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Begegnung mit dem Teufel

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„Wie konnte ihm das denn gelingen? Wenn ein Phantom-Sein doch so unnahbar und unberechenbar ist, dann ist derjenige, der darin lebt auch unbesiegbar – oder habe ich da was falsch verstanden“, fragte Max. Die Sache mit dem Phantom-Sein interessierte ihn sehr. Das fand er überaus spannend. Er malte sich aus, wie er damit irgendwann einmal als mächtiger Unbekannter die Menschheit beherrschen würde. Seine Fantasie schlug bei diesen Möglichkeiten, die sich da für ihn eröffnen könnten, geradezu Kapriolen.

„Max, vergiss es! Denk nicht einmal daran, mein Lieber. Das würde ich dir nie gestatten.“ Upper, der Max´ Gedanken hörte, denn das konnte er, bremste ihn sofort. „Glaubst du etwa, nach all dem, was in eurer Familie passiert ist, würde ich noch irgendjemandem von euch ein Phantom-Sein zugestehen? Das ist ein für alle Mal vorbei. Nie mehr soll das so sein!“

„Ist ja schon gut“, gab Max kleinlaut bei. Er fühlte sich ertappt. „Man wird ja wohl mal träumen dürfen.“

„Ja natürlich“, räumte Upper ein „aber die Sache ist zu ernst. Damit spaßt man nicht. Unterschätzt nie die Macht der Schattenseite!“ Upper mahnte mit erhobenem Zeigefinger während er bedeutungsvoll in die Runde

blickte.“

„Da muss ich Upper beipflichten. Begegnet den Schatten mit größtem Respekt!“ Auch Tomasin fühlte sich ob dieser Thematik gedrängt zur Vorsicht aufzurufen. Er wusste genau, wovon er sprach, denn schließlich oblag es seiner Sorgfaltspflicht die Schattenaspekte zuzuteilen. Besonders heikel war das immer, wenn ein Phantom-Sein zur Erde reiste. Da kam es auf bestmögliche Ausgewogenheit von Archetyp und Schatten an. Auf keinen Fall durfte der Schatten kraftvoller sein als der Archetyp. Wenn das passierte, könnte es schwerwiegende Konsequenzen zur Folge haben. Wie aus dem Nichts könnte ein Phantom-Sein dann unerwartet in Erscheinung treten und sich zu einem Despoten aufschwingen. Tomasin führte zur Verdeutlichung ein Beispiel an. Ihm war überaus wichtig, dass die Anwesenden die Gefahr, die von Phantom-Seins ausging verstanden. „Da gab es einmal einen gewissen Hitler. Das ist gar nicht mal so lange her. Erst lebte er im Verborgenen und träufelte schwachen Seins seine Ideologien ein. Als er genügend Seins auf seine Seite gezogen hatte, war seine Stunde gekommen – er ergriff die Macht über ein ganzes Land. Mehr noch: er strebte die Weltherrschaft an. Zum Glück gab es nichtsdestotrotz genügend starke Seins, die sich ihm entgegenstellten und ihn zur Aufgabe zwangen. Er konnte seine Niederlage nicht hinnehmen und beschloss deshalb auf eigene Faust nach Hause zu reisen. Eins hatte er aber vergessen: er handelte gegen Fridolins Zeitmanagement. Er trat die Reise nach Hause ohne Fridolins Führung an. Er fühlte sich selber berufen ein Führer zu sein. Ein fataler Fehler. So kam es, dass er sich auf dem Rückweg verirrte und im Nichts verschwand. Leider wurden seine menschenfeindlichen Ideen von den schwachen Seins auf der Erde, deren eigene Denkfähigkeit vom Ursprung her schon sehr eingeschränkt war, aufgegriffen. Es war demzufolge nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein Phantom-Sein mit unausgewogenem Gleichgewicht von Archetyp und Schatten zu Erde reisen würde und Hitlers entartetes Gedankengut wieder aufleben ließe. Denn auch nach Hitler, genau wie auch schon vor ihm, reiste ein Phantom-Sein mit Unausgewogenheit zur Erde und richteten Schaden an. Das muss ich leider zugeben. Es gibt Faktoren, auf die habe auch ich keinen Einfluss. So kann ich nicht vorhersehen, welche Aspekte letztendlich auf der Erde aufeinandertreffen werden. Natürlich kann ich sehr vieles im Vorfeld berechnen. Aber es bleibt immer ein statistisches Risiko von null Komma null eins Promille, bei dem ein mögliches Restrisiko besteht.“

„Wieso gibt es überhaupt dieses Phantom-Sein?“ Max sprach die Frage aus,

die sich auch alle anderen fragten. Ein allgemeines Murmeln erhob sich.

Alle Augen richteten sich auf Tomasin und erwarteten eine Antwort.

„Ich muss zugeben, das weiß ich auch nicht mehr so genau. Ich kann euch die Frage nicht wirklich beantworten. Aber ich glaube, dass Upper eine Erklärung dafür haben könnte. Nun Upper, kannst du mir, das heißt uns die Frage beantworten?“

„Ich kann es versuchen. Es gibt da eine Legende: Den Ort der Zeit ohne Zeit hat es nicht immer gegeben. Vorher – wie lange das auch immer her sein mag, das vermag niemand so genau zu sagen – existierte die Zeit vor der Zeit. Dort gab es weder unseren Ort hier, noch das Nichts, die Erde oder sonst etwas. Es gab nur sie. Sie war alles, das Ganze, alles in einem – ein einziges großes Sein. Doch dann gab es einen riesigen Knall, hervorgerufen durch eine mächtige Explosion, die das große Sein der Zeit vor der Zeit zerbersten ließ. Was war geschehen? Ein Quod fiel hernieder, von wo auch immer es hergekommen sein mag. Es traf das Sein und begann sich zu spalten. Zunächst zerbarst das Sein in sieben Teile: Mich (Upper), Tomasin und Fridolin. Tomasin und Fridolin hatten als erste Bewusstheit erlangt und checkten was los war. Sie sprangen alsbald beiseite. Ich allerdings konnte nicht fassen, was da geschah. Ich blieb wie angewurzelt stehen und bestaunte, wie Partikel um Partikel sich von einem vierten großen Sein-Teil lösten. Das war der Beginn unseres Zuhauses. Denn die Mehrheit dieser Seins-Partikel verblieb hier. Sie spezifizierten sich in die diversen Typen, wie zum Beispiel Forscher-Sein, Notfall-Sein, Phantom-Sein, Flexi-Be oder Neutros, die zu Füllmaterial taugten und so weiter. Tomasin, Fridolin und ich behielten unsere relativ große Partikeltextur. Es war sogar so viel, dass wir weniger Partikel vom großen Sein waren, sondern vielmehr komplexe Fragmente. Und dadurch, dass ich bei der Explosion nicht beiseite gesprungen war, prasselte ein heftiger Regen aus sich mehrendem Quod auf mich hernieder und reicherte sich in mir an. So geschah es, dass ich der Bibo wurde.

Aus einem fünften Teil formte sich die Erde so, wie wir sie heute noch kennen. Das sechste Stück implodierte und entwickelte sich kurz darauf zum Universum, das die Erde umgibt. Der siebte Teil des ehemals großen Seins beherbergte als letzter noch eine Menge der Explosionsenergie. So kam es, dass die Energie der Implosion auf die der Explosion traf und daraus das Nichts entstand. Damit war unser heutiges System geboren. Als wieder Ruhe eingekehrt war, ich einiges geregelt hatte und sich alles in einer neuen Ordnung befand, begannen die ersten Forschungsreisenden die Erde zu erkunden. Man beschloss nach ihrer Rückkehr, dass die Erde fortan ein Erfahrungsplanet für die Seins sein sollte.“

„So war das also, Upper. Das war ein Unglück und eine Verkettung von Zufällen“, stellte Kanep fest. Wie immer war er derjenige, der Uppers Darstellung als erster verstand und meinte zuordnen zu können.

„Nein Kanep, nicht ganz. Ich glaube heute, dass das eine große Sein es selber herbeigeführt hatte, indem es per – na, ich nenn es mal Gedankenenergie konzentrierte Materie, nämlich ein Quod erzeugt hat und somit den Explosionsimpuls auslöste. In der Legende heißt es zwar, dass niemand weiß, woher das Quod kam, doch ich bin davon überzeugt, dass es nur vom großen Sein selber gekommen sein kann.“

„Aha, das ist aber eine gewagte Theorie, die du mir da auftischst, Upper. Meinst du nicht, wir sollten doch besser die Gesetze der Astrophysik für die Erklärung heranziehen?“

„Kanep, das ist ja mal wieder typisch für dich! Zweifelst du mich an?“

„Ja. Das hieße ja, dass das große Sein einen Plan hatte. Warum sollte es so was tun?“

„Ganz einfach: ihm war langweilig. Es hatte Lust auf ein Experiment. Das kann ich sogar nachvollziehen. Stell dir mal vor, wie es ist, wenn du immer nur mit dir alleine bist. Das muss doch furchtbar sein!“

„Das meinst du. Für mich ist das eine ganz nette Vorstellung. Nur Kanep mit sich allein – ohne irgendwelche anderen Quatschköppe. Och, das ließe ich mir gefallen.“

„Für immer? Und im Bewusstsein, dass die Ganzheit so viele Aspekte hat und diverse Möglichkeiten bietet? Kanep, meinst du nicht, es würde dich da nicht auch reizen diese Möglichkeiten auszuprobieren?“

„Hmm … nun ja, Upper, das könnte schon sein. Wenn ich mir so überlege, wie spannend die Leben mit Linda waren – ich glaube, da hast du doch Recht. Auf Dauer würde es ganz schön öde werden können. Wahrscheinlich würde ich es irgendwann ähnlich machen, und dann natürlich auch nach meinem Plan.“

„Siehst du?“

„Können wir jetzt wieder zu Max´ Frage zurückkehren?“ Linda war der Diskussion zwischen Upper und Kanep überdrüssig. Sie kannte ihren Kanep zu genüge und wusste, wenn sie ihn jetzt nicht stoppen würde, würde er Upper immer tiefer in Diskussionen hineinziehen. Das würde wahrscheinlich so lange andauern, bis Kanep seine Auffassung der Dinge von Upper als die einzig richtige bestätigt bekäme. Vorher würde er keine Ruhe geben. Aber es ging hier schließlich um sie. Linda war diejenige, die den Bericht über ihre Erfahrungen auf der Erde erbringen musste. Kanep würde später noch genug Gelegenheit haben mit Upper zu diskutieren. Wahrscheinlich würde Kanep auch Fridolin und Tomasin mit ins Boot holen. Linda musste bei der Vorstellung schmunzeln. Kanep und Upper und Tomasin und Fridolin, gemeinsam in einer Diskussionsrunde. Linda war bei dem Gedanken auch ein bisschen stolz auf Kanep und freute sich für ihn. Endlich hätte er mal wieder interessante Gesprächspartner mit hohem Niveau.

Upper bat Max seine Frage zu wiederholen. Also begann er: „Wie kann es sein, dass Hans von Heinrichs Schatten ergriffen werden konnte, obwohl er ein beinahe unbesiegbares Phantom-Sein war?“

„Ach ja, genau das war deine Frage.“ Tomasin erinnerte sich wieder. „Das ist eine gute Frage Max. Tatsächlich ist ein Phantom-Sein beinahe unbesiegbar, denn man bekommt es kaum zu packen. Aber bei Hans war das möglich. Wie schon erwähnt, spielte Heinrich gerne mit den Kindern. Besonders gerne spielte er mit dem kleinen Hans, dem Stammhalter der Familie. Wann immer es möglich war, packte er ihn und kitzelte ihn durch. Berührte ihn hier und bald dort und ließ keine Stelle aus. Heinrich konnte seine Finger nicht von Hans lassen. Immerzu musste er ihn befummeln. Wenn sie alleine waren, spielte er mit Hans ein besonderes Kitzel-Spiel: Er kitzelte ihn an Körperstellen, die sonst niemand außer Hannah berühren durfte, wenn sie ihn badete. Deshalb war das ein großes Geheimnis zwischen Hans und seinem Opa. Keiner durfte davon erfahren. Hans fühlte sich zwar nicht wohl dabei, aber er musste es geschehen lassen, weil man lieb sein musste zu Opa. Außerdem hielt Heinrich den kleinen Hans jedes Mal so fest umklammert, dass es kein Entwischen für ihn gab. Hans war in Heinrichs Fängen. Es gab wirklich kein Entrinnen. Was sollte er tun? Es seiner Mutter sagen oder gar seinem Vater? Sagen, dass sein Vater seinen Sohn zwang Dinge zu tun, für die er, Hans, sich schämen musste? Und wem würde man glauben? Ihm, einem kleinen Jungen, der von solchen Sachen noch gar nichts wissen durfte oder Heinrich, seinem Opa und Papas Vater? Hans hatte Angst und diese Angst schwächte ihn immer mehr, je länger es andauerte. Nach einigen Jahren hatte Heinrich den kleinen Hans kaputtgespielt. Er hatte sein Ziel erreicht. Hans Sein war so geschwächt, das sein starker Archetyp an Kraft verlor und sein Schatten die Oberhand gewann. Dadurch konnten Hans´ Schatten und Heinrichs Schatten in Resonanz gehen. Als Heinrich mit Fridolin die große Reise zurück antrat, war das Werk vollbracht. Heinrich hatte Hans seinen Schatten übertragen, der nun in ihm weiter leben konnte.“

„Wie ging es danach weiter?“, wollte Linda wissen.

„Das weißt du selber, Linda. Das ist deine Geschichte. Wir würden jetzt gerne von dir hören, was bei dir geschah. Wie ging es für dich weiter, nachdem du dem Backofen entronnen warst?“

„Moment bitte, warte Linda“, unterbrach Hannah sie. „Linda, ich muss wissen, was da los war. Welche Schatten waren da im Spiel? Was ist mit meinem kleinen Hans passiert? Ich will´s wissen! Ich möchte, dass alles ans Licht kommt. Die Wahrheit – ich will die Wahrheit!“ Hannah flehte Linda verzweifelt an. Sie konnte nicht glauben, was sie da über Heinrich erfahren musste.

„Okay Hannah, ich sag´s dir, aber versprich mir eins: Lass bitte das, was ich gleich preisgebe, zunächst unkommentiert stehen. Hör einfach nur zu, denn es wird vorerst einen Teilaspekt der ganzen Geschichte beleuchten.“

„Wieso Teilaspekt? Gibt es denn da noch mehr?“

„Leider ja, und es wird dir nicht gefallen – keinem hier!“ Aus dem Augenwinkel konnte Linda sehen, wie Heinrich und Martha sich davonstehlen wollten. Rasch wandte sie sich ihnen zu. „Wo wollt ihr denn hin? Wollt ihr etwa abhauen? Das könnte euch so passen! Ihr kommt schön wieder her und hört euch an, was ich zu berichten habe!“

Heinrich und Martha blieben trotzig stehen, machten aber keinerlei Anstalten, wieder in die einberufene Versammlung zurückzukehren.

„Martha und Heinrich!“, donnerte Upper los, dass es nur so schepperte.

„Wollt ihr wohl gehorchen?“

„Was, der kleinen Göre da? Ist doch wohl nicht dein Ernst, oder?“

„Diese kleine Göre da, wie ihr sie so abschätzig nennt, ist Linda, ein großes, erfahrenes Forscher-Sein. Wagt es ja nicht und widersetzt euch ihr!“

„Ist ja gut, Upper. Die soll sich nur nicht so aufspielen. Pah, vom mickrigen Ding – oooh - zum großen Sein, so´ n Mumpitz!“ Martha versuchte Linda zu verhöhnen. Mit übertrieben gespielten Gesten, verbeugte sie sich vor ihr.

„Jetzt ist aber Schluss!“, donnerte Upper erneut los. „Kanep, sei so gut und hab ein Auge auf die beiden.“

„Klar doch! Das ist mir ein Vergnügen, Upper. Das Pack entwischt mir nicht – keine Sorge. Und schau mal, wen ich hier habe.“ Kanep hielt einen kräftigen weißgrau gemusterten Kater mit seinen beiden Händen in die Höhe. „Das ist Moritz! Na, Martha, kennst´ e den noch?“

Und ob Martha Kater Moritz kannte. Zu Lebzeiten auf der Erde konnten die beiden nicht gut miteinander. Martha stach häufig mit ihrer Gehhilfe nach ihm, wenn sie damals bei Linda und Kanep zu Besuch war. Und Moritz rächte sich dann, indem er seine Krallen ausfuhr und Martha kratzte. Meistens gelang es ihm aber sich aus dem Staub zu machen, bevor Martha ins Haus kam, denn eigentlich war Moritz ein friedlicher Kater, der keinem Menschen etwas zu leide tat. Als Moritz´ Leben dann zu Ende war und er hierher zurückkehrte, Martha war schon da, machte er etwas, das alle überraschte: Er hatte Linda auf der Erde oft denken hören: ´Na wartet, wenn ich eines Tages da oben bin´ , damit meinte sie ihr Zuhause in das sie nach ihrem Erdenleben zurückgehen würde, ´dann könnt ihr was erleben. Zieht euch am besten warm an, denn wenn ich komme, dann gibt es die große Abrechnung – das schwöre ich euch! ´. Moritz war damals traurig darüber, dass Linda so sehr unter den Machenschaften ihrer Familie, besonders der Großeltern, leiden musste. Deshalb erstattete er Upper einen Besuch und berichtete schon mal vorab, was er erfahren hatte. Das wiederum veranlasste Upper, Lindas Familie, die zum Zeitpunkt ihrer Ankunft da sein würde, einzubestellen, wenn es so weit wäre. Linda allerdings sendete er eine Botschaft. Wenige Stunden, nachdem Moritz die Erde verlassen hatte, brach ohne Vorwarnung ein heftiges Gewitter aus. Linda wusste sofort: das hatte mit Moritz zu tun. Er hatte schon mal eine warnende Ankündigung gemacht,

die an der richtigen Stelle angekommen war.

„Danke Kanep. Unser Moritz ist eine prima Verstärkung. Dann kann ich nun endlich loslegen und über die Schatten reden. Ich fange am besten mit Hans an: Hans´ Schatten beinhaltete den Schergen, den Tunichtgut und die Dirne. Demgegenüber stand sein Archetyp mit den Aspekten Kraftstrotzender, gute Fee und der Wohlwollende. Damit war Hans´ Phantom-Sein ausgewogen. Der Kraftstrotzende korrelierte mit dem Tunichtgut, die gute Fee mit der Dirne und der Wohlwollende mit dem Schergen. Doch dann begann Heinrich sein durchtriebenes Spiel. Er schaffte es, dass Hans´ Archetyp schwächer und schwächer wurde, denn seine Schattenaspekte waren genau richtig, um mit Hans´ in Resonanz zu gehen und sie zu verstärken. Es passte hervorragend. Heinrichs Schatten besaß die Aspekte des Hanswursts, des Denunzianten und des Killers. Der Hanswurst ging eine Verbindung mit dem Tunichtgut ein, die Dirne mit dem Denunzianten und der Scherge mit dem Killer. Gegen diese Macht kam Hans´ Archetyp schwerlich an. Trotzdem versuchte er es beständig. Hans befand sich fortan in einem unaufhörlichen Kampf zwischen Gut und Böse. Er zerriss den armen Kerl beinahe und hinderte ihn daran einen guten Stand im Leben zu erlangen.“

„Du Scheusal! Was hast du mit meinem Jungen gemacht?“, fuhr es aus Erhard heraus.

„Mit dir war doch nichts los“, antwortete Heinrich lakonisch. „Eine einzige Enttäuschung warst du für mich. Ein Neutro-Sein, was konnte ich damit schon anfangen?! Bestimmt nicht als mein Nachfolger.“

„Lass gut sein Erhard. Ich hab´ Linda versprochen ruhig zu sein. Sei du das bitte auch.“ Zähneknirschend hielt Erhard sich zurück, aber er nahm sich vor, bei nächst bietender Gelegenheit, würde er sich Heinrich vorknöpfen.

„So Hannah, das muss fürs erste genügen. Ich mach jetzt weiter mit meinem Bericht. Schließlich hat sich da noch einiges zugetragen, was erwähnenswert ist. Die Bekanntschaft mit dem Backofen war ein heilsamer Schock für mich gewesen. Von dem Moment an trank ich jedes Milchfläschchen, das man mir anbot, bis zum letzten Tropfen aus. Ich musste stark werden und ich wollte mich so frei bewegen und so rumlaufen können wie meine Geschwister. Nur, es war nicht so einfach, wie es mir vorgestellt hatte. Ich neigte mal wieder zur Übertreibung. Ich denke, das lag damals an meinem Archetyp. Upper hatte mir ja den Aspekt der hilfreichen Gönnerin gegeben. Das war natürlich in Ordnung, denn dadurch war es mir möglich, sofern meine bis dato erlangten Fähigkeiten es erlaubten, mich selbst zu versorgen. Das machte ich zum Beispiel, indem ich meine Milchfläschchen bis zur Neige austrank. Leider fehlte mir ein Gegenpol dazu. Meine Schattenaspekte waren ja noch gut behütet bei Kanep. Mithin fehlte mir der Knauser, der mein Essverhalten in ein vernünftiges Maß gebracht hätte. Also futterte ich munter drauf los. Zunächst war es Milch, bald darauf Brei und dann endlich, ich muss etwa zehn Monate alt gewesen sein, durfte ich die erste feste Nahrung zu mir nehmen. Wie war das herrlich! Dieses angenehm raue Gefühl groben Weißbrots auf der Zunge zu spüren war ein Erlebnis. Das war schon was anderes, als dieser Breiglibber, der entweder im Mund pappte oder viel zu schnell in meinen Schlund rutschte. Dieses Stückchen Brot war herrlich! Erst trocken, dann nasser, bald breiig, aber angenehmer als Brei es je für mich gewesen war – und dieser Geschmack – einfach fantastisch! Doch das allerbeste sollte noch kommen: Als Hannah bemerkte, wie sehr ich dieses kleine Stückchen Brot genoss, reichte sie mir ein weiteres. Dieses Mal hatte sie es auf einer Seite mit Butter und Leberwurst bestrichen. Nachdem sie es mir vorsichtig in meinen Mund geschoben hatte, erlebte ich geradezu eine Geschmacksexplosion. Dieses Stückchen Brot übertraf das erste um Längen. Es war köstlich! Dieser Geschmack von Brot und Butter und Leberwurst, und das Gefühl, wie sich das gröbere Brot mit dem Belag in meinem Mund vermengte und zu einer cremigen Masse wurde, das war toll. Seit diesem Zeitpunkt wollte ich keine süße Breipampe mehr essen.“

„Daran erinnere ich mich noch genau“, schmunzelte Hannah. „Du warst damals kaum satt zu kriegen. Du wolltest alles essen, was wir auch aßen. Nach und nach habe ich dich jeweils probieren lassen. Ich glaube, wenige Wochen später, als du etwa ein Jahr alt warst, habe ich dir gar keine Babynahrung mehr gegeben. Es machte keinen Sinn, denn du hast den Brei einfach wieder ausgespuckt. Da konnte ich schimpfen und machen, was ich wollte.“

„Ja, das Zeug war auch abscheulich. Süße Pampe, igittigitt! Wurst und Brot und Käse und Schinken und natürlich Butter – hmm, das waren die wirklich leckeren Sachen.“ Linda schwärmte immer noch bei dem Gedanken an diese

Leckereien.

Hannah erinnerte sich weiter: „Es machte mir Spaß, zuzusehen, wie es dir schmeckte. Ich hielt dir ein Stück frischen Gouda hin, und du hast mit Wonne hineingebissen. Wenn ich dich nicht gebremst hätte, hättest du den ganzen großen Block Käse aufgegessen. Es gab wenig, was du nicht mochtest. Wenn ich es so recht bedenke, war das nur Milchsuppe mit Haferflocken, Makkaroni in Milch gekocht mit Dörrobst und Rübenkraut. Da konntest du richtig wütend werden, wenn das auf den Tisch kam. Aber das waren glücklicherweise die einzigen Dinge, die du damals verschmäht hast. Jedenfalls musste ich mir endlich keine Sorgen mehr machen um dein Gedeihen. Deine Entwicklung ging prächtig voran.“

„Zu prächtig“, erinnerte sich Linda. „Bald war ich so dick, dass meine Speckrollen mich daran hinderten, mich so zu bewegen, wie ich wollte. Ich weiß noch, wie Ute und Hans mich gehänselt haben. Dicke, fette Fumm haben sie mich genannt und gelacht, wenn ich versucht habe mich am Tisch hochzuziehen, weil ich stehen wollte, es mir aber nicht gelang. Ich wurde fuchsteufelswild, wenn sie das machten. Meine Wut steigerte sich dann ins Unermessliche. Das hatte zur Folge, dass ich noch wütender wurde. Vor lauter Wut lief mein Gesicht rot an. Das nahmen die beiden natürlich zum Anlass, mich noch mehr zu ärgern. Ich hätte platzen können vor Wut. Rote, dicke, fette Pute nannten sie mich und lachten mich aus. Wenn unsere Mutter hinzukam, um nach dem Rechten zu sehen, rettete mich das auch nicht. Sie lachte einfach mit. Ich war stocksauer.“

„Das sah aber auch zu drollig aus, was du da so gemacht hast.“

„Drollig?! Ich glaub es hackt! Weißt du, wie das ist, wenn man sich nach Kräften bemüht, trotzdem scheitert und zum guten Schluss auch noch ausgelacht wird? Deine Hilfe hätte ich gebraucht. Ein paar aufbauende Worte hätte ich gebraucht. Deine fürsorgliche Begleitung hätte ich gebraucht – aber ganz bestimmt nicht das! Und genau das habt ihr immer und immer wieder mit mir gemacht. Egal, was ich auch vollbrachte, es war immer nur drollig. Keiner von euch hat jemals meine Leistungen gewürdigt – ganz im Gegenteil! Und wenn ich dann besser war als meine lieben Geschwister, dann war es erst recht nicht gut, denn das durfte auf gar keinen Fall sein. Weißt du noch Hannah, als du versucht hast, Hans den einfachen Dreisatz zu erklären? Ich weiß es noch genau. Hans ging schon fünf Jahre lang zur Schule, ich noch nicht. Ich sollte in einigen Monaten endlich eingeschult werden. Ich freute mich so sehr darauf. Nun ja, Hans brütete über seinen Hausaufgaben. Es wollte ihm nicht gelingen, seine Rechenaufgaben zu lösen. Du kamst ihm zu Hilfe und ich gesellte mich dazu, denn mir war langweilig. Also hörte ich zu: ´Peter hat zwölf Bonbons. Er möchte sie mit seinen beiden Freunden teilen. Wie viel Bonbons bekommt jeder von ihnen? ´. Ich weiß, ich weiß es, rief ich. Du schautest mich an, seufztest und schicktest mich weg. Ich war so stolz, die Lösung zu wissen, aber ich wurde von dir einfach nur missbilligend weggeschickt. Im Weggehen rief ich: vier! Ich ging enttäuscht ins Kinderzimmer und malte ein Bild. Mit Buntstiften malte ich Bäume, Gras, Pilze und mittendrin einen Hirsch. Ich fand das Bild wunderschön. Besonders schön fand ich meinen Hirsch mit dem großen Geweih auf dem Kopf. Als ich fertig war ging ich wieder ins Wohnzimmer. Hans hatte endlich seine Schularbeiten erledigt. Mittlerweile war auch Ute vom Spielen mit ihrer Freundin wieder zurück. Stolz präsentierte ich mein Gemälde. Ich wollte es Mama schenken. Doch statt Lob erntete ich Hohn. Ute und Hans prusteten sofort los, als sie meinen Hirsch sahen. `Wie sieht der denn aus? Hahaha, was hat der denn auf dem Kopf? Sind das Antennen? Nein, wie süß! Kann der die Kinderstunde im Fernsehen empfangen? Hahaha`. Auch du hast mitgelacht, Hannah.“

„Linda, jetzt stellst du dich aber was sehr an! So schlimm, wie du das machst war das nun auch wieder nicht! Wenn du das erlebt hättest, was man mit mir gemacht hat, dann hättest du Grund dich zu beklagen.“

„Das ist mal wieder typisch für dich. Immer musst du mich übertrumpfen wollen. Bei dir war immer alles viel schlimmer. Meins war nie schlimm genug, um überhaupt ernst genommen zu werden. Hannah, du hast da was gehörig verwechselt: Du warst meine Mutter und ich das Kind. Es war nicht meine Aufgabe, dich zu bemitleiden, sondern umgekehrt! Deine Aufgabe war

es für mich zu sorgen und mich zu beschützen – verdammt noch mal!“

„Was du wieder hast, Linda. Weißt du was, wenn du erst mal …“. Weiter kam Hannah nicht.

„Fängst du schon wieder so an? Lass es doch einfach sein!“

Hannah verschränkte beleidigt ihre Arme vor dem Körper.

„Ich bin hier das Opfer, sieht das denn keiner?“, murmelte sie leise.

Linda hatte das gehört. „Sicher sehe ich das. Ich sehe das Kind Hannah, das von seiner Familie nicht gut behandelt wurde. Das ist die eine Sache, aber das hat doch nichts mit mir zu tun. Ich brauchte Hannah, die Mutter, die sich um mich kümmert und es besser macht als ihre Familie damals. Manchmal denke ich, du wolltest aus mir eine Verbündete machen, die dich in deinem Leid bedauert. Habe ich Recht?“

Hannah schwieg.

„Also kann ich dein Schweigen als Zustimmung deuten?“

Hannah schwieg beharrlich weiter.

„Okay, lassen wir das! Wo war ich noch stehengeblieben? Ach ja, ich hab´s wieder: Ich wollte so laufen wie Ute und Hans. Also, ich ließ mich nicht frustrieren. Natürlich ärgerten mich die blöden Kommentare meiner Geschwister, und das andauernde Verniedlichen und Auslachen auch. Aber eines Tages gelang es mir dann: Ich konnte mich ganz alleine hinstellen und laufen. Zunächst war ich natürlich noch sehr wackelig auf den Beinen, doch ich übte fleißig und bald lief ich wie ein Döppken. Da lachte keiner mehr, denn ich zeigte es ihnen und lief allen davon. So zogen die Wochen ins Land. Bald war ich drei Jahre alt und konnte ziemlich viel von dem, was Ute und Hans konnten. Alles in allem war ich ganz zufrieden. Das sollte sich bald ändern, denn es geschah etwas Seltsames: Ich erkannte plötzlich die Menschen. Ich denke, das kam daher, weil ich mich nicht mehr so sehr auf mich selber konzentrieren musste. Ich beobachtete jetzt vermehrt meine Mitmenschen. Meine Bewegungsfähigkeit hatte ich ja mittlerweile gut erlernt. Die brauchte meine Aufmerksamkeit nicht mehr. Jetzt war was anderes dran. Ich vermute, meine Fähigkeit Menschen in ihrem Innersten zu erkennen, hatte ich aus meinem ursprünglichen Zuhause mitgebracht. Wahrscheinlich konnte ich das immer schon. Es war nur vollkommen aus meinem Fokus verschwunden, weil ich zu sehr damit beschäftigt war zu überleben und meine Bewegungsfähigkeiten zu trainieren. Nun, beides hatte ich gemeistert und nun waren meine „Antennen“ wieder bereit zu empfangen. Ich spürte, ob ein Mensch in seinem Inneren gut oder böse oder einfach nur leer war. Nicht, dass ich mich etwa bewusst darauf konzentrierte, es geschah vielmehr einfach so. Jemand begegnete mir und ich wusste, wie er war. Damals war mir gar nicht klar, dass ich damit eine besondere Gabe besaß. Daher sprach ich auch nie darüber. Ich sah keine Notwendigkeit dafür, denn ich dachte, wenn ich es ganz selbstverständlich wahrnehmen konnte, mussten es wohl alle anderen auch können. Erschreckt hat es mich trotzdem, denn der erste, den ich erkannte, war mein Opa Heinrich. Heinrich kam, wie er es häufig tat, an einem Vormittag zu uns, um Hannah zu fragen, ob er für sie Besorgungen machen sollte. Heinrich war damals schon arbeitsunfähig, sodass er Zeit hatte, Hannah zu helfen. Ich erinnere mich genau, Heinrich klingelte an unserer Wohnungstüre und Hannah öffnete ihm. Ich saß wenige Meter entfernt auf einem Stuhl an unserem Esstisch. Von meinem Platz aus hatte ich einen guten Blick auf die Türe. Als Hannah also die Türe öffnete, überkam mich plötzlich große Angst. Es wurde eng und dunkel in mir – ganz so, als hätte jemand das Licht in mir ausgeknipst. Ich starrte auf Heinrich. Er stand im Türrahmen - ein kleiner gebeugter Mann im dunkelgrauen Anzug mit gleichfarbigem Hut auf dem Kopf, dessen Krempe seine Stirn und seine Augen mit Schatten bedeckte. Ich hörte Hannah, wie sie ihn freundlich begrüßte und ihn bat hereinzukommen. Das tat er auch. Heinrich blieb einige Schritte vor mir stehen, hob seinen Kopf, sodass sein Gesicht ans Licht kam und guckte mich an. Ein eiskalter Schauer lief über meinen Körper. Da stand er - der Teufel! Aus stahlgrauen Augen, die zugleich kalt und funkelnd von innen heraus zu leuchten schienen, fixierte er mich mit seinen Blicken. „Na Kleine, hast du Lust mit mir zu gehen?“, fragte er mich. Beinahe hätte ich laut geschrien, machte es aber nicht und versteckte mich lieber unter dem Tisch. Hannah lachte. Das konnte ich gar nicht verstehen. Wieso? Wieso lachte sie und war freundlich zum Teufel? Ich war entsetzt. Bald erkannte ich warum: Als ich mich traute nochmals hinzuschauen, das war als Heinrich sich von Hannah verabschiedete, war es, als hätte sich eine freundliche Maske vor sein Gesicht geschoben. Ungläubig guckte ich ihn an. Er lächelte. Doch noch einmal zuckte kurz dieser kalte Blick auf, der schnell wieder verschwand. Ich konnte das alles damals nicht einordnen, zumal Hannah mich anhielt nett zu Heinrich zu sein: ´Du musst lieb sein zu Opa, hörst du Linda?!´“

Uppers End

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