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Prolog
ОглавлениеDichtung und Wahrheit
. . . und irgendwo dazwischen
findet das wirkliche Leben statt
Uppers End
Roman von
Birgit Henriette Lutherer
Prolog
Nun darf es gut sein. Der Auftrag ist erfüllt. Lindas Leben ist beendet.
In den frühen Abendstunden ist sie friedlich eingeschlafen. Achtundachtzig Jahre auf der Erde waren ihr genug Zeit gewesen, um dort Erfahrungen zu sammeln. Fridolin, der Tod und gleichsam Lindas Begleiter durchs Leben, hatte sie abgeholt und zum Ort der Zeit ohne Zeit, dem Zuhause aller Menschen-Seins, zurückgeführt.
Am Ort der Zeit ohne Zeit existiert alles, was ist. Hier ist der wirkliche Ort des Lebens. Hier werden alle Erfahrungen aus einem gelebten Leben auf der Erde, die ein Mensch mitbringt, gesammelt. Von hier aus startet ein jeder in ein Menschenleben und hierher kehrt jeder wieder zurück. Wer an diesem Ort verweilt, ist pures Sein.
Der Ort der Zeit ohne Zeit ist umgeben von einem gigantischen, schwarzen Ring, dem Nichts. Kein Leben, kein Gedanke, keine Erinnerung existiert dort. Es gibt eben nichts. Außerhalb der Zone aus Nichts befindet sich das, was die Menschen das Universum nennen – unter anderem unsere Erde. Sie ist der Planet im Universum, zu dem Seins-Anteile reisen, wenn sie das Leben erforschen und Erfahrungen sammeln möchten. Das sind die Forscher unter den Seins. Es gibt auch andere Seins-Anteile. Zum Beispiel gibt es die Neutro-Seins. Sie dienen als Statisten – manch einer würde sie als Füllmaterial oder Platzhalter bezeichnen. Sie haben während eines Menschenlebens weder nennenswerte Bedeutung noch die Aufgabe zu forschen oder Erfahrungen zu sammeln und in die Zeit ohne Zeit zu bringen. Das Füllmaterial ist ohne jegliche Interessen. Außer Lebenserhaltung haben sie keinerlei besondere Motivation. Es liegt ihnen fern in irgendeiner Weise aktiv zu werden.
Die Forscher erklären sich am Ort der Zeit ohne Zeit bereit, bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Sie können entweder selber wählen, welche Erfahrung sie auf der Erde machen möchten, oder es wird eine Aufgabe an das Forscher Sein übertragen. Der Koordinator und Chef aller Seins ist Upper. Er ist das Überwesen des Lebens. Upper ist das führende Mitglied einer Triade, die gemeinsam allen Seins Weisungen erteilt. Upper entsendet und empfängt die forschenden Seins-Anteile, wenn sie nach Hause, zum Ort der Zeit ohne Zeit, zurückkehren. Seine Aufgabe ist es auch, den Seins-Anteilen Bewusstheit zu geben, sowie – überaus wichtig – die Erinnerung an den Ort der Zeit ohne Zeit zu löschen, sobald ein Seins-Anteil auf der Erde ankommt. Upper wacht über den Ablauf des Lebensauftrags all seiner Seins-Anteile. Bei Bedarf kann er nach eigenem Ermessen ins Leben eingreifen. Dies geschieht über ein Helfer-Sein, das eigens zu diesem Zweck auf der Erde ist. Upper ist omnipotent.
Tomasin, der zweite Teil der Triade, wacht auch über den Lebensforscher, hat aber keine Befugnis direkt einzugreifen. Er kann jedoch Impulse setzen. So kann er zum Beispiel Ideen eingeben oder – wenn es Teil des Auftrags ist – jemanden auf eine falsche Spur schicken und in die Irre führen. Tomasin ist das Unterwesen des Lebens.
Fridolin komplettiert die Triade. Er ist der Chronometer und Reiseleiter. Fridolin beendet den Aufenthalt des Seins auf der Erde, wenn die Lebenszeitspanne dort abgelaufen ist und weist jedem Rückreisenden den Weg nach Hause.
Der Weg nach Hause gleicht einem gewundenen Pfad, einem verzweigten Korridor durch das Nichts. Wer sicher dort ankommen möchte, kann den Weg nur mit seinem Reiseleiter Fridolin beschreiten. Wie auf einer viel befahrenen Fernstraße herrscht hier reger Verkehr. Auf der einen Seite sind Heimkehrer unterwegs, auf der anderen Seite des Wegs reisen Seins-Anteile zur Erde. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen.
Fridolin steht jedem am Startpunkt zur Erde zur Seite. Er heftet sich an den Lebensfunken des Seins, der mit Quod, dem Lebenselixier für den Menschen, angereichert ist. Diese Grundversorgung an Quod ist quasi die Wegzehrung bis zur Ankunft. Am Zielpunkt angekommen, koppelt sich der Seins-Anteil an eine Eizelle an und nistet sich in seinem Wirt, der ab diesem Zeitpunkt Mutter genannt wird, ein. In einer Höhle im Bauch seiner Mutter wächst und reift er dann dank Zellteilung heran, während er über einen Versorgungskanal, der aus einer flauschigen Schicht am Rand der Höhle entspringt, mit Quod und Nährstoffen versorgt wird. So geschützt, gut aufgehoben und mit allem versorgt, reift der Seins-Anteil zum Menschen heran. Das geschieht jedoch nur, wenn das Mutter-Sein empfangsbereit ist und auf einen impulsgebenden Seins-Anteil, der ab Entstehung des Menschen Vater genannt wird, trifft.
Upper, Tomasin und Fridolin sind Chef in Personalunion. Sie zusammen bilden die Triade. Upper und Tomasin obliegt eine weitere wichtige Aufgabe: Jeder von ihnen gibt dem Forscher-Sein bei Reiseantritt drei Attribute mit auf den Weg, die unter anderem das Sein als Mensch definieren sollen. Upper gibt einen Archetyp ein, der drei gute, starke Eigenschaften beinhaltet. Tomasin gibt einen Schatten ein, der mit drei schwächenden Anteilen den Gegenpol dazu bildet. Auch die Existenz von Archetyp und Schatten wird bei der Ankunft auf der Erde vom Menschen-Sein vergessen. Es ist sich ihrer nicht mehr bewusst. Wenn der Mensch ankommt, hat er also jede Erinnerung an sein wahres Zuhause verloren.
Kehrt das Menschen-Sein wieder an den Ort der Zeit ohne Zeit zurück, wird es zunächst von Fridolin an die Randzone begleitet. Dort angekommen entlässt er es in der Regel aus seiner sicheren Obhut in Uppers Refugium. Jeder Heimkehrende wird von den vorausgegangenen, heimgekehrten Lebenskontakten empfangen. Meist kommen sie ihm freundlich entgegen und holen ihn zu sich in ihre Mitte, um dann mit ihm gemeinsam in den Seins Pool zu steigen. In einigen Fällen läuft die Rückkehr anders ab. Das ist dann der Fall, wenn ein Forscher Sein heimkehrt, dass ein Leben unter besonders schwierigen Beziehungsumständen hat erdulden müssen. Die Vorausgegangenen müssen in diesem Fall solange auf das Sein warten, bis es zurückgekehrt ist. Erst dann dürfen sie weiter ins Zentrum der Zeit ohne Zeit aufrücken oder, wenn Upper es erlaubt, in seine Mitte gehen, um dort im großen Pool des Seins mit allen anderen zu verschmelzen.
Linda ist einer dieser Sonderfälle. Bei ihrer Rückkehr von der Erde gibt es niemanden, der sie freundlich empfängt. Die auf der Erde beteiligten Personen hatten sich am Rand des Ortes der Zeit ohne Zeit versammelt und erwarteten Linda, weil sie von Upper herbeizitiert wurden. Jeder von ihnen erwartete Linda mit mulmigen Unbehagen. Lieber wäre es ihnen gewesen, wenn sie nie mehr auf Linda hätten treffen müssen. Jeder einzelne von ihnen war schuldbeladen und wollte sich vor der Begegnung mit ihr drücken. Doch Upper beharrte auf dieses Treffen. Da kannte er kein Pardon. Schließlich musste Linda, wie jeder andere Heimkehrende auch, Bericht erstatten. Dazu mussten aber die auf der Erde Beteiligten zwingend anwesend sein, denn nur so konnte Upper sich ein allparteiliches Bild von den Geschehnissen auf der Erde machen.
Fridolin begleitete Linda in die illustre Runde. Auch er war gespannt auf Lindas umfassenden Bericht und Uppers Resümee.
Fridolin war Linda ein guter Freund und Ratgeber geworden. Und so war sie froh, ihn an ihrer Seite zu wissen. Er würde ihr, falls nötig, helfen. Er hätte die Befugnis, natürlich im Einvernehmen mit Upper, jemanden vom Rand des Ortes der Zeit ohne Zeit in das Nichts zu stoßen – in die ewige Verdammnis – um sich dort im Nichts aufzulösen.
Lindas Geschichte beginnt mit ihrer Ankunft am Entree des Ortes der Zeit ohne Zeit. Upper, Tomasin und maßgeblich beteiligte Personen sind anwesend, als sie eintrifft.