Читать книгу Uppers End - Birgit Henriette Lutherer - Страница 4

Linda kehrt heim

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„Sagt mal, spinnt Ihr?! Tickt Ihr noch ganz sauber?! Habt Ihr noch alle

Tassen im Schrank?! Was sollte das?! Hmm?! Was sollte dieses verkackte Leben?!“

„Jetzt reg dich mal nicht so auf, Linda! Schließlich hast du dir dieses Leben selber ausgesucht!“ Upper, der oberste Boss allen Seins versuchte Linda zur Raison zu bringen. „Wenn ich dich daran erinnern darf, meine Liebe: Du warst es doch, die nicht mehr wollte. Du warst die, die gesagt hat, jetzt sei Schluss mit dem Kram – ein für alle mal. Du wolltest gehen. Nach achtundachtzig Jahren hattest du genug vom Leben auf der Erde.“

„Ja, das stimmt,“ gab Linda zu „ich konnte nicht weiter mitansehen, wie immer wieder das gleiche in meiner Familie geschieht – dieses Unrecht, diese Qual – das musste ein Ende haben, jawohl. Aber dass ihr mich dort derart habt hängen lassen – was sollte das? Wer hat sich das ausgedacht?“

Verschämt schauten alle Anwesenden auf den Boden.

„Na sagt schon, wem habe ich diesen Schlamassel zu verdanken?“

Linda blickte in die Runde. Da stand Hannah, die auf der Erde ihre Mutter gewesen war und Erhard, ihr sogenannter Vater, stand gleich neben ihr. „Na, ihr zwei, wie wär´s mit euch – könnt ihr mir die Frage beantworten? Habe ich euch dieses miese Leben über Jahrzehnte hinweg zu verdanken?“ Mit gesenkten Köpfen verharrten ihre damaligen Eltern in einer Art Schockposition. Hannah malte verlegen mit ihrem Fuß Kreise in den staubigen Boden. Linda konnte beobachten, wie Erhard Hannah verstohlen anschaute. Er schien darauf zu warten, dass Hannah etwas sagte. Und tatsächlich, genau wie zu Erdenzeiten, lohnte sich das Warten für ihn. Hannah begann verlegen: „Also Linda, weißt du, wir haben das nicht gewollt. Wir wussten ja auch nichts davon. Wir konnten nicht sehen was werden sollte. Du musst uns glauben, Linda, wir wollten immer nur, dass es dir gut geht.“

„Aha, meine Liebe, das ist ja schön zu hören, aber irgendwie kann ich es nicht so recht glauben. Na ja, lass mal gut sein. Vielleicht kann mir Heinrich oder Martha ja meine Frage beantworten?“ Linda blickte Heinrich und Martha mit strengem, auffordernden Blick an. Im Gegensatz zu Hannah und Erhard blickten sie Linda unverhohlen in die Augen. Linda lief ein kalter Schauer über den Rücken. Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut. Schon während ihrer Zeit auf der Erde wurde sie von diesem kalten Schauer geschüttelt, wenn sie ihren Großeltern begegnete. Heinrich und Martha waren dort drüben Erhards Eltern gewesen, also Lindas Opa und Oma. „Nun, meine lieben Großeltern“, begann Linda mit forderndem Unterton, „mit euch habe ich später sowieso noch zu reden – aber könnt ihr mir vielleicht meine Frage beantworten? Was sollte dieser ganze Mist in meinem Leben? Warum habt ihr mir all diese Dinge angetan?!“

„Jetzt stell dich mal nicht so an! Tu mal nicht so, als wären wir an allem schuld. Du hast ja auch brav mitgemacht. Und außerdem: So schlimm war das ja nun auch nicht. Aber, um deine Frage zu beantworten: Nein, wir waren das nicht. Du verdächtigst die Falschen!“, entgegnete Heinrich Unschuld heuchelnd.

„Das soll ich euch glauben?!“

„Ja, glaub es nur. Und das eine will ich dir mal sagen“, zeterte Martha, „was du da mit meinem Heinrich gemacht hast …“ Martha verstummte plötzlich. Sie wollte vor den Anwesenden keine vertraulichen Details preisgeben.

„Was soll ich gemacht haben, hä?!“

„Na, du wirst schon wissen was. Warst auf jeden Fall kein Unschuldslamm, Linda – ganz wie deine Mutter da drüben, nicht wahr Hannah?“ Hannah schaute immer noch verlegen auf den Boden. Sie versuchte allen Blicken auszuweichen.

„Lass du mir Hannah in Ruhe!“ Entrüstet trat Linda Martha gegenüber. Sie war kampfbereit – aufs äußerste gefasst. Nach ihrem Leben auf der Erde wollte Linda sich jetzt hier, am Ort der Zeit ohne Zeit, nicht mehr Marthas Gemeinheiten gefallen lassen.

Martha stemmte die Arme in ihre Seiten. Sie schnaubte vor Wut. „Linda, du kleiner mieser Bastard! Was bildest du dir ein?! Schau mal da vorne, der Kleine da. Er wäre dein Sohn gewesen, aber er wollte nicht! Und ich glaube, aus gutem Grund! Gerade noch rechtzeitig hat er es sich anders überlegt und ist zu uns in die Zeit ohne Zeit zurückgekehrt. Hier geht es ihm gut. Bei dir …,

naja, das kann man sich ja denken …!“

Linda war empört. „Martha, pass ja auf, was du sagst und lass Max aus dem Spiel! Hier gelten andere Regeln. Du solltest lieber anfangen kleinere Brötchen zu backen. Ich werde dafür sorgen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Verlass dich drauf!“ Linda musste an sich halten. Um ein Haar hätte sie Martha selber vom Rand des Ortes der Zeit ohne Zeit hinab ins Nichts gestoßen, doch sie überlegte es sich in letzter Sekunde anders. Linda wollte erst Klarheit schaffen. Klarheit über das, was auf der Erde tatsächlich passiert war. Dazu brauchte sie die Beteiligten – und natürlich Upper als obersten Richter. Er sollte sich alles noch einmal in Anwesenheit aller Personen anhören und dann entscheiden, ob jemand ausgelöscht werden sollte. Linda war gespannt. Aber erst mal war sie fürchterlich wütend.

„Was soll das“, empörte sich Linda bei Upper. „Soll das hier so weiter gehen? Darf Martha mich beleidigen?“

„Linda, ich beleidige dich überhaupt nicht. Ich sage nur, wie es ist“, konterte Martha mit süffisantem Lächeln.

„Hörst du immer noch nicht auf, du alte Hexe?! Und du da Heinrich, du mieses Schwein – Pass bloß auf!“

„Aber, aber, Kinder, bitte beruhigt euch!“ Upper mischte sich jetzt schlichtend ein. Er konnte nicht mehr mitanhören, wie Martha und Linda sich beschimpften. Auch die anderen Familienmitglieder aus Lindas Sippe, die anwesend waren, redeten mittlerweile wild durcheinander. Erhard lag im Disput mit seinem Vater Heinrich, Hannah beschwerte sich bei den beiden wegen irgendwelcher falschen Versprechungen, dann versuchte Heinrich sich zu rechtfertigten, wurde aber jäh von Martha unterbrochen und beschimpft- kurz, es war ein chaotisches Stimmengewirr. Alle waren so mit sich beschäftigt, dass sie Uppers Bitte nicht wahrnahmen. Upper erhob seine Stimme. „Ruuuhe!!! Zum Donnerwetter noch mal!“ Dröhnend rauschte Uppers Stimme mitten durch die Anwesenden. Der Boden unter ihren Füßen erbebte bei dieser Stimmgewalt. „Jetzt beruhigt euch endlich! Ich versteh ja mein eigenes Wort nicht mehr und ihr wisst: Das Wort ist bei mir! Von Anfang an! Also Ruhe jetzt! Bedenkt -“, Uppers Stimme wurde milde, „Linda ist gerade erst zurückgekehrt. Sie ist noch voller Quod. Ich hatte ihr, so glaube ich, etwas viel davon mitgegeben und Hannah hat es auch gut mit ihr gemeint. Oder hattest du, Fridolin, etwa auch noch nachgeholfen?“ Upper sah Fridolin forschend an. „Nun ja, Upper“, lenkte Fridolin vorsichtig ein, „es könnte sein, dass mir da ein Fläschchen von dem Zeug aus der Hand geglitten ist, als es brenzlig wurde, weißt du, Ähem.“ Fridolin nestelte verlegen an seiner dunklen Kutte herum. Er vermied, Upper in die Augen zu schauen.

„Soso“, schmunzelte Upper insgeheim. Er versuchte seine sichtliche Freude darüber zu verbergen. Schließlich war Linda eines seiner Lieblings-Seins und gut wieder zu ihm zurückgekehrt. Nur Tomasin, der alte Zausel, begann zu mäkeln: „Das war unfair! Sie ist mit einem Vorteil auf die Reise gegangen. So war das nicht abgemacht!“

„Abgemacht? Was war abgemacht?“ Linda wurde hellhörig.

„Nichts Linda. Tomasin meint manchmal, er könne meinen Job übernehmen. Da irrt er sich! Nicht wahr, Tomasin?!“

„Ja! Ist ja gut, Upper! Man kann´s ja mal probieren.“ Tomasin winkte ab.

„Also, Fridolin, du hast Linda Quod gegeben.“

„Ja, Upper, ganz aus Versehen.“

„Das soll ich dir also glauben?“

„Ich denke schon. Du weißt doch wie verlässlich ich bin.“ Mit einem fast betörenden Augenaufschlag zwinkerte er Upper zu. Beinahe hätte Linda bei dem Anblick laut losgeprustet. Sie wusste, wie überzeugend und charmant ihr Freund Fridolin sein konnte. Das hatte sie so manches Mal miterleben dürfen. Aber dass er es auch bei Upper, dem Überwesen versuchte, das erstaunte Linda dann doch.

„Lass gut sein, alter Freund. Ist schon okay. Schließlich habe ich dir persönlich ein paar Fläschchen Quod abgefüllt, die du nach deinem Ermessen, bei Bedarf verabreichen darfst.“

„Ach so?! Hört, hört! Das sind ja ganz neue Sitten. Ihr trefft geheime Absprachen?“ Tomasin zeigte sich sichtlich pikiert.

„Sei du mal ruhig, Tomasin. Ich glaube, du bist noch nie zu kurz gekommen. Schließlich hast du von mir die Aufgabe bekommen, jedem Reisenden einen Schatten mit drei Anteilen zu geben.“

„Ist ja gut. Ich will nur keine Heimlichkeiten, so hinter meinem Rücken.“

„Du hättest mich einfach fragen können, Tomasin“, warf Fridolin ein.

„ICH habe keine Geheimnisse!“

„Damit du dich nicht noch mehr übergangen fühlst, Tomasin: Kanep hatte auch ein Extra-Fläschchen Quod für Linda dabei“, fügte Upper hinzu.

„Wieso das denn, Upper?“

„Ganz einfach, weil sie mich darum gebeten hat.“

„Wann hat sie das denn gemacht? Ich meine, woher wusste sie…, wie konnte sie…?“

„Nachdem mir zu Ohren kam“, sagte Fridolin, „dass du Linda davon überzeugt hattest, ihren Schatten zurückzulassen, was ich übrigens richtig fies von dir fand, Tomasin. Ich hatte Mitleid mit Linda. Ich kannte ja ihre Aufgabe, also musste ich handeln. Ich erzählte Linda, was es für Folgen haben würde, wenn sie ohne Schatten leben würde. Sie schaffte es gerade noch bei Upper ihren Schatten nachzubestellen bevor sie bei ihrer Ankunft auf der Welt alles vergessen würde. Wenige Augenblicke nach ihrer Bestellung ging Linda auch schon durch den Kanal des Vergessens und erblickte das Licht der Welt.“

„Wieso ausgerechnet Kanep?“, entfuhr es Tomasin. „Er hatte doch schon genug gemeinsame Leben mit Linda erfahren.“

„Eben, genau deshalb“, gab Upper zur Antwort. „Kanep kennt sich aus. Ich wusste, er würde Linda auf jeden Fall rechtzeitig treffen.“

„Rechtzeitig? Was heißt rechtzeitig?“

„Tomasin, das solltest du wissen!“ sagte Upper. „Rechtzeitig natürlich, bevor Lindas Vorrat an Quod aufgebraucht wäre, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Ich wusste, sie hatte schon überaus viel Quod verzehren müssen. Für den Rest der Zeit hätte es nicht mehr gelangt. Linda hätte abbrechen müssen!“ Upper blickte Tomasin vielsagend und tiefgründig in die Augen.

„Das hatte ich damals auch nicht ganz verstanden, Tomasin“, sagte Fridolin. „Ich hatte ihn doch gerade erst nach Hause begleitet. Wieso also sollte es Kanep sein? Kanep war gerade erst von seiner Forschungsreise aus dem großen Krieg, der auf der Erde getobt hatte, heimgekehrt. Er sollte seine wohlverdiente Ruhepause genießen. Wieso also Kanep?“

„Ganz einfach“, schmunzelte Upper. „Die beiden sind schon seit Anbeginn der Zeit ohne Zeit ein Paar. Sie lieben sich. Die reinste, tiefste Liebe, die ich je gesehen habe. Das haben mir die beiden über viele Erdenleben gezeigt. Also, welche Macht könnte größer sein – mich ausgenommen – als die Liebe? Die Liebe der beiden zueinander war die Garantie, dass Linda es schafft.“

„Aha! Und wo ist Kanep jetzt? Sollte er nicht hier sein, wenn seine Linda heimkehrt?“ fragte Martha neugierig grienend? Sie hoffte mit ihrer Frage Linda einen weiteren schmerzlichen Schlag versetzen zu können. Doch Upper kam allen zuvor. Bevor irgendjemand auf Marthas boshafte Frage reagieren konnte verkündete er: „Kanep ist schon auf dem Weg hierher. Er müsste jeden Moment hier eintreffen.“

Heinrich und Martha zuckten zusammen. Eine wütende Linda, das war das eine. Damit konnten sie bestimmt fertig werden und sich vor Upper rechtfertigen. Da waren sie sich sicher. Wenn aber nun dieser Kanep hier auftaucht, dann würde es für sie schwer werden in Uppers Gnade zu bleiben. Linda und Kanep, jeder für sich, waren starke Seins-Anteile. Wenn sie sich dann auch noch zusammentaten, entfachten sie eine große, gemeinsame Kraft. Das wussten alle Anwesenden. Nur, es half alles nichts, niemand konnte Kaneps Ankunft verhindern.

„Kanep braucht noch etwas Zeit“, verkündete Fridolin. „Er ist noch geschwächt. Schließlich hat er lange Zeit zwei Schattenkomponenten in sich gehabt – seinen und den von Linda. Ich kann euch sagen, Tomasin hat den beiden nicht gerade die leichtesten gegeben. Kanep konnte sich zwar in der zweiten Hälfte seiner Erfahrungszeit erholen und Kraft sammeln, indem er endlich seinen Archetyp leben durfte, die Kraft ist dennoch immer noch nicht zur Gänze wiederhergestellt. Habt also bitte noch ein wenig Geduld.“

„Linda kann ja schon mal damit beginnen von ihren Erfahrungen zu berichten, bevor ihre Erinnerung daran verblasst“ schlug Upper vor.

Heinrich, Martha und jetzt auch Hannah zuckten abermals heftig zusammen. Wie konnten sie dem aus dem Wege gehen? Hannah hatte einen rettenden, zeitbringenden Einfall: „Upper, ich hab´ da mal zwei Fragen: Was geschieht, wenn man ohne seinen Schatten auf der Welt lebt? Und wie ist das, wenn man mit zwei Schatten gleichzeitig dort ist?“

„Oh ja, Hannah, das sind in der Tat zwei interessante Fragen.“ Upper ließ sich tatsächlich auf ihre Fragen ein. „Tja, was geschieht, wenn man ohne Schatten lebt? Tomasin, was sagst du?“

„Nun, wenn jemand ohne Schatten auf der Erde leben würde, würde er

höchstwahrscheinlich von seinen Mitmenschen argwöhnisch betrachtet – kann ich mir vorstellen.“

„Ach so, Tomasin, du hast also eine Vorstellung davon, wie es einem meiner Forschungs-Reisenden ergehen könnte, wenn sie von dir ohne Schatten losgeschickt werden?“

„Ja vielleicht, Upper. Ich fabuliere halt wie es sein könnte.“

„Und warum hast du dann Linda dazu überredet, auf ihren Schatten zu verzichten?“

„Ich weiß auch nicht, Upper, was mich da geritten hat“, gab Tomasin kleinlaut von sich. „Ich kann mir vorstellen, dass ich dir vielleicht eine neue Erfahrung liefern wollte?“ Tomasin versuchte sich herauszureden. Er wollte unbedingt vermeiden, Uppers Zorn auf sich zu ziehen.

„Tomasin“, donnerte Upper laut los, „über dein schändliches, unverantwortliches Verhalten, werden wir noch reden – mein Freund!“ Mit dieser dunklen, ahnungsvollen Ankündigung ließ er Tomasin stehen und wendete sich Hannah zu: „Um deine erste Frage zu beantworte, Hannah: Wenn du ohne Schattenanteil zur Erde reist, kann das in der Tat schwerwiegende Auswirkungen haben. Alle Menschen, mit denen du es zu tun haben wirst, werden dich als seltsam empfinden. Du bist anders – und anders sein löst Angst aus bei deinen Mitmenschen.“

„Aber Upper“, wendete Hannah ein, „der Schattenanteil stellt doch den negativen Aspekt meines Seins dort auf der Erde dar. Dann kann es doch nur gut sein, wenn ich ausschließlich den positiven Archetyp lebe. Oder sehe ich das falsch?“

„Nun ja, nicht ganz. Schau mal, wenn alle Menschen ihren Schattenanteil haben, mehr oder weniger bewusst, dann sehen sie im Gegenüber etwas Bekanntes, nämlich dass auch er, genau wie sie selbst, einen Schattenanteil in sich trägt. Wenn du jetzt aber als einzige ohne Schattenanteil auf der Erde lebst, bist du automatisch ein Sonderling. Die Menschen sehen dich als zu gut an. Für ihr Verständnis kann das einfach nicht sein. Es ist das schier Unmögliche für sie. Deshalb fangen sie an, den Makel an dir zu suchen, den du natürlich einfach nicht hast. Er fehlt dir schlicht und ergreifend. Die Menschen können den Makel logischerweise nicht an dir entdecken. Die Konsequenz ist, dass jedem, mit dem du länger zu tun hast, immer bewusster auffällt, dass dir dein Schattenanteil fehlt. Dein Gegenüber wird so lange weitersuchen, bis er eine vermeintlich negative Kleinigkeit an dir findet. Erst dann bist du seiner Ansicht nach richtig, also so, wie es sich gehört. Es kann zum Beispiel sein, dass du in seinen Augen zu freundlich oder zu ehrlich bist. Dann wird dieser Jemand dir unter Umständen negative Dinge andichten, um das berühmte Haar in der Suppe zu finden.“

„Kann man denn zu freundlich oder zu ehrlich sein, Upper?“

„Hier bei mir, in der Zeit ohne Zeit, gibt es natürlich kein zu freundlich oder zu ehrlich, denn bei uns gibt es weder Archetyp noch Schatten. Bei uns gibt es das pure Sein. Auf der Erde ist das allerdings anders.“

„Wieso gibt es dann hier im Moment Streit unter den Anwesenden?“, meldete sich Erhard skeptisch zu Wort. „Wenn doch alle hier im `Ich bin` Zustand sind, dann ist jeder Konflikt hinfällig, sogar überflüssig. Oder sehe ich das falsch?“

„Jain, Erhard. Das ist möglich, weil ihr alle zur Begrüßung Lindas noch einmal in euer Erden-Sein geschlüpft seid. Das ist auch wichtig, denn nur so kann ich Lindas Bericht authentisch in die große Chronik eingeben. Eure Attribute sind im Augenblick von Lindas Ankunft wieder aktiviert worden. Verstehst du?“

„Okay, ich glaube, ich habe es verstanden. Wir alle hier sind im Augenblick so, wie wir es während unseres Aufenthalts auf der Erde waren. Korrekt?“

„Ja, in etwa ja.“

„Also, Upper“, setzte Hannah neu an, „damit ich das richtig verstehe: Wenn ich auf der Welt bin und ich meine Schattenanteile nicht dabei habe, dann kann ich also zu freundlich oder zu ehrlich sein? Ich bin deshalb den anderen suspekt? Sobald ich aber meinen Schattenanteil habe, geht das nicht mehr und bin ihnen nicht mehr suspekt?“

„Ja genau. Sobald du den Schatten in dir trägst, ist der negative Gegenpol zur Freundlichkeit und Ehrlichkeit hinzugefügt. Deine Mitmenschen sehen dich als „ganz“ an, weil die gewohnte Polarität hergestellt ist. Die Menschen brauchen auf der Erde die Polarität, sonst könnten sie keine Erfahrungen sammeln.“

„Was sind das denn für Polaritäten“, fragte Max neugierig nach.

„Da gibt es zum Beispiel Gut und Böse, schwarz und weiß, hell und dunkel,

Ying und Yang, Tag und Nacht. Ich könnte dir noch viele weitere Beispiele

nennen. Es geht darum zu jedem Pol einen Gegenpol zu haben.“

„Wenn ich also auf der Welt bin, muss ich erkennen, was korreliert?“

„Ja, so ist das, Max.“

„Puh, da bin ich aber froh, dass ich es mir doch noch anders überlegt hatte und sofort wieder nach Hause gegangen bin. Das wäre mir viel zu kompliziert gewesen. Die Erfahrung, den Weg in die Nisthöhle zu machen, war für mich schon Aufregung genug gewesen. Gut, dass ich wieder hier bin.“

Upper beruhigte Max. „So anstrengend, wie sich das für dich vielleicht im Moment anhören mag, ist es nun auch wieder nicht. Du musst nicht denken Max, dass die Menschen sich immerzu damit auseinandersetzen müssten. Das wäre auch ihrem Auftrag nicht unbedingt zuträglich. Denn wenn es sich so verhielte, würden die Menschen einen großen Teil ihrer Verweildauer damit verbringen zu erkunden, wer gut von uns komponiert wurde. Das wäre zum einen viel zu aufwendig und zum anderen Quatsch.“

„Die Menschen auf der Erde sagen oft so treffend: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Wo demgemäß ein Archetyp ist, ist auch ein Schattenanteil?“, fragte Hannah nach.

„So ist es“, bestätigte Upper.

„Wieso gibt es dann aber auf der Erde Menschen, die nur ihren Archetyp leben und verehrt werden?“

„Ja, das ist eine gute Frage. Du hast recht, Hannah, die gibt es. Da gab es zum Beispiel Mutter Theresa, die ihr eigenes Leben ganz beiseite stellte und sich aufopfernd um die Kranken und Armen kümmerte. Oder Buddha zum Beispiel, er setzte sich einige Zeit unter einen Baum und war von da an nur noch gut. Die Menschen nannten ihn den Erleuchteten. Es gibt noch eine ganze Reihe Menschen mehr, die ich nennen könnte. Eins ist allen gemeinsam: Sie reisten mit Archetyp und Schatten zur Erde. Nach einiger Erfahrungszeit auf der Erde, erkannten sie ihren Schatten und legten ihn ab. Ihre Mitmenschen wiederum erkannten dies und bewunderten sie dafür. Alle waren zunächst von ihresgleichen. Wenn du so willst, konnten alle Menschen einen Abgleich zu sich selber machen. Wären Mutter Theresa oder Buddha allerdings gleich ohne ihren Schatten angereist, wären sie mit Sicherheit in ihren Augen nichts als Sonderlinge gewesen.“

„Gehörte ich zu den sogenannten Sonderlingen“, wollte Linda wissen?

„Ja, in gewisser Weise schon. Zumindest so lange, bis Kanep dir deinen Schattenanteil überbracht hatte.“

„Welchen Archetyp hast du mir damals mitgegeben?“

„Du willst es aber genau wissen, Linda.“

„Ich glaube, es ist mein verdammtes Recht, die ganze Wahrheit zu erfahren, Upper. Weißt du, ich fühlte mich so manches Mal regelrecht verarscht von euch.“

„Linda! Wie sprichst du mit uns?!“ Tomasin war entsetzt über Lindas Respektlosigkeit.

„So, wie ich es schon lange tun wollte, Tomasin! Verflixt noch eins, denkt ihr, ihr könnt alles machen? Denkt ihr, ihr dürft euch alles herausnehmen?“

„Ja, das können wir!“ Upper dröhnte mit lauter Stimme dazwischen, dass der Boden wieder bebte. Langsam verlor er die Geduld. Er fühlte sich mehr und mehr durch Linda Fragerei in die Enge getrieben.

„Beruhigt euch alle mal wieder“, versuchte Fridolin zu beschwichtigen „Bedenkt, Linda hat immer noch viel Quod in sich. Außerdem hat die überdurchschnittlich große Menge an Quod bei ihr bewirkt, dass sie die Erinnerung an Zuhause nie ganz verloren hatte und später zum Großteil sogar wiedererlangte. Ich, für mein Teil, kann verstehen, dass Linda so reagiert. Wenn ich so versuche mich in sie hineinzuversetzen, dann glaube ich, würde ich genauso reagieren wie Linda. Mich wundert es nicht, dass sie wütend ist und Rechenschaft von uns fordert.“

„Hm“, Upper dachte nach. „Wahrscheinlich hast du Recht, Fridolin. Wir wollen Mal nicht so sein. Nun gut! Du hast mich nach deinem Archetyp gefragt. Linda, ich sag´s dir: Dein Archetyp besteht, wie bei jedem reisenden Sein, aus drei verschiedenen positiven Aspekten. Zum einen beinhaltet deiner „Die gute Fee“. Du solltest gütig und mildtätig sein. Du solltest Wünsche erfüllen. Du hattest die Gabe, Träume zu erfüllen und Ersehntes zu verwirklichen. Du konntest geheime Bedürfnisse erkennen und befriedigen. Anderen eine Freude zu machen oder sie zu überraschen, bereitete dir selber die größte Freude. Du warst intuitiv und feinfühlig. Deshalb fiel es dir leicht, Menschen glücklich zu machen. Durch dich floss etwas vom Ort der Zeit ohne Zeit in die Welt. Du warst eine wunderbare Gefährtin und hast Menschen in ihren schwersten Zeiten geholfen. Ich finde es überaus bedauerlich, dass deine wunderbaren Aspekte so schändlich missbraucht wurden.“ Upper schaute beim Schlusssatz Heinrich und Martha grimmig an. „Dann beinhaltete dein Archetyp weiterhin noch den Aspekt des Kraftstrotzenden. Du solltest viel innere Stärke besitzen. Nichts sollte dich aufhalten können. Nur der Tod wäre dazu fähig gewesen.“

„Also ich, hihi“, kicherte Fridolin verschmitzt.

„Du hattest die Kraft, dich selbst aus hoffnungslosen Situationen zu befreien. Selbst, wenn du geschwächt warst, gelang dir das. Deine unerschöpfliche Kraft machte es dir auch leicht, auf jeden freundlich zuzugehen und denjenigen so zu akzeptieren wie er war. So konntest du Großes vollbringen. Leider wurde das nie von jemandem in deiner Familie gewürdigt. Im Gegenteil, auch diese starke Eigenschaft von dir wurde missbraucht und du wurdest hintergangen. Du wurdest in deinen ureigenen Fähigkeiten, in deiner enormen Kraft gebremst.“ Diesmal blickte Upper Hannah streng an.

„Ich wollte doch nur das Beste für Linda. Ihre Stärke und ihre Fähigkeiten machten mir Angst“, versuchte Hannah sich zu verteidigen.

„Im Hinblick auf die Menge Quod, die du von uns bekommen hast, Linda, wundert mich jetzt nicht mehr, dass du stärker warst als ursprünglich geplant. Na ja, es hat dir ja nicht geschadet – ganz im Gegenteil, es hat dich gerettet.“

„Danke Upper! Das war ein großes Geschenk für mich.“

„Der dritte Aspekt deines Archetyps ist der der hilfsbereiten Gönnerin. Du warst zuverlässig und wusstest, anderen und dir immer zu helfen. Du hattest immer eine Idee, das zu besorgen, was gerade benötigt wird. Wie ein Jäger oder Sammler wusstest du genau, was zu tun war, um versorgt zu sein.“

„Das stimmt, Upper. Ich wusste mir immer zu helfen, um aus dem Mangel herauszukommen. Außerdem, erinnere ich mich, hatte ich auch immer – selbst bei dem Quatsch, den ihr verzapft habt – das Vertrauen, dass ihr mich versorgen würdet, wenn es ganz hart kommt.“

„Das höre ich gerne, Linda. Habe ich also doch nicht alles verbockt.“

„Das habe ich auch gar nicht behauptet Upper. Vielmehr waren das die, da drüben.“ Linda zeigte abfällig auf ihre vier Welt-Gefährten die schon heimgekehrt waren.

„Linda, nicht nur dich wusstest du zu versorgen“, fügte Upper hinzu, „sondern auch andere Menschen. Das hat dir meistens sogar noch mehr Freude bereitet. Wenn du teilen konntest, warst du glücklich. Leider wurde dir auch das verübelt.“

„Nochmals danke dafür, Upper. Ich fühle mich reich beschenkt von dir.“

„Das habe ich gerne gemacht, Linda. Du weißt, du bist mir sehr nahe.“

„Und du sagst, all diese tollen Dinge wurden mir als schlecht vorgeworfen, weil ich in den ersten zwanzig Jahren meines Seins auf der Erde meinen Schatten nicht dabei hatte? Upper, habe ich dich da richtig verstanden?“

„Ja, genau. Du hattest so viel Gutes und Schönes in dir, das konnten deine Mitmenschen, die dir nahe waren nicht aushalten. Deshalb versuchten sie, wie gesagt, den schlechten Gegenpol in dir zu finden, was ihnen ja, aus bekannten Gründen nicht gelingen konnte. Zum Glück hatten dich einige, wenige meiner Notfall-Seins gefunden und dir immer mal wieder geholfen. Ich befürchte, du hättest sonst deine Reise vorzeitig abgebrochen.“

„Was sind denn nun schon wieder Notfall-Seins?“ Max schaute fragend zu Upper.

„Nun ja, das sind Seins-Anteile vom Ort der Zeit ohne Zeit, die ich zur Erde geschickt habe, falls einer meine Forscher Hilfe benötigt. Die Menschen nennen sie manchmal Engel oder Erdenengel oder himmlische Helfer.“

„Jetzt wird mir so manches klar! Ich erinnere mich: Hin und wieder gab es jemanden, der mir, aus mir unerklärlichen Gründen, etwas gegeben hat oder für mich getan hat. Ab und zu war es auch nur ein Blick, der mich von einem Fremden traf, wenn ich mich erschöpft fühlte und danach fühlte ich mich wieder besser. Jetzt wundert mich das nicht mehr. Herzlichen Dank dafür!“

„Linda, habe ich deine Frage damit ausreichend beantworten können?“

„Ja, fast.“

„Was gibt´s denn nun noch?“

„Du sprachst davon, Kanep hatte meinen Schatten in seinem Reisegepäck. Ich möchte gerne wissen, welchen Schatten mir Tomasin gegeben hatte. Und, wenn wir schon mal dabei sind: Welchen Archetyp und welchen Schatten hatte Kanep selbst?“

„Da fragst du am besten Tomasin. Er weiß es ja am besten. Und was Kanep

anbelangt, da muss ich erst noch nachdenken, ob ich dir das erzählen möchte.“

„Upper?! Darf ich dich daran erinnern, dass du an meinem verkorksten Leben nicht ganz unschuldig warst?“ Linda stand mit verschränkten Armen vor Upper, wippte ungeduldig mit ihrem rechten Fuß, zog ihre linke Augenbraue hoch und schaute dabei Upper sehr bestimmend in die Augen.

„Okay, ist schon gut, ich mach´s, ich erzähl es dir, Linda. Aber guck mich nicht mehr so an! Wenn du mich so streng ansiehst, könnte ich fast Angst vor dir bekommen. Mit dem Blick könntest du glatt Hexen und Teufel verjagen.“

„Ja, das kann ich auch!“ Während sie das sagte, lugte sie zu Heinrich und Martha hinüber. Wieder zuckten die beiden zusammen als sich Lindas und ihre Blicke trafen. Nur Hannah nickte Linda bestätigend zu.

„Tomasin, verrate Linda bitte, welchen Schatten du ihr mitgegeben hast“, forderte Upper Tomasin auf.

„Aber Upper, das geht doch nicht! Ich kann doch nicht einfach so aus dem Nähkästchen plaudern. Da könnte ja jeder daher spaziert kommen und Einsicht in seine Akte verlangen. Schließlich sind das Geheimsachen.“

„Tomasin, ich gebe dir vollkommen Recht. Nur in diesem Fall müssen wir, ich betone: müssen wir eine Ausnahme machen. Wir haben es hier mit einem Sonderfall zu tun. Noch nie zuvor ist jemand mit der Erinnerung an Zuhause auf der Erde gewesen.“

„Upper, da irrst du dich! Hast du nicht Inos …“ Weiter kam Tomasin nicht.

„Tomasin, schweig! Kein Wort! Ich will nicht mehr darüber sprechen!!! Du wirst Linda jetzt alles erzählen, was sie wissen möchte. Nicht mehr und nicht weniger – verstehst du? Schließlich hat sie viel mitgemacht. Und sie hat nicht mal mit ihrer Herkunft geprahlt. Das nenne ich tapfer! Deshalb darf sie alles wissen, was sie möchte. Auch über diejenigen, die maßgeblich auf der Erde bei ihr waren, darf sie Fragen stellen.“ Ein Raunen erhob sich. Es kam von den Anwesenden Zurückgekehrten, die Linda empfangen mussten. Sie schienen von Uppers Anweisung nicht gerade begeistert zu sein.

„Gut, wenn du das so willst, Upper?“

„Ja! Ich will das so, Tomasin! Nun mach endlich! Gib Linda die gewünschte Auskunft! “

„Aber nicht mehr!“ Tomasin stampfte trotzig mit seinem Fuß auf. Ganz so,

als wolle er damit seinem Unmut über Uppers Anweisung Luft machen.

„Ich sagte dir doch Tomasin, nicht mehr und nicht weniger.“ Upper zwinkerte Tomasin mit leicht verschwörerischem Gesichtsausdruck zu.

„Tja, Linda“, begann Tomasin „dein Schatten besteht, genau wie dein Archetyp, aus drei Aspekten. Jeder Aspekt beinhaltet einen negativen Gegenpol zum Archetyp. Da ist zunächst als erster Schatten der Knauser.“

„Was?! Ich soll geizig gewesen sein?! Ich glaube jeder hier wird dir bestätigen können, dass ich alles andere war als das. Tomasin, das ist eine unverschämte Verleumdung!“

„Mensch, Linda! Jetzt reg dich nicht so auf. Ich sagte, ich hatte dir den Schatten des Knausers gegeben. Das heißt noch lange nicht, dass du ein Geizhals warst. Hast du eben nicht richtig zugehört, als Upper Hannah die Sache erklärt hat?!“

„Leute, hört auf euch so anzukeifen! Kommt mal wieder runter! Linda, Tomasin hat Recht. Aber ich erkläre es dir gerne noch einmal: Tomasin gab dir den Schatten des Knausers – ja. Ich hatte dir den Archetyp der hilfsbereiten Gönnerin mitgegeben – so. Du hattest in deinen ersten gut zwanzig Jahren nur deinen Archetyp gelebt. Nachdem du von Kanep deinen Schatten bekommen hattest, stand dir auch der Knauser zur Verfügung. Das hatte für dich zur Folge, dass dir auf einmal all die Leute bewusst wurden, die geizig waren. Sie sind dir sehr unangenehm aufgefallen. Du hast sie automatisch abgelehnt. Diese Geizhälse haben dir aber nur, na sagen wir mal“, Upper überlegte einen Moment „oh ja, das ist ein gutes Bild – sie haben dir einen Spiegel vorgehalten. Du hast in einen Spiegel geblickt und dort deinen Schatten des Knausers erblickt. Der hat dich so sehr erschreckt, dass du ihn erst mal für dich als Trugbild verleugnet hast. Mit der Zeit, und mit Hilfe deiner Erinnerung an Zuhause, hast du dieses Trugbild aber als deinen Schatten erkennen können und ihn akzeptiert. Von diesem Zeitpunkt an sahst du andere Knauser als das an was sie waren – nämlich einfach nur Geizhälse. Sie störten dich nicht mehr, weil sie keine Resonanz mehr bei dir fanden. Indem du deinen Schatten akzeptiertest, hattest du diesen Anteil in dir erlöst, im Sinne von aufgelöst. Verstehst du? Du warst immer die hilfsbereite Gönnerin – auch mit dem Schattenaspekt des Knausers in dir. Du hast die Sache mit deinem Schatten nur leider mit deiner Ankunft hier

wieder vergessen.“

„Ach so! Ich glaube, jetzt habe ich es verstanden.“

„Okay, kann´s weitergehen?“

„Ja, Upper.“

„Na endlich!“ seufzte Tomasin. Er begann schon vor Ungeduld seine Augen zu verdrehen. „Der Knauser also, er will nichts geben – meistens zumindest. Das, was er besitzt, ist so etwas wie ein Abgott für ihn. Er wähnt sich mit seinem Besitz leider in einer trügerischen Sicherheit. Denn nichts ist von Dauer. Der Besitz kann schnell, durch unvorhersehbare und unkontrollierbare Umstände, fort sein. Geizig zu sein macht einsam, denn die Sorge und die Aufmerksamkeit um den Besitz verhindert wahre Verbindung mit dem Umfeld. Knauser werden praktisch von ihrem Besitz besessen, ohne es selbst zu merken.“

„Ja, genau. Das waren genau die Menschen, die ich nicht mochte. Sie waren auch so kalt und so verknöchert in ihrem Herzen. Brrr!“ Linda schüttelte sich bei der Erinnerung an diese Menschen.

„Dein zweiter Schattenaspekt“, fuhr Tomasin fort „war der der Verbergerin. Du solltest dich fürchten und glauben, dass du deine Aufgabe alleine erfüllen müsstest - ganz ohne Hilfe von anderen. Wenn du diesen Aspekt gehabt hättest, hättest du dich vermutlich verborgen, weil dir die Erfüllung deiner Aufgabe als schier unmöglich erschienen wäre. Du hättest dich versteckt, weil du Angst vor deiner Berufung gehabt hättest, vor deinen Begabungen, deiner Macht und letztendlich vor dir selbst.“

„Wieso hast du ihn mir gegeben und mir dann gesagt, ich solle ihn zurücklassen?“

„Ähem, das sollte ein kleines Experiment sein, entschuldige bitte Linda.“ Verlegen versuchte Tomasin eine Ausrede zu finden. „Ich dachte mir, wenn du erst einmal ohne diesen Aspekt reisen würdest, also nur mit dem Archetypaspekt des Kraftstrotzenden – wer weiß, was dann passieren würde?“

„Ich habe die Verbergerin in mir jedenfalls nicht vermisst! Der Kraftstrotzende war prima“, triumphierte Linda.

„Aber ich – zum Donnerwetter nochmal!“, schimpfte Hannah. „Ich hatte eine Scheißangst!“

„Vor wem, vor mir etwa? Ich war doch nur deine Tochter!“

„Nicht vor dir – vor deinen Fähigkeiten! Du warst von Anfang an anders als deine Geschwister: gewitzter, aufgeweckter, schlauer, wissender. Ich hätte mir was von der Verbergerin in dir gewünscht. Das hätte mich beruhigt. Selbst die Hebamme damals in der Geburtsklinik hat direkt über dich gesagt, ´du seist eine andere Sorte´.“

„Hannah, wie meinte sie das?“

„Sie meinte du wärst anders als deine Geschwister, die sie auch auf die Welt geholt hatte.“

„War die eine von deinen Notfall-Seins, Upper?“

„Yep! Jemand musste drauf aufmerksam machen. Hat aber leider nicht gereicht“, gab Upper zu.

„Okay, Schwamm drüber. Erzähl bitte weiter Tomasin. Welcher ist der dritte Aspekt?“

„Gestatte mir zuvor bitte eine Frage Linda: „Wie war das für dich, als Kanep dir den Schatten brachte und du die Verbergerin in dir hattest?“

„Nun ja, ich glaube mich zu erinnern, dass ich Menschen doof fand, die von sich überzeugt waren. Lange Zeit vermutete ich, ich sei neidisch auf sie. Ich konnte sie einfach nicht leiden, diese präsenten, erfolgreichen Typen. Ich selbst versteckte mich tatsächlich. Meine Größe und meine Fähigkeiten, die ich an mir entdeckte, ängstigten mich auf einmal selber. Doch dann half mir Kanep in den Spiegel zu sehen und diesen Schattenaspekt zu entlarven. Danach wurde alles gut.“

„Das ist sehr interessant, danke. Ah ja, der dritte Schattenaspekt ist die Gierige. Dieser Aspekt verhindert Erfolg und Glück. Als Gierige gerätst du automatisch in einen Suchtkreislauf: du bist mit dir nicht im Reinen, magst dich oder deine Lebens-Situation nicht – dann gibst du dich deiner Hab-Gier hin – darauf folgen dann Schuldgefühle oder Scham – deshalb verachtest du dich dann selber – und dann beginnt der Suchtkreislauf von vorne.

„Was heißt denn Hab-Gier? Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals gierig gewesen zu sein.“

„Bist du nicht?! Denk mal genau nach, Linda! War da nicht was mit Essen und Trinken?“

„Wieso? Gilt in deinen Augen Genuss denn auch als Gier?“

„Nun ja, es kommt darauf an, in welchem Maß das geschieht. Bei dir hatte ich zeitweise schon Bedenken, ob es noch Genuss oder schon Gier war. Ein `zu viel haben wollen` bedeutet automatisch, dass du über ein gutes Maß hinaus schießt. Meiner Ansicht nach hast du dich so manches Mal hart an dieser Grenze bewegt – gerade, wenn du mal wieder an den Rand deiner Kräfte gelangt warst. Da hatte ich schon das ein oder andere Mal die Befürchtung, dass du in einen Suchtkreislauf geraten könntest.“

„Wie jetzt, Sucht? Wieso Sucht, Upper?! Ich habe nie zu Drogen gegriffen. Das musst du doch wissen! Heroin, Kokain, Designer-Drogen und wie sie alle heißen habe ich von jeher abgelehnt.“

„Und was ist mit einem Gläschen Wein – oder zwei, drei? Mit Gänsebraten, Schweinshaxen, Torten oder holländischen Gewürzkeksen? Gab es da nicht reichlich Gelegenheiten, etwas mehr als üblich davon zu nehmen? Erfüllte das nicht den Tatbestand der Völlerei – na? Aber gut, ich will mal nicht so sein und ein Auge zudrücken, Linda. Du warst ja letztendlich auch nur ein Mensch. Worauf ich eigentlich hinaus wollte war, dass all das, also wenn du den Schatten der Gierigen lebst, dass dich das vom wahren Genießen des Lebens abhält. Im Übrigen kann der Mensch nach vielen verschiedenen Dingen gierig sei. Das bezieht sich nicht allein aufs Essen und Trinken. Du kannst nach so ziemlich allem gierig sein. Da gäbe es zum Beispiel noch Geld, Sex, Bewundert-Werden, Aufmerksamkeit, Medikamente, Computerspiele, Sammeln von Dingen und noch viel, viel mehr. Mit allem kannst du den Schatten der Gier ausleben.“

„Ich verstehe, Upper. Kanep brachte mir auch diesen Schattenaspekt. Deshalb kam ich plötzlich mit diversen Suchtpotenzialen in Kontakt. Zum Glück habe ich beizeiten diesen Aspekt im Spiegel erkennen können. Puh, da hab´ ich aber Schwein gehabt!“

„Ja Linda, auch ein Quäntchen Glück gehört immer dazu“, fügte Upper noch zu. „Der rechtzeitige Blick in den Spiegel hat dich schlussendlich vor echter Sucht bewahrt.“

„Danke. Und jetzt, Tomasin, erzähl mir bitte noch, welchen Schatten du Kanep mitgegeben hattest.“

„Ach komm schon Upper, muss ich wirklich?“ Tomasin sah Upper flehentlich bittend an.

„Auf jeden Fall Tomasin. Ich hab´s Linda versprochen.“

„Och nö!“

„Keine Widerrede Tomasin! Los, fang an!“

„Gut Linda, dann erzähl ich dir das eben auch noch: Kanep hatte natürlich auch einen Schatten mit drei Aspekten von mir bekommen. Der erste Aspekt …“, Tomasin stockte. Von allen unbemerkt standen plötzlich ganz in der Nähe von Tomasin zwei Personen und spitzten die Ohren. „Ja bitte?“, forderte Tomasin die beiden auf sich zu erklären.

„Och nichts. Wir wollten nur mal hören, was du so über unseren Sohn, den wir auf der Erde hatten, zum Besten geben wolltest.“

„Zum einen gebe ich nichts zum Besten, zum anderen bin ich mir gar nicht so sicher, ob euch das überhaupt was angeht!“ Tomasin reagierte sehr ungehalten auf die beiden. Ratsuchend schaute er Upper an. Der verdrehte aber nur genervt seine Augen. Also musste Tomasin deutlicher werden: „Nun sag du doch auch mal was, Upper! Schließlich hörst du es zu gerne, wenn alle dich Bibo – Big Boss – nennen. Nun benimm dich auch dementsprechend! Sag´ was!“

„Na gut Tomasin: Wieso seid ihr jetzt schon hier?“

„Du kennst die beiden?“ Tomasin wunderte sich, wie gleichgültig Upper tat.

„Ja, natürlich! Ich kenne alle hier. Ich hatte den beiden Anweisung gegeben herzukommen, wenn Kanep eintrifft. Das sind tatsächlich Kaneps Eltern, in seiner gerade abgelaufenen Erdenzeit gewesen. Das sind Olaf und Gisela. So hießen sie auf der Erde.“

„Ja, ich kenne sie natürlich auch“, fügte Linda hinzu. „Sie waren meine sogenannten Schwiegereltern gewesen.“

„Ach ja“, meldeten sich nun auch Erhard und Hannah zu Wort. „Wieso seid ihr hier und nicht am Ankunftsplatz, um Kanep in Empfang zu nehmen?“

„Upper hatte uns angewiesen hierher zu kommen“ beteuerte Gisela. „Er meinte, der Bericht von Linda und der von Kanep wäre für uns alle von Bedeutung. Die Geschichte der beiden sei so sehr miteinander verwoben, dass wir alle stark darin verstrickt wären. Wo ist unser Sohn übrigens?“

„Genau, wo bleibt Kanep nur?“, wunderte sich auch Upper.

„Der quatscht bestimmt noch mit Fridolin“, vermutete Linda. „Ich kann mir vorstellen, die beiden trödeln rum und führen „wichtige Männergespräche“. Ihr müsst wissen, Kanep hat da einen enormen Nachholbedarf und außerdem bestimmt auch eine Menge Fragen an Fridolin. Schließlich hatte er keine Erinnerung an sein Zuhause und seine Aufgabe, als er auf die Welt kam.“

„Wieso Fridolin?“, wunderte sich Gisela. „Der ist doch hier.“

„Ihr habt die Erklärung vorhin ja nicht mitbekommen“, begann Tomasin: „Jeder, der auf die Erde reist, bekommt seinen eigenen Fridolin an die Seite gestellt. Er ist sozusagen euer Reiseleiter, der unter anderem auch die Reisezeit beendet.“

„Ach soooo?! Gemeiner Kerl! Wenn du das kannst, dann kannst du bestimmt auch das Leben verlängern. Warum hast du mir und Olaf nicht die ewige Jugend gegeben?“, beschwerte sich Gisela leise, aber dennoch vernehmlich. Fridolin äußerte sich nicht dazu. Er tat so, als hätte er Giselas Beschwerde überhört.

„Da! Da ist er!“ Linda hatte Kanep als erste bemerkt. Plötzlich tauchte er neben ihr auf. „Da bist du ja, mein Liebster – endlich!“

„Gott sei Dank, ich hab´ dich wieder Linda. Jetzt ist alles gut!“ Kanep war seine Freude und Erleichterung förmlich ins Gesicht geschrieben. Plötzlich aber verfinsterte sich seine Miene. „Was wollen die denn hier?! Ich dachte, ich hätte endlich meine Ruhe und meinen Frieden!“

Linda versuchte Kanep zu beruhigen. „Bald, mein Lieber, bald wirst du deine Ruhe vor ihnen haben und Frieden finden. Weißt du, Upper hat unsere Eltern und meine Großeltern hierherbestellt, damit sie unseren Bericht über unsere Erdenerfahrungen hören sollen. Ich kann mir vorstellen, der eine oder andere wird das bestimmt nicht so toll finden.“

„Das glaube ich auch Linda“, pflichtete Kanep Linda bei. „So wie die unseren Blicken ausweichen und verschämt auf den Boden gucken, sehen sie eher aus, als wünschten sie sich besser nicht hier sein zu müssen. Linda, wer ist denn der bucklige Mann, der da vorne neben der ollen Martha steht?“

„Das ist mein Opa, Kanep!“

„Ach der ist das! Na warte! Du verdammter Kerl! Du hast Glück, dass wir uns bisher nie begegnet sind.“ Kanep drohte ihm mit seiner Faust.

„Na, na, nimm dich zusammen!“ Upper rief Kanep zur Ordnung auf. „Ich weiß, du bist noch voller Quod, aber das gibt dir keinen Freischein! Du bleibst mal schön bei Linda und beruhigst dich. Ach ja, Kanep, du kommst übrigens genau zum richtigen Zeitpunkt. Tomasin wollte Linda gerade berichten, welche Schattenaspekte er dir bei deiner Abreise gegeben hatte. Nun Tomasin, fang endlich an!“

„Na endlich“, stöhnte Tomasin erleichtert. „Wo war ich noch stehengeblieben? Ach ja, ich hab´s wieder! Der erste Aspekt deines Schattens, Kanep …“ Wieder brach Tomasin ab. „Was tuschelt ihr denn da?! Linda! Kanep! Ich muss doch bitten!“

„Tschuldigung, Tomasin. Ich hab` Kanep nur rasch die Sache mit dem Schatten und seinem Archetyp erklärt. Bin schon fertig damit!“

„Ähem“, mit deutlichem Unmut über die ständigen Unterbrechungen, fuhr Tomasin fort: „Sein erster Schattenaspekt ist der, der Domina.

Er beinhaltet etwas sehr Vernichtendes. Der Schatten besitzt Aspekte von Zorn und anarchistischer Kraft. Im Domina-Aspekt besteht man darauf, dass sich alles in der Welt nur um einen selbst dreht. Man ist herrisch und überheblich, launisch, genussversessen und fordernd. Es kann sogar sein, dass man grausam, hartherzig und rücksichtslos handelt. Wenn ein Mann den Aspekt der Domina hat, überträgt er diese Eigenschaften gerne auf Frauen in seiner Umgebung. Besitzt der Mann selber einen relativ hohen weiblichen Anteil, kann es sein, dass er diesen Aspekt sowohl weitergibt als auch selber lebt.“

„Oje!“ Kanep fuhr fürchterlich zusammen. Viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. „Deshalb war das also …, darum war ich … - jetzt wird mir einiges klar.“ Kanep schwieg, schüttelte aber immer wieder unwirsch seinen Kopf, während er augenscheinlich nachdachte.

„Kaneps zweiter Aspekt“, setzte Tomasin ungeachtet Kaneps Reaktion fort „ist der des Bedürftigen. Der Bedürftigen-Aspekt ist ein Schatten der Schwäche. Derjenige, der diesen Aspekt auslebt, hat oft Furcht vor sich selbst, vor seiner Größe, vor seiner Lebensaufgabe, vor anderen und Angst davor Entscheidungen zu treffen und seinen eigenen Weg zu gehen. Er tut sich schwer damit, Verantwortung für sein Leben und für sich selbst zu übernehmen. Wegen seiner vermeintlichen Schwäche, wegen hypochondrischer Episoden oder wegen seiner Verletzung…“

„Zum Beispiel: Vernachlässigung durch die Eltern“, Fridolin schaute Gisela und Olaf streng an.

„…meint er“, setzte Tomasin fort, „andere müssten sich deshalb besonders intensiv um ihn kümmern. Gleichzeitig lehnt der Bedürftige aus falschem Stolz heraus andere aus seiner Umgebung oder gar sich selber ab, sodass es zu einer fortlaufenden Verkettung von Disputen kommt.“

„Sonst noch was?! Du hast aus mir einen Freak gemacht! Du bist ein ganz gemeiner Kerl Tomasin!!!“ Kanep war frustriert. Verzweifelt verbarg er sein Gesicht in seinen Händen. Niemand sollte mitbekommen, wie er mit seinen Tränen rang. Tomasin schien das wenig zu berühren. Er blickte in die Runde und schien sogar Lob für seine getroffene Auswahl des Schattens von Kanep zu erwarten. Doch die Anwesenden starrten ihn nur entgeistert mit großen Augen und geöffneten Mündern an. Sie konnten nicht fassen, was sie da zu hören bekamen. Einige fingen an nachzudenken. Sie fragten sich, welchen Schatten Tomasin ihnen womöglich damals mitgegeben hatte, als sie zur Erde reisten.

„Gisela fasste sich ein Herz: „Tomasin, ich frage mich, welchen Schatten du mir damals mit auf den Weg gegeben hast? Wenn ich mir so anhöre, was du meinem Sohn angetan hast, frage ich mich, welche Gemeinheit du dir für mich ausgedacht hattest?“

„Gisela, das sind keine Gemeinheiten“, verteidigte sich Tomasin. „Dem ein oder anderen scheint das mies oder ungerecht vorkommen, aber glaubt mir, ich mach das nicht zu meinem Vergnügen. Ich wähle jeden Schatten mit Bedacht aus - quasi maßgeschneidert auf eure gewählte Aufgabe. Wenn ihr mir nicht glaubt, Upper wird euch das bestätigen.“ Wieder schaute Tomasin hilfesuchend zu Upper hinüber.

„Ja, es stimmt, was Tomasin sagt. Er ist ein ehrenwertes Mitglied unserer Triade, genau wie ich es bin und natürlich Fridolin auch. Ihr könnt unserer Triade vertrauen. Habe ich euch je belogen oder im Stich gelassen?“

Linda zweifelte an Uppers Worten. „Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Auf der Erde habe ich mich von dir oft verlassen gefühlt, Upper.“

„Papperlapapp! Das war die pure Einbildung eines Menschen. Glaub mir, niemals verlasse ich, Upper, der Bibo, eins meiner Seins. Wenn ihr das Gefühl der Verlassenheit gespürt haben solltet, so lag das nur an eurer Aufgabe. Linda, ich möchte hier gar nicht anzweifeln, dass du dich eventuell von mir verlassen gefühlt haben könntest – das mag sein – aber glaube mir, ich war immer bei dir. Du hattest dich bei deiner Abreise entschieden diese Erfahrung zu machen.“

„Du willst damit sagen Upper, ich wollte das spüren? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“

„Doch, doch, glaub´ s nur.“

„Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Eins will ich dir aber sagen: Ich habe arge Zweifel!“ Tiefes Schweigen senkte sich in die Debatte.

Gisela nutzte die Gunst der Ruhe. „Sag mal Upper, verrätst du mir auch, welchen Schatten ich von Tomasin bekam?“

„Tut mir leid Gisela, das kann natürlich nur Tomasin selber tun. Ich bin für den Archetyp zuständig. Aber von meiner Seite aus, habe ich nichts dagegen. Allerdings verhält es sich so, dass es Lindas Erfahrungsbericht ist. Ausnahmsweise habe ich wegen ihres besonderen Lebens zugestimmt, diese internen, vertraulichen Dinge preiszugeben. Da musst du deshalb Linda fragen.“

Linda wartete erst gar nicht Giselas Frage ab. „Eigentlich hast du es gar nicht verdient Gisela. Aber ich denke, es ist wichtig für mich, von allen an meinem Leben beteiligten hier, sowohl von ihrem Archetyp als auch von ihren Schatten Kenntnis zu erhalten. Nur so klärt es sich für mich - glaube ich. Da ihr nun mal alle hier seid, habe ich nichts dagegen, wenn ihr zuhört. Mir geht es ums Aufdecken. Ich will wissen, was in meinem Leben auf der Erde los war. Ich will Gerechtigkeit und Genugtuung – für mich und für Kanep. Ich fühle mich schändlich betrogen, belogen, verraten und hintergangen. Ich kann natürlich nur für mich sprechen, aber ich denke, Kanep ergeht es ähnlich – oder?“ Linda schaute Kanep an. Betrübt stand er neben ihr und blickte immer noch auf den Boden. „Linda traut sich was“, dachte er. „Bietet dem Bibo die Stirn und beginnt hier alle bloßzustellen“. Dennoch, Kanep war ungeachtet seiner eigenen Frustration überwältigt, wie taff Linda versuchte, ihre Angelegenheiten zu klären. „Ich wusste ja schon auf der Erde, wie wütend und aufgebracht du warst, als du einige Dinge über deine Familie herausgefunden hattest. Dass du jetzt tatsächlich deine Ankündigung wahrmachst, das hätte ich dir, ehrlich gesagt, nicht zugetraut Linda. Chapeau, Linda, alle Achtung!“ Kanep war seine Bewunderung anzusehen. „Natürlich bin ich auch jetzt ganz bei dir, mein Schatz. Ja, auch ich möchte wissen, was bei mir im Leben los war – wenn ich darf?“

„Nicht ganz so Kanep“, antwortete Upper. „Bei dir kann ich nicht so tiefgreifend auf dein Leben eingehen, wie ich es bei Linda tue. Lindas besondere Umstände betrafen dich zwar auch, denn du warst zwangsläufig involviert und du hast dich auch sehr für Linda eingesetzt, doch Linda, ist die Hauptperson.“

Linda trat Upper entgegen „Da gebe ich dir zwar Recht Upper, aber bedenke, Kanep und ich sind etwas mehr als siebzig Erdenjahre den Weg durchs Leben dort gemeinsam gegangen. Da hat er aus meinem Gerechtigkeitsempfinden heraus auch ein Recht auf Klärung.“

„Nun gut, Linda“, stimmte Upper zu „ich mache dir einen Vorschlag: Du entscheidest, wer was und wie viel wissen darf. Aber ich behalte mir das Recht vor, einzuschreiten, wenn es zu viel wird – okay? Und eine Bitte noch an dich, nein, eine Anordnung von mir: Hör auf mit mir verhandeln zu wollen! Es steht dir nicht zu! Ich bin Chef, du bist Seins-Anteil!“

„Also wie du? Sind wir nicht alle Teil von dir?“

„Schweig!“, donnerte Upper los. „Sonst wirst du meinen Zorn spüren!“

Kanep knuffte Linda in die Seite. „Sei lieber still! Übertreib´ s nicht! Uppers Zorn ist schrecklich, das wissen wir doch aus dem großen Buch aller Bücher, das wir auf der Erde hatten.“

„Bin ja schon still. Aber das hier ist endlich meine Gelegenheit. Wenn ich meine Chance jetzt nicht nutze, gibt´s wieder keine Klärung für mich und ich muss noch einmal Erfahrungen auf der Erde sammeln. Und ich hab´ so was von keine Lust mehr darauf. Ich hab´ echt den Papp auf!“

„Kann ich verstehen, Linda. Ich auch. Wir zwei haben spannende Erfahrungen gesammelt. Ich glaube, nun ist es an der Zeit, dass wir beide in der Mitte hier verschmelzen. Jetzt darf´s dann gut sein.“

„Danke Kanep, dass du bei mir bleibst!“, flüsterte Linda.

„Habt ihr euch endlich wieder eingekriegt? Ich möchte weitermachen. Der dritte Schattenaspekt von Kanep steht noch an.“

„Bitte mach weiter Tomasin. Zuvor kündige ich noch an, dass im Anschluss, also wenn Tomasin und ich fertig sind mit Schatten und Archetyp, es Linda obliegt, über eure Aspekte zu berichten. Sie entscheidet, was preisgegeben wird. Ich, als Bibo, wache darüber. Das wird mir nämlich langsam zu bunt mit euch.“ Upper versprach sich durch seine Anordnung die Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Er sehnte sich nach Ruhe und Ordnung. Linda hatte mit ihrer kecken Art ein ziemliches Durcheinander angestellt. Vielleicht, so hoffte Upper, würde Linda zahmer werden, wenn er ihr für kurze Zeit etwas Macht verlieh.

„Danke, Upper.“ Tomasin war erleichtert. „Also hört: Kaneps dritter Schattenaspekt ist der des Eigenbrötlers. In diesem Aspekt gehört er keiner Gruppe an. Er ist ein Einzelgänger. Den Menschen ist so jemand im Allgemeinen suspekt. Sie sehen den Eigenbrötler als schwach oder gar gefährlich an, weil sie denken, dass jeder einer Gemeinschaft angehören muss. Allerdings ist das ein Trugschluss, kann ich euch sagen. Oft wird der Eigenbrötler deshalb zum Prügelknaben gemacht. Er wird häufig weggeschickt, abgewiesen oder herausgedrängt. In der Rangordnung steht er unten und wird als Außenseiter von der Gruppe häufig gemobbt. – So, das war´s von meiner Seite.“ Tomasin war froh am Schluss angelangt zu sein.

„Das ist ja ein dolles Ding! Da hast du mir was Schönes mitgegeben!!! Hättest es auch lassen können, Tomasin. War für´ n Arsch!“

„Kanep, ich muss dir da noch was beichten“, begann Linda vorsichtig. „Du hattest nicht nur deinen Schatten, sondern auch noch meinen bei dir, Kanep. Das musste ich dir unbedingt noch sagen. Da du jegliche Erinnerung an unser Zuhause hier verloren hattest, konntest du es nicht mehr wissen.“

„Auch das noch! Seid ihr eigentlich alle durchgeknallt?! Gibt´s vielleicht auch mal was Gutes für mich? Ich verlang ja nicht viel – nur ein klitze, klitze kleines Gutes.“ Kanep verdeutlichte mit dem Zwischenraum, den er von seinem Daumen zu seinem Zeigefinger bildete, die winzige Kleinigkeit an, die er meinte.

„Ja, das gibt es auch, Kanep. Upper wird gleich darüber berichten.“

„Na, da bin ich aber mal gespannt, was das sein soll!“

„Ich will dich mal nicht auf die Folter spannen, mein Lieber“, lenkte Upper ein.

„Überaus gütig von dir, Upper!“

Upper schaute über Kaneps impertinente Reaktion gnädig hinweg.

„Wie du mittlerweile weißt, beherbergt dein Archetyp drei positive Aspekte deines Seins. Du kannst sie als positiven Gegenpol zu den negativen Schatten-Aspekten sehen. Dein erster positiver Aspekt ist der der Majestät.

„Na, das hört sich ja schon viel besser an. Den lass ich mir gefallen!“

„Die Majestät strahlt eine wohlwollende Autorität aus. Sie hat den Anspruch hinter sich gelassen, dass sich alle und alles in der Welt um sie drehen müsse. Die Majestät besitzt Attribute von wahrer Macht und umsichtiger Klugheit. Sie ist einfühlsam, gewissenhaft und zuverlässig. Die Majestät sorgt für Frieden und Wohlstand.“

„Seht her, meine lieben Eltern: Das bin ich!“ Kanep freute sich, dass Upper seinen wahren Kern offenlegte.

„Ein weiterer Aspekt, Kanep, ist der des Salomonischen.“

„Salomon? Der Olle aus den Geschichten – wieso?“

„Nein Kanep, salomonisch, im Sinne von Fairness, Gerechtigkeit.“

„Ach so.“

„Der Salomonische liebt die Wahrheit. Er geht den Weg der Wahrhaftigkeit. Er weiß, was Anstand und Würde bedeutet. Er ist barmherzig und weise.“

„Stimmt genau! Tief in meinem Inneren war mir das immer wichtig.“

„Zum guten Schluss ist da noch der Aspekt des Liebenden.“

„Yep, prima!“

„Der Liebende liebt vollkommen, denn das, was er lebt, ist die Liebe. Die Liebe ist was sie ist. Sie lässt sich weder erklären noch begründen. Der Liebende geht mit seiner Geliebten eine tiefe Verbindung ein, die von Ebenbürtigkeit und Wohlwollen getragen wird. Es liegt dem Liebenden fern, den anderen besitzen zu wollen oder einen persönlichen Vorteil für sich zu erlangen. Er will seine Geliebte nur mit Liebe erfüllen. Durch seine Gabe, sie so tief zu lieben, kann er schon wären des Aufenthalts auf der Erde einen Vorgeschmack auf den Seins-Pool erlangen.“

„Das ist toll, Upper! Danke. Alle drei kann ich bestätigen. Zumindest zum Schluss hin, habe ich das mit Linda erfahren dürfen.“

„Upper“, unterbrach Linda die harmonische Stimmung. Linda befürchtete, Kanep könnte im Rausch der Erinnerungen zu viele intime Gemeinsamkeiten preisgeben. Deshalb intervenierte sie rasch: „Bevor du es bei all der Gefühlsduselei gerade vergisst, Hannas zweite Frage: Wie ist das, wenn man

mit zwei Schatten gleichzeitig auf der Welt ist?“

„Ach ja, damit endlich Ruhe ist. Es verhält sich so: Normalerweise reist ja jeder mit seinem Archetyp und seinem Schatten zur Erde. Bei Linda fehlte der Schatten, weshalb sie von allen anderen argwöhnisch betrachtet wurde. Das wisst ihr ja jetzt. Indem Kanep sowohl seinen Archetyp und seinen Schatten als auch Lindas Schatten dabei hatte, wurde auch er argwöhnisch betrachtet. Nur verhält es sich so: Im Leben eines jeden Menschen ist nur Platz für zwei Attributkombinationen. Entweder ein Mensch besitzt einen Archetyp mit drei Aspekten und einen Schatten mit drei Aspekten oder er hat zwei Archetypen oder zwei Schatten mit jeweils drei Aspekten. Anders geht es nicht. Ihr lebt selber auf der Erde auch in einer Trinität. Sie besteht dort aus eurem Sein mit eurer Aufgabe, eurem Archetyp und eurem Schatten. Damit ist eine Ordnung gegeben – das Prinzip der Trinität und der Polarität von positiv und negativ ist auch auf der Erde gewahrt. Kaneps Auftrag bestand zum Beispiel darin, Linda ihren Schatten zu bringen. Das hatte für ihn zur Folge, dass er bis zum Zeitpunkt der Übergabe keine Möglichkeit hatte seinen eigenen Archetyp zu leben. Fremder Schatten ist nur mit eigenem Schatten kompatibel, wenn er nicht zur Erfahrungsaufgabe dient. Kaneps Archetyp blieb sozusagen in seinem Gepäck verborgen.“

„Willst du damit sagen Upper, der arme Kanep lebte bis zu dem Zeitpunkt, als er Linda ihren Schatten geben konnte, ohne seinen Archetyp, also nur mit zwei Schatten, und demzufolge sechs Schattenaspekten?“

„Grundgütiger!“, entfuhr es Linda. „Mein armer Schatz, was hast du da auf dich genommen?“

„Mach dir keine Sorgen, Linda, wir beide haben das doch ganz gut hingekriegt.“ Kanep versuchte Linda zu beruhigen. Innerlich aber brach er gerade zusammen. „Was für eine Scheiße!“, dachte er insgeheim. „Wenn ich das Mädel nicht so lieben würde, würde ich ihr jetzt den Hals umdrehen“. „Nun wird mir jedenfalls einiges klar“, stellte Kanep fest. „Wie kam es überhaupt dazu? Warum hatte Linda ihren Schatten nicht dabei?“

„Das erzählt Linda am besten selber“, sagte Upper mit versöhnlicher Stimme. „Ich denke, sie sollte nun mit ihrem Erfahrungsbericht beginnen. Bist du soweit, Linda?“

„Ja, ich bin bereit, Upper.

Jetzt war es soweit, die Wahrheit sollte ans Licht kommen. Es duldete keinen Aufschub mehr.

Uppers End

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