerufen worden war und sie später von ihm hören würde. Doch er meldete sich weder später noch am nächsten Tag. Auch das Grab seiner Frau hatte er nicht besucht, denn die Blumen in der Vase vor dem Eingang zur Familiengruft waren verwelkt.
Judith begann, sich Sorgen zu machen, und schaltete die Polizei ein. Die Praxis wurde durchsucht, doch es fand sich weder eine Spur von Mádo noch ein Hinweis auf einen Einbruch oder einen Kampf. Nur Mádos Manuskript war von seinem Schreibtisch verschwunden. Judith erzählte den Polizisten von der geplanten Verabredung zwischen Mádo und Mexx, woraufhin ihr versichert wurde, dass Mexx befragt werden würde.“
„Was hat Mexx ausgesagt?“, wollte Jo wissen.
Melinda holte tief Luft. Die Erzählung schien sie viel Kraft zu kosten.
„Er behauptete, Mádo an dem Tag seines Verschwindens nicht getroffen zu haben, da jener die Verabredung wegen eines kranken Cousins abgesagt hätte. Doch Mádo hatte keinen Cousin, das wusste Judith. Seine einzigen Verwandten waren seine fünfjährige Tochter und seine Schwester, bei der das Mädchen aufwuchs.“
„Hat sich die Polizei mit Mexx' Aussage zufriedengegeben?“, fragte Motz stirnrunzelnd.
„Ja. Sie hat die Suche nach Mádo bald eingestellt, obwohl Judith immer wieder vorsprach.“
Motz schüttelte den Kopf. „Unglaublich.“
„Einige Abende später begaben sich Judith und Edouard zu Mexx' Abschiedsfest in sein Haus in der Rue de Rivoli, zu dem Mexx die beiden eingeladen hatte. Judith begleitete Edouard nur, um etwas über Mádo zu erfahren. Nach dem Essen bat sie Mexx um ein Gespräch unter vier Augen. Er führte sie in einen Raum im Obergeschoss. Ich erinnere mich, dass Judith einen großen Wandteppich mit einem Stammbaum von Mexx' Familie erwähnte, der dort hing.
Bevor sie die Sprache auf Mádo bringen konnte, riss Mexx sie an sich und versuchte sie zu küssen. Judith wehrte sich verzweifelt, doch aus seiner Umarmung gab es kein Entrinnen. Er hielt ihr den Mund zu, um sie vom Schreien abzuhalten, und raunte ihr zu, dass er sie nun mit in seine Heimat nehmen würde.“
Jo hob die Brauen. „Dann war ihre Angst also berechtigt gewesen.“
„Oh ja, das war sie“, erwiderte Melinda finster und fuhr fort. „Wenig später stürmte Edouard auf der Suche nach seiner Frau in den Raum. Er schlug Mexx nieder, ergriff Judith und stürzte mit ihr aus dem Haus. Nur vier Worte schrie Mexx hinter ihnen her: Ich verfluche dich, Judith. Diese Worte hat eure Urgroßmutter nie mehr vergessen.“
Die Heilerin seufzte leise. „Die Polizisten der nächstgelegenen Polizeistation nahmen ihre Aussage auf und erklärten sich auf ihr Drängen bereit, bis zur Klärung der Angelegenheit den Polizisten Jules zu ihrem Schutz abzustellen.“
Motz beugte sich vor. „Haben sie Mexx festgenommen?“
„Nein. Als sie sein Haus erreichten, war das Fest noch in vollem Gange, doch Mexx war laut Auskunft seines Personals bereits auf dem Weg in seine Heimat.“
„Was hat dies alles mit dem Buch zu tun?“, fragte Jo ungeduldig.
„Das Buch, ja …“ Melinda ergriff es und drehte es in ihrer Hand.
„Judith fand es vor ihrer Wohnungstür, als sie heimkam. Als sie es aufschlug, entdeckte sie die Widmung: Für J. auf ewig M.“
Großmutter sah auf. Leid und Trauer standen ihr ins Gesicht geschrieben. „Sie hat es gelesen“, flüsterte sie.
Was ist so schlimm daran?
Motz räusperte sich und Jo spürte seine Ungeduld. Er schien das Ende der Erzählung kaum abwarten zu können.
„Ja, sie hat es gelesen“, bestätigte Melinda ohne eine weitere Erklärung und holte tief Luft. „Und dann verschwand Jules, der Polizist, spurlos.“
Noch ein Verschwundener. „Ist er auch nie wieder aufgetaucht?“
Melinda schüttelte den Kopf.
„Nach der Ausstellung kam Judith mit Edouard und Julie hierher. Ich war damals Hausmädchen bei ihren Eltern und freundete mich mit ihr an. Sie litt an einer starken Erschöpfung, die kein Arzt kurieren konnte. Auch meine Heilkünste brachten keine Linderung. Sie wurde immer schwächer. Eines Tages zeigte sie mir das Buch ‘Zeit der Schatten’ und weihte mich in ihre Befürchtung ein, dass Mexx das Buch mit dem Fluch belegt habe, sie das Schicksal der Protagonistin Mell erleiden zu lassen.“
Ein Fluch? Jo blinzelte. Hör gut zu, sagte die Stimme in ihrem Kopf.
„Ich erinnere mich, wie Judith zu weinen begann. Sie fühlte wohl, dass sie alles verlieren würde, ihr Leben, Edouard und Julie.“
Jo sah den Regentropfen zu, wie sie an der Glasscheibe hinabperlten.
„So ein Unsinn“, hörte sie Motz murmeln.
„Ich schickte Marcel auf die Suche nach Mádos Manuskript, weil ich hoffte, darin Informationen über Flüche und ihre Aufhebung zu finden. Er stellte die ganze Praxis auf den Kopf, doch die Aufzeichnungen blieben unauffindbar. Wir konnten nichts mehr für Judith tun.“
„Vielleicht hätte man noch weitere Ärzte hinzuziehen sollen.“ Motz' Stimme klang vorwurfsvoll.
Melinda schüttelte den Kopf. „Judith war nicht krank.“ Sie hielt das Buch hoch und drehte es in ihrer Hand. Ein Funkeln sprang in ihre Augen, flackernd wie ein Kerzenlicht vor dem Erlöschen. Langsam fasste sie sich wieder und atmete tief durch.
„Als Judith ein halbes Jahr, nachdem sie das Buch gelesen hatte, ihr Ende nahen fühlte, nahm sie mir das Versprechen ab, mich um eure Großmutter Julie zu kümmern. Sie starb drei Wochen später und wurde hier auf dem Friedhof beigesetzt. Edouard kehrte nach Paris zurück und wurde dort von einem Auto überfahren, als er betrunken die Straße überquerte.“