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Amora, den 29./30.11.2010

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Geliebte Nora,

ist das nicht herrlich – das erste Adventswochenende ist schon rum, und dank des vielen Tees mit Rum war es sogar für mich einigermaßen erträglich. Ich frage mich nur, wann ich mir diese lästige Erkältung zugezogen habe – ich tippe mal auf vergangenen Freitag als Ankunftszeitpunkt.

Nein, ich habe da nachmittags nicht mit hochrotem Kopf über einem Text gebrütet, wie du fälschlicherweise vermutetest, sondern ich lag bleich und blutleer auf meinem Sofa, wie von Dracula ausgesaugt.

Am Vormittag hatte ich noch ein Meeting in der Agentur, anschließend stand ein zweistündiges Tennis-Match mit Georg auf dem Programm und danach wurde ich für einen guten Zweck bei einem Wohlfahrtsverband erwartet.

Aber, du kennst ja Georg – wenn der ins Erzählen kommt, kann man einpacken, im wahrsten Sinne des Wortes.

Wir hatten gerade den ersten Satz beendet, da fing er mit dem ersten Satz an, dem ersten Gesprächssatz!

Wir beschlossen daher, unser Match zu beenden, packten Schläger und Bälle wieder ein und wechselten an die Club-Bar, wo er dann bei einigen Gläsern Mineralwasser so richtig lossprudelte – ich hatte hinterher ganz feuchte Backen!

Georg, der tags zuvor im Auftrag der Agentur in Nürnberg unterwegs war, berichtete mir nun in aller Ausführlichkeit, mit welcher Mühe er sich durch die Fußgängerzone hatte quälen müssen, um abends noch rechtzeitig seinen ICE nach München zu erhaschen. Was ihn so maßlos in Rage versetzte, war weniger der Rummel am Christkindlmarkt – obwohl der noch gar nicht eröffnet hatte –, nein, seine unbändige Wut richtete sich vielmehr gegen die Armada von Spenden-Aktivisten, die aus ihren provisorischen Partyzelten schossen und direkt Kurs auf ihn nahmen, mit dem Ziel, sein zügiges Voranschreiten Richtung Bahnhof zu unterbinden.

»Es war der reinste Spießrutenlauf, alle wollten meinen Geldbeutel entern!«

Er lief jetzt zur Hochform auf:

»Pausenlos standen dir ein paar ‚Hampelmänner’ im Weg, die mit Händen und Füßen fuchtelnd auf sich aufmerksam machten und dich mit simplen Fangfragen zum Stehenbleiben nötigten!« Rate mal, wie unser armer Georg diese aggressiven Anpöbeleien abkonterte?

Als man ihn fragte, ob er Tiere möge, entgegnete er freundlich: »Nur gut durchgebraten!«

Dieselbe Antwort gab er übrigens auch ein paar Schritte weiter auf die Frage, ob er Kinder liebe! So erreichte er schließlich doch noch pünktlich das rettende Bahnhofs-Ufer!

Irgendwie verstehe ich meinen Kollegen und seinen heiligen Zorn auf diese unselige Inflation des Spendeneintreibens.

Vor allem, wenn man weiß, dass er selber drei Kinder, vier Haustiere und fünf Patenschaften in Asien und Afrika zu betreuen hat, dafür aber nur eine Frau!

Außerdem überweist er regelmäßig, so wie wir ja auch, Spendenbeträge an diverse Hilfsorganisationen, und das ohne viel Worte darüber zu verlieren. Mehr geht nicht!

Ein verstohlener Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es nun aber wirklich allerhöchste Eisenbahn war, mich von Georgs spritzigem Redeschwall abzukoppeln, um noch halbwegs pünktlich beim nächsten Date zu erscheinen.

»Wohin musst du denn noch so dringend?«, fragte er mich etwas ungnädig, als ich recht abrupt und hektisch vom Barhocker aufstand und mir dabei die Wangen abtrocknete.

»Zur Blutspende«, erwiderte ich nüchtern!

Ich hatte es mir gerade auf der Entnahmeliege so richtig gemütlich gemacht, da tanzten auch schon zwei nicht mehr ganz so taufrische Krankenschwestern wie die Vampire um mich herum – eine hatte wirklich stechende Augen und Eckzähne der Kategorie »extralang« –, vermutlich auf der Suche nach einer geeigneten Biss-, sorry, ich meine natürlich Einstichstelle!

Die Blutentnahme selbst verlief problemlos, nur war ich mir danach nicht mehr so ganz sicher, ob man mir statt der vereinbarten 500 ml eventuell versehentlich 5 Liter abgesaugt hatte.

Allerdings, ich hätte es mir eigentlich denken können, stieß meine scherzhafte Nachfrage bezüglich der tatsächlichen Entnahmemenge nicht wirklich auf verständnisvolle Ohren.

Der »Vampir« mit dem Röntgenblick und den auffälligen Eck-Beißerchen machte mir in aller Schärfe klar, dass solch ein Versehen bei ihr unmöglich sei!

Aus meinem kleinen Scherz wäre beinahe noch blutiger Ernst geworden. Daher schien es mir nun unangebracht, die anschließend vorgesehene Entspannungsphase mit kleinem Imbiss in Anspruch zu nehmen – die »Bissgurke« auf zwei Beinen lag mir schon schwer genug im Magen!

So habe ich mich also in einem günstigen Moment aus »Draculas Reich« verdünnisiert und die Flucht nach Amora angetreten. Matt und müde bin ich aufs Sofa im Arbeitszimmer geplumpst und sehnte mich nach einem üppigen Abendessen – eine Sehnsucht, die sich schon zwei Stunden später erfüllte.

Da saßen wir nämlich an unserem Lieblingstisch im »Etoile« und haben ausgiebigst geschlemmt!

Gut gestärkt und bestens gelaunt ging’s dann noch auf ein paar Cocktails zu Toni an die Bar.

Tja und dann …

Man muss sich wirklich wundern, welch ungeahnte Kräfte der Genuss dreier »Latin Lover« bei mir freisetzte!

Am Samstagmorgen war ich nach unseren nächtlichen »Leibesübungen« noch dermaßen ausgelaugt, dass beim Aufstehen mein Blutdruck richtig in den Keller sackte und ich alles doppelt sah – genauso wie vor über 23 Jahren!

Nur damals war meine Sichtweise korrekt, wie das Ultraschallbild zweifelsfrei zu erkennen gab.

Die freudige Nachricht, dass sich bei uns Zwillinge ankündigten, hatte mich tatsächlich ohnmächtig werden lassen! Oder lag es doch eher an dem fürchterlichen Mundgeruch der Arztassistentin?

Wie dem auch sei, ohnmächtig fühlte ich mich auch neun Monate später, genauer gesagt am 17.04.1988 um 15.15 Uhr, als du so tapfer und bravourös Leonie und Lukas ans Tageslicht befördertest – ein doppelter »Glückswurf«!

Ich durfte die beiden Sonntagsbabys dann baden, wodurch sie unfreiwilligerweise baden gingen und ihren ersten Tauchkurs absolvierten – ein Glück, dass die Hebamme sofort zur Stelle war und rettend eingriff. Nach diesem traumatischen Erlebnis, das beinahe zum persönlichen »Waterloo« für mich geworden wäre, bin ich schnurstracks zu Toni an die Bar geflüchtet und habe mir hastig zwei »Baby Pool« reingezogen!

Ach Nora, wenn ich daran zurückdenke, fangen meine Hände wieder an zu zittern.

Verstärkt wird dieses momentane Tremolo sicher auch durch den grippalen Infekt, der mir seit gestern noch intensiver zusetzt und mich mal vor Hitze zerfließen, mal vor Kälte schlottern lässt. Dazu noch der Weihnachtsbazillus!

Wie viele Hektoliter Tee mit Rum, oder eher Rum mit Tee, hast du mir eigentlich schon eingeflößt, Liebling? Mein Bauch fühlt sich mittlerweile wie eine Rumkugel an!

Liegt gewiss auch an den ersten Weihnachtsplätzchen, die wir gestern Abend zusammen mit Lukas vernascht haben.

Ich war echt überrascht, als er plötzlich vor der Tür stand und fragte, ob er dir beim Backen helfen dürfe.

Da war es dann auch nicht weiter schlimm, dass du eigentlich gar kein Weihnachtsgebäck Marke Eigenproduktion mehr herstellen wolltest und ich mich nun ebenfalls genötigt sah, tatkräftig beim Teigausrollen mitzuwirken. Nein, das war wirklich nicht tragisch zu nennen.

Tragisch war höchstens, dass die ersten beiden mit Vanillekipferln bestückten Bleche nach wahrscheinlich zu langem Aufenthalt im Ofen eher wie geschrumpfte »Schwarzwälder Kohlrouladen« aussahen und folgerichtig keinen von uns zum Verzehr animierten!

Ab dem dritten Blech konnte man sich dann mit positiver Grundeinstellung auf das vierte freuen.

Die Kipferl des fünften und letzten Durchgangs bildeten den Höhepunkt des Abends, zumal sie einhellig als »genießbar« eingestuft und dementsprechend heißhungrig beim Sonntagabend-Krimi verschlungen wurden!

Etwas Gutes hatte die gemeinsame Küchen-Aktion trotz aller »Ofen«-sichtlichen Widrigkeiten:

Wir erfuhren, dass Lukas von Sandras Eltern eingeladen worden war, den Jahreswechsel zusammen mit ihnen und ihrer Tochter in Wien zu feiern.

Kein Wunder, dass uns das letzte Vanillekipferl fast im Halse stecken geblieben wäre, als wir hörten, wo diese Familienparty mit ausgewählten Gästen stattfinden sollte: nämlich in einer der größten Discotheken der Stadt, die natürlich, wir ahnten es bereits, Sandras Vater gehört.

Also, wenn ich wieder auf den Beinen bin, Liebling, dann müssen wir unbedingt mal auf ne Ü40-Party gehen, nach dem Motto: »Let it swing, let it swing, let it swing«!

Aber nun schwinge ich mich erstmal in die Wanne, um bei einem Erkältungsbad cool zu relaxen. Anschließend dann noch einen Glühwein und ab ins Bett! Die Hotelreservierung zu Leonies Geburtstag habe ich übrigens in die Wege geleitet – so, und jetzt leite ich heißes Badewasser ein.

Das war’s für heute, Fortsetzung folgt …

Hurra, der neue Tag ist da und die »schlaflos-in-München-Episode« endlich überstanden!

Nachdem ich gerade Georg angerufen habe, um ihm mitzuteilen, dass er für den Rest der Woche den alleinigen Agentur-Chef geben darf, muss ich mich zunächst bei dir, Liebling, für die schreckliche Nacht entschuldigen. Beim Husten- und Röchelwettbewerb in Davos hätte ich unter allen Triefnasen mit Abstand den ersten Preis gewonnen!

Tut mir auch leid, dass meine eiskalten Füße immer die Wärme deines Körpers suchten und dich sogar einmal aus dem Bett manövrierten. Du hast dann ohne Proteste das Nachttischlämpchen angeknipst, einen dicken Wälzer aus dem Bücherregal geholt und dich in die Lektüre vertieft – ich glaube, es war der »Zauberberg« von Thomas Mann. Eine exzellente Wahl Nora – unser Schlafzimmer glich wirklich eher einer Lungenheilanstalt als einem Traumparadies!

Trotz durchhusteter Nacht fühle ich mich heute, im Gegensatz zu dir, erstaunlich munter und habe nun genügend Zeit, mich mit dem leidigen Thema: »Wer bekommt was zu Weihnachten?« auseinanderzusetzen.

Ich denke, meinem Vater schenken wir einen aktuellen Bildband über den Jakobsweg, damit er ihn wenigstens gedanklich, und somit bequem mitpilgern kann.

Bei Mutter sollten wir im Vergleich zum letzten Jahr eine kleine Änderung vornehmen und ihr statt zwei lieber vier Flaschen Eierlikör überreichen – für jede Jahreszeit eine!

Die liebe Tante Hella erhält als eingefleischter Skandinavien-Fan wie immer einen megafetten »Schweden-Schocker« mit Gänsehaut-Garantie. »Dat es sischer ne Mords-Jaudi!«, wird es voller Freude und Dankbarkeit aus ihrem Munde hell ertönen. Tante Hella ist wirklich die Einzige, die aus ihrem Herzen keine Mördergrube macht!

Hast du eigentlich schon eine Idee, wie wir die Herzen deiner Eltern erfreuen könnten?

Was hältst du davon, wenn ich beim Pflichtbesuch in Ingolstadt durch Abwesenheit glänze – das wäre doch ein Geschenk so ganz nach ihrem Geschmack, oder?

Was Leonie und Lukas anbelangt, so hilft uns da nur eine gemeinsame Klausurtagung, um den richtigen Geschmack der beiden zu treffen. Wir können nicht jedes Jahr die Gutschein- und Geldscheinlösung bringen! Nur gut, dass wir uns gegenseitig nicht mit Weihnachtspaketen bombardieren, sondern, schon seit Beginn unserer Beziehung, einem festlichen Abendessen zu zweit mit anschließender Liebesnacht den Vorzug geben.

Immerhin gibt es bei letztgenanntem Event ja auch was »auszupacken«, und das ohne enttäuscht zu werden. Zumindest war das bisher so, und auch heuer werde ich mein Bestes geben, versprochen Schatz! Also: Manege frei für die Liebe!

Trotzdem bin ich froh, wenn der Weihnachts-Zirkus wieder vorbei ist. Leider wartet schon die nächste Vorstellung auf uns: der obligatorische Nikolaus-Besuch bei meinen Eltern in Aschaffenburg, am kommenden Sonntag!

Das war die schlechte Nachricht, mein Liebling.

Die gute ist: Tante Hella wird auch anwesend sein!

So, jetzt aber »nicks« wie hin zur Apotheke – gegen meine Gliederschmerzen brauche ich ganz dringend: »NORA-forte«!

Bussi an dich, du starke Frau,

dein Nick

Post für Dich aus Amora!

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