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Linda ist auf der Welt

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„Hannah und ich lebten. Wir brauchten allerdings beide noch zwei Wochen bevor wir wieder einigermaßen bei Kräften waren und in mein neues Zuhause gehen durften. Meinen Vater Erhard durfte ich schon im Krankenhaus kennenlernen. Er besuchte Hannah und mich regelmäßig. Nun war ich gespannt auf meine Geschwister und den Rest der Familie. Bisher hatte ich sie nur durch Hannahs Bauch hören können. Manchmal hörte ich sie lachen, manchmal einfach nur reden und hin und wieder hörte ich sie streiten. Sie kamen mir ganz nett vor. Wenn sie so wären, wie ich sie mir vorstellte, würden wir bestimmt prima zusammenpassen. Natürlich hatte ich damals keinerlei Vorstellung, wie es in Wirklichkeit sein würde. Genauso vermochte ich mir zum Zeitpunkt, als ich im Bauch meiner Mutter war, nicht vorzustellen, diesen Ort jemals verlassen zu müssen. Heute weiß ich es selbstverständlich besser, denn ich habe alle Stadien des Seins durchleben dürfen. Ich weiß, wie es Zuhause ist – in der Zeit ohne Zeit. Ich weiß, wie es ist, als Forschungs-Sein auf Reise zu sein. Ich weiß, wie es ist, als winzige Zelle den Impuls zu spüren, wenn diese Zelle – Ich - beginnt sich immer wieder zu teilen, sich aus diesen immer mehr werdenden Zellen ein Zellhaufen bildet – eine Morula – aus deren Zellen heraus sich wiederum Spezifizierungen bilden – Arme, Beine , Hände, Füße, Ohren, die irgendwann hören können und so weiter. Ich weiß, wie es sich anfühlt, diese Gliedmaßen als zu mir gehörend zu erkennen und sie dann nach meinem eigenen Willen zu bewegen, mir bewusst zu sein, dass ich das tue. Ich weiß sogar, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Leben im Bauch der Mutter bedroht wird, obwohl man bestens versorgt zu sein scheint und dann aus dieser Sicherheit heraus vollkommen überraschend angegriffen wird. Ich weiß, wie es ist sich den Weg in die Welt zu erkämpfen, geboren zu werden. Und ich weiß, wie es ist sein Leben zu leben. Für all das bin ich sehr dankbar – selbst dafür, dass dieses Leben irgendwann endet. Es ist seltsam, wenn dieser Zeitpunkt kommt, doch auch gut. Schließlich geht es dann wieder nach Hause, zum Ursprung. Ich weiß aber auch, wie gut es ist, einen ständigen Reisebegleiter zu haben, auf den man sich immerzu verlassen kann – Fridolin. Ich verstehe gar nicht, warum die Menschen solche Angst vor ihm haben. Er ist ein sehr lieber Kerl, der nichts Böses im Schilde führt. Ich kann mir vorstellen, es ist nicht wirklich die Angst vor Fridolin, sondern vielmehr die Angst vor dem Unbekannten. In der Regel vergessen wir, wie und woher wir gekommen sind. Aber ich kann euch versichern: alles ist gut. Die Welt wieder zu verlassen, ich meine zu sterben, ist meiner Erfahrung nach genauso wie geboren zu werden. Du gehst aus einer sicheren, ich meine damit bekannten, vertrauten Situation heraus und in eine neue unbekannte hinein. Du wechselst lediglich den Ort – hey, das ist doch cool, oder? Wenn ich´s mir so recht überlege, ist alles nichts weiter als ein spannendes Abenteuer. Das einzige Manko, das ich als unangenehm empfunden habe war, dass ich es selten, eigentlich nie, selber beeinflussen konnte. Vielleicht war das auch ganz gut so. Ich glaube, ich hab´ mein Umfeld mit meiner Anwesenheit schon genug irritiert.

Sei´s drum. Zurück zur Geschichte. Ich war jetzt auf der Welt und freute mich

darauf, bald die Personen kennenzulernen, von denen ich bisher nur die

Stimmen kannte.

Alles war so neu, so unbekannt. Es gab so viel zu entdecken. Ich musste mich erst noch daran gewöhnen, dass so vieles anders war als zuvor. Der Klang der Stimmen und der Geräusche war viel klarer und lauter als zuvor im Bauch von Hannah. Auch meine Bewegungsfreiheit war auf einmal eingeschränkt. Ich wollte, genau wie zu Beginn in Hannahs Bauch, meine Bewegungsfähigkeit trainieren. Ich wollte spielen, mich ausprobieren. Doch irgendetwas schränkte mich ein. Plötzlich fühlte sich alles viel schwerer an. Ich war bedeckt von Stoff, Kleidung und Decken, die mich einhüllten. Bewegung fiel mir schwer. Alles war schwer. Hier war alles nicht so einfach. Hier floss nicht einfach so Nahrung in mich hinein. Auch war ich hier weder von Wasser umhüllt, was meine Bewegungen leicht gemacht hatte, noch war ich mit einer sichern Leine verbunden. Ich konnte plötzlich nichts weiter als herumliegen. Okay, ein wenig mit meinen Armen rudern und mit meinen Beinen strampeln gelang mir schon, aber an Drehen und Wenden, geschweige denn Purzelbäume schlagen, war kein Denken – keine Chance. Stunde um Stunde, tagein tagaus lag ich in meinem Bettchen. Nur ab und zu wurde ich dort herausgenommen. Dann wurde ich mit einer Flasche gefüttert an der ein weicher Stopfen befestigt war, der auf seiner Spitze ein kleines Loch hatte. Ich musste daran saugen, damit ich die nährende Milch trinken konnte. Auch das war gar nicht so leicht, sogar richtig anstrengend für mich. Es klappte nicht so, wie es sollte. Es dauerte lange, bis ich wenige Milliliter Milch getrunken hatte. Danach schlief ich direkt vor Erschöpfung ein und wurde erst wieder wach, als sich der Hunger erneut meldete. Ich war sowieso schon ein dürres, viel zu kleines Menschlein und nun gelang auch noch die Nahrungsaufnahme nicht einmal richtig. Es war zum Verzweifeln. Ich wollte Milch trinken, konnte es aber nicht. Ich bekam mit, wie Hannah sich mehr und mehr sorgte. Sie hatte Angst, ich würde verhungern. An dem Tag, als Hannah und ich in mein neues Zuhause gehen durften, kam ein Arzt bei der abschließenden Untersuchung auf die Idee, in meinen Mund zu gucken. Er drückte mit so einem harten Holzstäbchen meine Zunge beiseite und stellte erstaunt fest, dass meine Zunge am Zungengrund angewachsen war. Es war also kein Wunder, dass ich nicht zu saugen vermochte. Noch bevor Hannah etwas sagen konnte, hatte der Arzt ein Operationsbesteck in der Hand und ratsch, schnitt er beherzt das Zungenbändchen ein, sodass sich meine Zunge löste. Das tat höllisch weh, sogar noch viele Tage später. Durch den Schmerz im Mund hatte ich erst recht keine Lust mehr aufs Essen. Ich dachte mir: wenn ich mich nicht mehr mit dem Saugen abmühen muss, dann kann ich dafür mehr schlafen. Außerdem tat mir mein Mund dann auch nicht so sehr weh. Sollten die doch alle machen was sie wollten – war mir doch egal. Ich jedenfalls wollte meine Ruhe haben.“

„Oh ja, das weiß ich noch, als wenn es gestern wäre“, erinnerte sich Hannah. „Was hab´ ich da für Ängste ausgestanden. Als ich mit dir Zuhause war, bin ich immer wieder zu deinem Bettchen gegangen, habe mich über dich gebeugt und nachgesehen, ob du noch atmest. Du warst so schwach Linda. Ich war voller Sorge um dich. Egal was ich versuchte, damit du genug von deinem Fläschchen trinkst, es fruchtete nicht. Du wolltest einfach nicht trinken und wurdest jeden Tag noch dünner. Eines Tages kam Oma Martha mal wieder zu uns. Sie war so nett und nahm deine Geschwister Ute und Hans für ein paar Stunden zu sich nach Hause, damit ich mich ein wenig ausruhen könnte - sagte sie zumindest. Ich hatte dich gerade auf meinem Arm, als sie an der Wohnungstür klingelte. Ich öffnete ihr und bat sie herein. Martha beäugte dich mit missbilligenden Blicken. „Das dürre Ding wird ja immer mickriger“, mäkelte sie herum. „Hannah, hab` ich dir schon mal erzählt, was wir mit solchen kleinen Dingern damals gemacht haben?“

„Ich glaub´, das will ich gar nicht wissen“, wiegelte Hannah sofort ab. „Du und deine Ratschläge – da kommt nichts Gutes bei rum. Das weiß ich mittlerweile. Wahrscheinlich habt ihr sie ertränkt, wie die Katzen! Das trau ich euch zu!“

„Ach, was du wieder denkst Hannah. Der Trick mit der Stricknadel hat bei uns, in der alten Heimat, immer funktioniert. Ich kann doch nicht ahnen, dass du dich so dumm anstellst, du ungeschicktes Ding! Na ja, jetzt ist das Balg halt da. Ob du willst oder nicht, ich sag es dir trotzdem. Sollst später nicht behaupten können, ich hätte tatenlos zugesehen und nichts gemacht, damit die kleine durchkommt. Also hör gut zu: Wir haben die kleinen Dinger wie Hefeteig behandelt. Der muss auch größer werden und aufgehen, damit was draus wird. Und was macht man mit Hefeteig Hannah?“

„Man lässt ihn an einem warmen Platz gehen?“

„Ja, genau! Ist ja doch noch nicht alles verloren mit dir meine liebe Schwiegertochter. Da wir jetzt gerade Winter haben, gibt es natürlich nicht so viele geeignete warme Plätze. Da kommt nur der Backofen in Frage.“

„Moment Mal Martha, willst du mir etwa sagen, ihr habt die Kleinen in den Backofen gelegt?“

„Richtig! Da bekamen sie Bruttemperatur und gediehen. Ich mach dir einen Vorschlag Hannah: Ich habe eben ein Blech Butterkuchen gebacken. Der Backofen ist noch schön warm. Ich nehme Linda gleich mit zu mir rüber.“

„Das ist doch krank! Finger weg von meiner Linda! Die kriegst du nicht!“ Hannah fauchte Martha panisch an.

„Na, na, jetzt stell dich nicht so an! Ich werde dem kleinen Teufelsbraten schon nichts antun. Du tust gerade so, als würde ich, wie die Hexe im Märchen, kleine Kinder braten und dann essen. Ist doch sowieso nichts dran an dem mickrigen Ding.“

Tatsächlich hatte Hannah dieses Bild im Kopf. Sie traute Martha nicht über den Weg. Allerdings, wenn sie es sich recht überlegte, war die Sache mit dem warmen Platz im Backofen gar nicht so verkehrt, jedoch bestimmt nicht mit Martha.

„Linda bleibt hier und damit basta!“, sagte Hannah barsch.

„Schon gut – wenn´ de nicht willst?! Dann geh ich mit Ute und Hans eben rüber zu uns.“ Die Kinder zogen artig ihre Schuhe und Mäntelchen an und folgten ihrer Oma. Einerseits freuten sie sich, denn Oma backte immer so leckeren Kuchen und außerdem durften sie bei Martha das, was sie Zuhause nur selten durften: Limonade trinken und Zuckerwürfel naschen. Andererseits waren sie eifersüchtig auf Linda, weil sie bei ihrer Mutter bleiben durfte und sie sie nun ganz alleine für sich hatte. Ich glaube, die beiden waren ganz schön eifersüchtig auf mich. Ute hasste mich sogar. Das sagte sie auch unverhohlen. In ihren Augen war ich dafür verantwortlich, dass ihre Mutter nach meiner Geburt noch so lange im Krankenhaus bleiben musste. Nun ja, so ganz unrecht hatte sie damit nicht, aber hatte ich das mit Absicht getan? Bestimmt nicht! Genauso wenig war ich dafür verantwortlich, dass unsere Mutter noch sehr viel Zeit brauchte, bis sie wieder vollkommen zu Kräften gekommen war. Mir ging es da ganz ähnlich. Ich brauchte auch viel Zeit dafür. Das kümmerte Ute aber nicht. Ich war ihr egal. Ich war schließlich nur ein Störfaktor, der die Unverschämtheit besessen hatte, plötzlich da zu sein und Anspruch auf ihre Mutter erhob. Eine Frechheit war das! Okay, ich kann auch das sogar ein Stück weit verstehen, denn bis zu meiner Geburt wusste ja keiner von meiner Existenz. Hannah glaubte, sie hätte mich damals weggemacht, Erhard und seine Eltern waren froh, dass sich die Sache von selbst geregelt hatte und meine Geschwister wussten sowieso nichts von dem ganzen Vorfall – selbstverständlich hatte ihnen niemand davon erzählt. Wie es auch sei, ich war da, ob Ute das gut fand oder nicht. So war das nun mal - da konnte sie mich hassen wie sie wollte. Ute hatte andererseits nicht wirklich Grund sich zu beklagen, denn sie hatte in ihrer Oma Martha eine Ersatzmutter gefunden.

Martha kümmerte sich rührend um Ute. Oma Martha verstand sie. Die beiden mochten sich sehr und sie mochten den kleinen Hans. Mich mochten sie allerdings beide gar nicht. Mein Bruder Hans war mir freundlicher zugetan als Ute. Er war in gewisser Weise fasziniert von mir. Als Hannah mit mir aus dem Krankenhaus kam, konnte Hans es kaum fassen: was hatte Mama denn da für eine kleine Puppe dabei? Das musste er genauer erforschen. Hans musste übrigens alles erforschen. Nichts war vor ihm sicher. Er war erst fünf Jahre alt, musste aber schon alles auseinander nehmen und erkunden, was ihm in die Finger kam. Er zerlegte Steckdosen, nahm Papas Kofferradio auseinander und machte auch vor Utes Lieblingspuppe Froni nicht halt. Einmal operierte er die Puppe mit Mamas Küchenmesser. Er schnitt ihr den Bauch auf, weil er wissen wollte, wie Froni von innen aussah. Er war erstaunt, dass nichts in ihr zu finden war. Dann forschte er weiter: was würde wohl passieren, wenn Froni auf die heiße Herdplatte fallen würde? Gedacht, getan. Genau in dem Moment, als Froni auf der Herdplatte landete, kam Ute ins Zimmer. Es zischte und qualmte auf dem Herd. Ute blieb starr vor Schreck stehen. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte sie entsetzt, wie Fronis Gesicht zu schmelzen begann. Es verformte sich durch die Hitze rasch zu einer grauenvollen Grimasse. Das Bild der dahin schmelzenden Froni verfolgte Ute noch bis ins hohe Erwachsenenalter. Ute hat Hans das nie verzeihen können.

Es kam wie es kommen musste: Hans wollte auch mich erforschen. In den

ersten Tagen nach meiner Ankunft in der Familie, musste Hannah mich

immer wieder ausziehen. Hans ließ unserer Mutter keine Ruhe.

„Herrje, hat der kleine Kerl mich damals genervt“, meldete sich Hannah. „In der ersten Zeit hat er mich täglich aufgefordert Linda aus den Tüchern und Decken, in die sie gewickelt war, auszupacken. Er wollte nachsehen, ob an ihr auch wirklich alles dran war. Er hat nicht aufgehört zu quengeln, bis ich nachgab. Erst nachdem er sie inspiziert hatte und sich überzeugen konnte, dass alle Zehen, Finger, eben alles da war wie es sich gehörte, gab er Ruhe. Das war ganz schön anstrengend für mich. Ich hatte da Linda, die ihr Fläschchen nicht trinken wollte, Hans den ich nicht aus den Augen lassen konnte, weil ich Sorge hatte, er würde wieder was anstellen und meinen Haushalt, den ich perfekt in Ordnung halten musste, weil sonst mit mir gemeckert wurde. Nur Ute war brav. Sie machte mir keinen Ärger. Ich konnte sie schnell zufrieden stellen. Wenn ich ihr erlaubte Martha zu besuchen, war sie glücklich. Der kleine Hans war auch gerne bei Oma Martha. Sie nahm sich Zeit und spielte mit ihm. Nur Opa Heinrich mochte er nicht so gerne. Er spielte zwar auch mit ihm, wenn er da war, aber er war ihm irgendwie suspekt. Etwas Seltsames, geradezu Unheimliches ging von ihm aus. Das empfand auch Ute so. Ich denke, es war weniger der Umstand, dass er ständig an ihnen herumfummeln musste und sie küssen wollte, was sie beide gleichermaßen eklig fanden, denn Opa stank nach Zigarre und seine verkrüppelten Finger taten ihnen oft weh, gerade, wenn er beim Kitzeln ganz aus Versehen mit der Hand zwischen ihre Beine rutschte - nein es war etwas anderes, das sie ängstigte. Es war so, als würde ihn eine düstere Wolke umgeben. Aber alles in allem waren Ute und Hans gerne bei ihren Großeltern zu Besuch. Für sie war es wie kleine Ferien von mir und Mama. Es war nämlich so, Hannah war oftmals ziemlich fertig mit den Nerven. Es war alles zu viel für sie. Sie war vollkommen überfordert mit der Situation und fühlte sich alleingelassen mit allem. Martha kümmerte sich zwar häufig um Ute und Hans, doch der Preis, den sie dafür zahlen musste war hoch, denn sie war Martha deshalb schutzlos ausgeliefert. Ständig hackte Martha auf Hannah und mir herum. Kein gutes Haar ließ sie an uns.“

„Das stimmt Linda. Es war eine schwere Zeit für mich. Am liebsten hätte ich Martha die Türe wieder vor der Nase zugeschlagen, wenn sie klingelte und ich öffnete. Aber ich musste ja freundlich zu ihr sein. Schließlich entlastete

sie mich, indem sie die Kinder nachmittags zu sich holte.“

„Pah!“, fuhr Martha dazwischen. „Du tust ja gerade so, als wäre ich die schlimmste Person auf der Welt gewesen. Wenn dem so gewesen wäre, wären Ute und Hans bestimmt nicht so gerne zu Heinrich und mir gekommen. Also erzähl hier nicht so´ n Quatsch, Hannah.“

„Ich gebe dir Recht, Martha. Meistens warst du nett zu mir, wenn die Kinder dabei waren. Aber wehe wir waren alleine. Dann fingst du augenblicklich mit deinen Gemeinheiten mir gegenüber an. Ich muss zugeben, manchmal warst du tatsächlich auch einfach mal nett zu mir - manchmal. Ich war damals so naiv und glaubte dir deine Freundlichkeit, denn ich gab die Hoffnung auf Besserung unseres Verhältnisses nicht auf. Wie sich herausstellen sollte, diente deine Nettigkeit aber nur dazu, um Anlauf zu nehmen für deine nächste Gemeinheit. Du wolltest mich in Ahnungslosigkeit und Sicherheit wiegen, um noch effizienter zuschlagen zu können. Leider ist dir das damals bravourös gelungen. Was war ich doch dumm und naiv!“ Hannah machte sich deswegen immer noch schwere Vorwürfe.

„Na endlich hast´ de das kapiert“, triumphierte Martha. „Hast reichlich lange dafür gebraucht, Hannah.“

„Na warte, du böses Weib!“ Hannah drohte mit erhobenem Zeigefinger zu Martha hinüber.

„Benehmt euch!“, mahnte Upper.

Augenblicklich gaben die beiden Ruhe.

„Keine Sorge, Upper.“ Hannah nahm sich gehörig zurück. „An der mach´ ich mir nicht die Finger schmutzig. Nur eins wollte ich noch erzählen: Martha hatte mir damals mit der Backofengeschichte aus ihrer Heimat einen Floh ins Ohr gesetzt. Ich war so in Sorge um Linda, dass ich immerzu daran denken musste. Sollte es tatsächlich stimmen? Könnte es klappen? Ich musste es probieren! Ich wollte nichts unversucht lassen, damit Linda durchkam. Sicherlich hätte ich die Kleine auch ins Kinderkrankenhaus geben können, aber damit hätte ich ja zugeben müssen, dass ich versagt habe. Ich konnte in meiner Vorstellung schon förmlich hören, wie Martha das ausnutzen würde. Auch meine Mutter, die sich sonst aus allem heraushielt, hörte ich schon, wie sie mich als Versagerin betiteln würde. Das alles wollte ich mir ersparen. Mein Entschluss stand fest. Ich musste es ausprobieren. Als ich mit Linda alleine war, legte ich los. Ich überlegte mir zunächst, wie viel Grad Linda aushalten könnte ohne Schaden zu nehmen. Konnte ich meinen Backofen überhaupt auf solch niedrige Temperatur einstellen? Ich schaute nach. Fünfzig Grad war das Minimum. Das war definitiv zu hoch. Bei fünfzig Grad trocknete ich Dörrobst für den Winter. Nein, nein, Linda war doch kein Dörrobst! Ich entschloss mich, zwar die niedrigste Temperatur einststellen, doch dann, wenn sie erreicht sein würde etwas zu warten, bis die Temperatur wieder ein wenig heruntergekühlt wäre und dann würde ich Linda dort wärmen. Soweit der Plan. Doch wie sollte ich sie hineinlegen. Einfach so aufs Backblech? Nein, das wollte ich nicht. Wäre auch viel zu unbequem gewesen. Linda sollte es gut haben. Mir kam eine Idee: Der Gänse Bräter – das würde gehen. Linda war nur halb so groß wie eine gute Gans. Da würde sie bequem hineinpassen. Ich polsterte also den Bräter mit einer Decke und einem kleinen Kissen aus und legte Linda probehalber hinein. Das passte prima. Dann nahm ich sie erst mal wieder heraus, denn ich wollte das Spezial-Bettchen im Ofen vorwärmen. Ich stellte den Bräter samt Kissen und Decke hinein und setze mich mit Linda auf dem Arm auf einen Stuhl, den ich vor dem Ofen bereitgestellt hatte. Bald musste es soweit sein. Ich hatte den Temperaturregler vor zwanzig Minuten ausgemacht. Jetzt musste ich nur noch rasch die tatsächliche Temperatur überprüfen. Dazu hatte ich mir das Thermometer vom Heißentsafter geholt. Ich öffnete also die Türe des Backofens. Auf meinem linken Arm hielt ich Linda, mit rechts packte ich den Griff der Ofenklappe. Ich blickte auf Linda hinab. Mit großen, weit aufgerissenen Augen guckte sie mich voller Angst an. Sie begann fürchterlich zu weinen als sich unsere Blicke trafen. Es war ganz so als würde sie mich anflehen: ´Tu´s nicht! Bitte, bitte tu´s nicht´. Und obwohl sie so klein und schwach war, entwickelte sie plötzlich eine enorme Kraft und versuchte sich zu befreien. Plötzlich wurde mir übel. Mir wurde bewusst, was ich im Begriff war zu tun. Mir war, als hätte eine fremde Macht oder ein böser Zauber mich ergriffen und veranlasst, das zu tun. Entsetzt sprang ich von meinem Stuhl auf. Mit Krachen kippte er hinter mir um. Ich rannte mit Linda aus der Küche raus. ´Nur weg von hier! Weg von dem Herd´, dachte ich. Ich setzte mich mit Linda aufs Sofa im Wohnzimmer und versuchte mich zu beruhigen. Linda war mittlerweile still.“

„Ja, stumm vor Schreck. Kannst du dir vorstellen, wie das damals für mich war? Ich war dir ausgeliefert, konnte mich nicht wehren. Ich spürte die Bedrohung am ganzen Körper.“

„Oh Linda, es tut mir so furchtbar leid. Ich hab´s nur gut gemeint – das musst du mir glauben!“

„Schwamm drüber! Jetzt, wo du vor allen hier deine Tat gestanden hast, habe ich meine Genugtuung erhalten.“

„Aber ich bin damit noch nicht fertig“, insistierte Kanep. „Davon habe ich hier zum ersten Mal gehört. Das ist ja schrecklich! Wie grausam! Das hast du mir nie erzählt, Linda.“

„Ich weiß, Kanep. Ich sah keine Notwendigkeit das zu tun. Ist doch letztendlich gut ausgegangen.“

„Wie kannst du das nur so in aller Seelenruhe sagen? Was man dir angetan hat ist ja wohl … wohl …, da fehlen mir die Worte.“ Kanep war außer sich. Er war wütend auf Hannah und gleichzeitig verzweifelt, weil er nichts tun konnte. Wenn Hannah nicht schon tot gewesen wäre, würde er es jetzt veranlassen wollen.

„Kanep, Hannah mag es getan haben, aber die wahre Schuldige steht da drüben.“ Linda zeigte auf Martha.

„Ich? Jetzt soll ich das gewesen sein? Nein, nein – das hängst du mir nicht an, Linda!“

„Und ob, Martha. Das war auf deinem Mist gewachsen. Du hast Hannah das doch mit dem Backofen erzählt! Außerdem hast du damit angegeben, dass du dich auf geheime Künste verstehen würdest. Warzen besprechen, bei Vollmond, unter einer Buche und so weiter. Verwünschen und verfluchen konntest du auch. Da brauch ich doch nur eins und eins zusammenrechnen und hab´s raus, du alte Hexe!“

„Martha schweig jetzt besser“, mahnte Heinrich. „Willst du noch mehr Schaden anrichten?“ Heinrich befürchtete, das hier könnte nicht gut für sie beide ausgehen. Er versuchte da wieder rauszukommen. Deshalb fragte er seinen Sohn Erhard: „Was sagst du zu der Geschichte, die deine Frau da erzählt hat und zu Lindas Anschuldigungen?“

„Ich hab´ doch gar nichts davon mitbekommen – war doch Arbeiten. Außerdem hat sie´s nicht gemacht. Linda ist nichts passiert. Ihr könnt euch was anstellen. Eins sag ich euch: Hannah ist die beste Mutter und Ehefrau, die ich kenne. Meine Hannah ist eine gute Frau! Und noch was: Martha ist auch eine gute Frau! Sie ist meine Mutter und hat immer gut für mich gesorgt - auch als Papa im Krieg an der Front kämpfen musste.“ Damit war für Erhard die Sache erledigt. Das entsprach genau seiner Art, wie er die Dinge regelte. Er hielt sich möglichst aus allem heraus, denn so wurde er in keinen Streit hineingezogen oder für etwas verantwortlich gemacht. Sollten die anderen ihren Kram machen. Erhard wollte nichts damit zu tun haben. Erhard war einer von Uppers Füll-Seins. Er war ohne bestimmte Aufgabe auf der Erde. Heinrich hatte Upper vor seiner Reise zur Erde gebeten, ihm ein Sein als Ergänzung zur Seite zu stellen. Er wollte ausprobieren einen Nachfolger für sich auszubilden. Aus unerfindlichen Gründen ließ Upper sich auf diesen Versuch ein. Doch gestand er Heinrich lediglich eins von seinem Füll-Seins zu. Seine Spezialisten wollte er für dieses vage Experiment nicht leichtfertig opfern. Wie sich noch herausstellen sollte, hatte Upper gut daran getan. Leider war Erhard aber eine große Enttäuschung für Heinrich. Er besaß keinerlei perfide Energie wie er sie selber besaß und er hegte im Gegensatz zu ihm nie böse Absichten. Kurz, ihm fehlten alle Voraussetzungen für eine würdige Nachfolge. Erhard war das einzige Kind von Heinrich und Martha. Ich denke, Martha verstand es, weitere Kinder durch diverse Methoden zu verhindern. Erhard war ein lieber Kerl aber denkbar ungeeignet Heinrichs Erbe anzutreten. Da konnte Heinrich nur auf einen Enkelsohn hoffen. Nun ja, das erste Enkelkind, das Erhard und Hannah ihm brachten, war Ute. Die Freude war groß, als Ute zur Welt kam – doch sie war nur ein Mädchen. Aber vielleicht würde sie Marthas Traditionen fortführen, wer weiß? Die Möglichkeit war durchaus gegeben, denn Ute war kein Forschungs-Sein sondern ein Flexi-Be, so zu sagen ein Joker. Flexi-Bes sind zunächst ohne besondere Aufgabe auf der Erde, können sich aber später spezialisieren. Entweder entscheiden sie selber über eine mögliche Aufgabe oder ihnen wird nachträglich eine Aufgabe vom Bibo zugeteilt. Gut ein Jahr nach Ute kam Hans auf die Welt. Was war das für eine Freude! Ein Stammhalter, endlich ein Stammhalter! Heinrich sah sich am Ziel. Hans sollte also derjenige sein, welcher auf ihn folgen würde. Daraus konnte tatsächlich was werden. Hans war ein Phantom-Sein, ein Sein das sich selten zeigt und auch nicht zeigen will, wie es ist. Es lebt überwiegend im Verborgenen und gibt seine Archetyp- und Schattenaspekte nie preis. Das macht es unnahbar und unberechenbar. Die meisten Menschen gehen aus Furcht vor ihm auf Abstand. Das gehört zum Plan des Phantom-Seins, denn das nutzt es aus, um Macht über andere ausüben zu können. Hans lebte das perfekt aus. Es war sogar noch schlimmer: Hans avancierte nach und nach zum Popanz, denn Heinrichs Schattenaspekte bemächtigten sich seiner. Heinrich hatte sein Ziel erreicht. Er lebte in Hans weiter.

Uppers End

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