Читать книгу Stürmische Zeiten auf Tobago - Birgit Read - Страница 5

Kapitel 1

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„Verdammter Idiot! Hurensohn! Ich hasse dich!“, spie Mila aus. Schluchzend warf sie sich auf das Bett im Hotelzimmer. Als nach unzähligen Tränen sowohl das Kopfkissen als auch ihr Gesicht mit schwarzen Wimperntuscheschlieren beschmiert waren, raffte sie sich auf und wählte die Nummer ihrer besten Freundin Julia. Eigentlich war Maria ihre beste Freundin gewesen. Bis vor fast genau zwei Stunden.

„Julia? Hast du Zeit?“, wimmerte Mila ins Handy.

„Was ist denn los?“

„Ich bin im Hotel Vier Jahreszeiten. Ich brauche dich. Bitte komm vorbei.“

„In einer halben Stunde bin ich da“, versprach Julia mit besorgter Stimme.

Es war ein schöner Maitag, die Sonne schien, und Mila war gut gelaunt einen Tag früher als geplant von einer Fortbildungsreise zurückgekommen. Sie hatte beim Bäcker angehalten, verlockenden Kuchen gekauft und sich auf einen gemütlichen Nachmittag mit ihrem Mann gefreut.

Bernd war freischaffender Künstler und arbeitete im gemeinsamen Haus auf dem Dachboden, in dem er sich ein Atelier eingerichtet hatte. Vermutlich würde er gerade malen oder sogar noch im Bett liegen, hatte Mila sich vorgestellt. Oft malte er die halbe Nacht und ging erst am frühen Morgen schlafen.

Warum sie ihn nicht vorher angerufen oder ihm eine Nachricht geschickt hatte, konnte sie sich im Nachhinein nicht mehr erklären. Möglicherweise war es weibliche Intuition gewesen oder einfach nur Schicksal. An diesem frühen Nachmittag war sie mit drei Taschen und dem Kuchen bepackt nach Hause gekommen. Schon als sie das Haus betrat, konnte sie förmlich spüren, dass irgendwas nicht stimmte. Die Taschen waren ihr wie von selbst aus der Hand geglitten. Den Kuchen konnte sie gerade noch retten und auf dem Sideboard im Flur ablegen. Die Stille des Hauses wurde plötzlich unterbrochen von leisem Keuchen, geflüsterten Worten und Kichern. Mila war den Geräuschen ins Schlafzimmer gefolgt. Mit zitternden und schweißfeuchten Händen hatte sie die Türklinke umfasst und leise heruntergedrückt. Durch den Türspalt konnte sie ihren Mann im Bett liegen sehen, nackt und mit einem entrückten Gesichtsausdruck. Über ihm thronte in eindeutiger Position und ebenfalls nackt ihre beste Freundin Maria. Nach dem ersten Schock hatte sie geistesgegenwärtig zwei Fotos mit ihrem Handy geschossen, sich umgedreht, im Vorbeilaufen ihre Taschen geschnappt – der Kuchen blieb liegen – und war aus dem Haus gerannt. Nachdem sie lange ziellos durch die Gegend gefahren war, stand ihr Entschluss fest. Sie fuhr zurück und packte wortlos einige der wichtigsten persönlichen Sachen ins Auto. Bernd und Maria wollten sie aufhalten und ihr eine Erklärung liefern. Aber Mila hörte nicht hin.

Es klopfte an der Zimmertür.

„Ich bin‘s“, hörte Mila die Stimme von Julia. Sie öffnete und fiel ihrer Freundin weinend in die Arme.

„Hey, Schnucki. Was ist denn los?“

„Bernd! Dieser … dieser … Hurensohn!“

Schluchzend zeigte Mila ihr die Fotos auf dem Handy.

„Sie war meine Freundin! Wie kann sie mir so was antun? Ich will gar nicht wissen, wie lange das schon zwischen den beiden läuft.“

„Puh – das ist heftig. Weißt du was? Wir gehen runter in die Bar und genehmigen uns einen Drink. Du erzählst mir alles, und wir überlegen, wie es weitergehen soll.“

„Mir ist eh alles egal. Hauptsache, ich bin nicht allein.“

Zwei Stunden, viele Tränen und einige Drinks später konnte Mila kaum noch die Augen offen halten.

„Mila, ich glaube, wir sollten ins Bett gehen.“

Julia nahm die schwankende Mila, die einige Longdrinks mehr als ihre Freundin intus hatte, fest in den Arm und schob sie in Richtung Aufzug.

„Juuuuliiii“, lallte Mila, „schab diiisch schoooo lieb.“

„Ich weiß. Aber du solltest jetzt schlafen gehen.“

„Sch möschte aber nisch.“

„Da ist der Aufzug, rein mit dir.“

„Nisch müüüde bnsch …“, wehrte Mila ab und fegte mit ihrem Arm durch die Luft.

„Komm, Schnucki.“ Julia schob Mila vor sich her.

„Juuulllliii …“, brachte Mila gerade noch heraus, bevor sie auf das Bett sank.

„Mila! Zieh dir erst noch die Hose und deine Bluse aus!“

Doch Mila schnarchte bereits. Julia zog ihrer Freundin die Schuhe aus und deckte sie zu.

Der nächste Morgen begann mit dumpfen Kopfschmerzen. Mila versuchte, die Augen zu öffnen. Gleißendes Licht stach wie glühende Nadeln in ihre Augen. Sie zog die Decke über den Kopf und öffnete in der Dunkelheit langsam ein Auge. Funktionierte. Sie öffnete das zweite Auge. Funktionierte ebenfalls.

„O Gott! Ich trinke nie mehr was“, stöhnte sie und hielt sich den Kopf.

Langsam hob sich ein Zipfel ihrer Bettdecke hoch und Mila sah in die Augen ihrer Freundin.

„Guten Morgen. Wie fühlst du dich?“

„Frag mich nicht.“

„Puh …“, stieß Julia aus und versuchte, die alkoholgeschwängerte Luft wegzuwedeln, die unter der Decke hervorquoll.

„Oooooooooooh … ich werde nie wieder Alkohol trinken“, jammerte Mila.

„Brauchst du auch nicht. Wir haben Bernd gestern in die Hölle geschickt. Da schmort er jetzt. Und du fängst heute ein neues Leben an.“

„Wenn das so einfach wäre“, murmelte Mila, wischte sich die Tränen weg, die ihr wie von selbst aus den Augen liefen, und zog sich die Decke wieder über ihren Kopf.

„Komm, steh auf. Ich habe einen Bärenhunger und möchte frühstücken.“

„Geh allein. Ich bekomme keinen Bissen herunter. Und ich will im Bett bleiben. Für immer!“

„Okay, dann bestelle ich Frühstück aufs Zimmer.“

Als eine Weile später der Duft von frischem Kaffee den Weg unter Milas Bettdecke fand, erwachten ihre Lebensgeister für einen Moment. Mila war eine Kaffeetante, wie sie im Buche stand. Sie konnte dieses köstliche Gesöff zu jeder Tages- und Nachtzeit trinken, ohne dass es sie am Schlaf gehindert hätte. Langsam hob sie die Decke an und lugte darunter hervor.

„Einen Kaffee würde ich trinken“, krächzte sie mit belegter Stimme und streckte erst ein Bein, dann das andere vorsichtig aus dem Bett.

„Dann musst du hierherkommen. Beweg dich!“

„Sei nicht so streng mit mir!“

„Doch, das muss ich. Ich will nicht, dass du dich hängen lässt.“

„Ach, Julia. Wenn ich dich nicht hätte …“, begann Mila. Dann hinderten sie die Tränen am Weiterreden. Es tat so weh. Ihr Leben lag in Scherben, und sie hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.

Mila fiel in ein tiefes Loch, ließ sich wegen Depressionen krankschreiben und vegetierte im Hotelzimmer vor sich hin. Der Fernseher lief rund um die Uhr. Sie verbrachte fast den ganzen Tag im Bett und aß kaum etwas. Der Bademantel des Hotels wurde zu ihrem einzigen Outfit, und die Schminkutensilien blieben unbeachtet im Bad liegen. Julia schaute jeden Tag vorbei, doch Mila schickte sie immer wieder nach Hause. Sie wollte nicht mehr reden. Sie wollte sich einfach nur leidtun und am liebsten sterben. Immer wieder betäubte sie sich mit Schlaftabletten, von denen sie viel zu viele nahm. Oft überlegte sie, einen Vorrat dieser Tabletten anzulegen. Wenn sie genug gesammelt hätte, könnte sie alle auf einmal nehmen, und alles Leid hätte ein Ende.

Julia sah sich den Zustand ihrer Freundin eine Weile an und gönnte ihr ein Portion Selbstmitleid. Doch als sich nichts besserte und Mila immer tiefer in die Lethargie rutschte, zog sie die Notbremse.

„So, Mila, du gehst jetzt duschen, machst dich ein wenig zurecht und ziehst dich an. Dann frühstücken wir ordentlich und haben später einen Termin.“

„Ich gehe nirgendwo hin. Lass mich einfach in Ruhe.“

„Und ob du mit mir gehst. Ich habe dich jetzt lange genug in Ruhe gelassen.“

Widerstrebend ließ sich Mila unter die Dusche schieben. Als das warme und erfrischende Wasser über ihren Körper lief, fühlte sich das besser an als gedacht. Sie duschte lange und ausgiebig. Julia föhnte ihr die Haare, schminkte sie und suchte ihr ein Kleid heraus.

„Wohin willst du mit mir gehen?“, fragte Mila, die nun doch ein wenig neugierig geworden war.

„Du hast einen Termin zur Wohnungsbesichtigung. Vielmehr zwei.“

„Wozu?“

„Wozu sieht man sich Wohnungen wohl an? Du kannst nicht ewig hier im Hotel wohnen.“

„Doch, kann ich.“

„Red keinen Unsinn, Mila. Reiß dich zusammen und komm jetzt!“

Die Freundinnen sahen sich einige Wohnungen an, bis sich Mila spontan für eine Dachgeschosswohnung mit einer kleinen Loggia entschied. Sie tapezierte, kaufte Möbel und Pflanzen, hängte Bilder auf, dekorierte und zog fünf Wochen später ein. In einem kleinen Brillenstudio in der Nähe fand sie einen Job in ihrem erlernten Beruf als Augenoptikerin, der ihr den finanziellen Weg in ihr neues Leben ebnete. Wegen Bernd konsultierte sie eine Rechtsanwältin und reichte die Scheidung ein.

Nachdem sie ihr Leben einigermaßen geordnet hatte, schmiedete sie Zukunftspläne. Ein Mann spielte hierbei keine Rolle.

Mila hüpfte gut gelaunt und frisch geduscht durch den Flur ins Schlafzimmer, ließ das flauschige türkisfarbene Badehandtuch zur Erde gleiten und betrachtete sich im Spiegel. In dem Jahr nach der Trennung von Bernd hatte sie viel Sport getrieben und dabei einige Kilos verloren. Ihre Fettpolster waren zu Pölsterchen geschmolzen, Kleidung konnte sie eine Größe kleiner kaufen, und zu guter Letzt hatte sie ihre Frisur radikal verändert. Statt der langen Mähne, die sie zu Bernds Zeiten aus Bequemlichkeitsgründen meist zu einem Zopf gebunden hatte, zierte seit zwei Tagen eine fesche Kurzhaarfrisur ihr Haupt. Fransig fielen ihre dunklen Haare in einem frechen Pony über die Stirn. Um ihre grünen Augen stilvoll zu betonen, hatte sie sich einen permanenten Lidstrich im Kosmetikstudio gegönnt.

Mehrmals drehte sie sich vor dem Spiegel, betrachtete ihren nackten Körper und war zufrieden.

„Ja!“

Mila hüpfte die Treppe des Amtsgerichts hinunter, wo sie vor einer Viertelstunde geschieden worden war. Sie war frei. Endgültig. Sie fingerte ihr Handy aus der Handtasche und schrieb Julia eine WhatsApp.

Endlich geschieden – Lust auf einen Kaffee?

Sekunden später kam die Antwort:

Wo soll ich hinkommen?

Mila fühlte sich leicht wie eine Feder. Das leidige Thema Bernd war nach über einem Jahr endgültig erledigt. Zwanzig Minuten später stieg Julia aus ihrem Auto und fiel ihrer Freundin in die Arme.

„Hey, Schnucki, lass dich umarmen! Du hast es endlich hinter dir.“

„Endlich frei. Ich könnte die ganze Welt umarmen.“

„Es reicht erst mal, wenn du mich umarmst. So – jetzt möchte ich einen Kaffee.“

Milas Zukunftspläne nahmen Gestalt an. Sie liebte die Karibik. Früher war sie auf fast jeder karibischen Insel im Urlaub gewesen. Doch ihr Herz schlug für Tobago. Hier zu leben und zu arbeiten, wurde zu ihrem großen Traum. Sie stellte sich vor, mehrere Gästehäuser für Individualurlauber und ein Haus für sich zu bauen. Sie hatte angefangen, Informationen zu sammeln, und war vor ihrer Scheidung zweimal mit Julia auf der Insel gewesen, um ihr theoretisches Wissen auf Umsetzbarkeit zu überprüfen. Inzwischen glaubte sie, dass ihr Vorhaben gelingen konnte.

Zwar sprach sie ein leidlich gutes Englisch, war sich jedoch nicht sicher, ob es reichte, um Verhandlungen mit Behörden und Handwerkern zu meistern.

Sie hatte recht schnell eine Freundin auf Tobago gefunden. Tianna, auf der Insel geboren, wohnte direkt neben dem Grundstück, das Mila ins Auge gefasst hatte. Sie half Mila, sich bei den zuständigen Stellen zu informieren, empfahl ihr vergleichsweise zuverlässige Bauarbeiter und Handwerker – auf Tobago nicht einfach – und vermittelte ihr den Kontakt zu einem Rechtsanwalt, der ihr helfen sollte, nicht in ein Mahlwerk aus missbräuchlicher Ausnutzung ihrer Unkenntnis der Landesgesetze oder Korruption zu geraten. Das Grundstück, das sich Mila ausgesucht hatte, war ihr durch ihren Anwalt für eine monatliche Pachtsumme reserviert worden. Das einzige Problem, das Mila noch zu bewältigen hatte: das nötige Geld für ihr geplantes Projekt zusammenzubringen. Sie hatte zwar gespart und wollte vor der endgültigen Auswanderung ihr komplettes Hab und Gut verkaufen. Aber sie wusste, das würde nicht ausreichen. Verschiedene Bankiers hatten bedauernd mit dem Kopf geschüttelt und ihr ausnahmslos Absagen für ein Bauvorhaben im Ausland erteilt. Da Mila außerdem mindestens ein Jahr ohne Einkommen auf Tobago auskommen wollte, bis sich ihr kleines Resort hoffentlich zu lohnen begann, blieben nur noch ihre Eltern, die sie um Geld bitten konnte. Falls die bereit wären, vorzeitig ihr Erbe auszuzahlen, hätte sie genügend Kapital zusammen. Doch dazu hatte sie erst ihre Scheidung abwarten müssen. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihr Ex Ansprüche auf dieses Geld anmeldete.

„Wie geht‘s denn jetzt weiter mit deinen Plänen?“, fragte Julia neugierig, als sie den zweiten Kaffee bestellten.

„Sobald meine Eltern mir mein Erbe auszahlen, werde ich meinen Anwalt auf Tobago beauftragen, sich mit dem Eigentümer des Grundstücks in Verbindung zu setzen und den Kaufvertrag vorzubereiten. Mündlich ist alles geklärt. Es geht nur noch um den schriftlichen Vertrag. In ungefähr zwei Monaten könnte ich nach Tobago fliegen, das Grundstück kaufen und so viel wie möglich regeln.“

„Oh, Mann, jetzt wird’s wohl wirklich ernst.“ Julia verzog weinerlich das Gesicht, aber Mila war viel zu sehr in ihren Auswanderungsgedanken gefangen, um es zu bemerken.

„Ich bin so aufgeregt, Julia. Ich kann es gar nicht erwarten, bis es endlich losgeht.“

„Ich freu mich so für dich. Du hast ein heftiges Jahr hinter dir. Jetzt solltest du nur noch an dich und deine Zukunft denken. Und vor allem brauchst du keine Rücksicht mehr auf Bernd und seine eventuellen Rachepläne zu nehmen.“

Julia hatte es auf den Punkt gebracht. Ob Maria diejenige war, die Bernd jetzt durchfütterte? Bei dem Gedanken musste Mila grinsen.

„Genau! Sag mal, magst du nächste Woche mitkommen, wenn ich zu meinen Eltern fahre? Ein bisschen Rückendeckung könnte ich gut gebrauchen.“

„Klar komme ich mit. Sag mir, wann.“

„Nächsten Sonntag gegen drei Uhr wollte ich losfahren. Halb vier ist bei meinen Eltern Kaffeezeit.“ Mila verdrehte demonstrativ die Augen. Ihre Eltern waren in einigen Dingen ziemlich spießig.

„Kein Problem“, Julia lachte, „und wir müssen auf jeden Fall pünktlich sein. Deine Eltern sollten gute Laune haben, wenn du sie um Geld bitten möchtest.“

„Du bist die Beste!“

Stürmisch umarmte Mila ihre Freundin. Sie würde Julia schrecklich vermissen. Sie war die Einzige, die in dem vergangenen turbulenten Jahr jede Minute zu ihr gehalten hatte und immer da gewesen war, wenn sie eine Freundin gebraucht hatte. Der Abschied von Julia würde für Mila das Schwerste werden.

„Du kommst mich besuchen, nicht wahr?“

„Natürlich! So oft es geht. Ehrensache!“ Nun kullerten doch die ersten Tränen Julias Wangen hinab.

„Hey – bitte nicht weinen. Noch bin ich ja hier.“

Arm in Arm schlenderten die Freundinnen durch die Einkaufsstraße und beschlossen, sich zur Feier des Tages bei ihrem Lieblingsitaliener eine Lasagne und ein Glas Wein zu gönnen. Es wurde ein gemütlicher und langer Abend, und Mila schlief das erste Mal seit Monaten ohne Sorgen ein.

Vor dem Besuch bei ihren Eltern lief Mila wie ein aufgescheuchtes Huhn in ihrer Wohnung herum. Ihre Eltern wussten zwar von ihren Plänen und dass sie eine Menge Geld dafür benötigte. Auch hatten beide bereits grundsätzliche Zustimmung signalisiert. Doch heute wurde die Bitte konkret. Mit ihrer Hilfe stand und fiel ihr Auswanderungsplan.

„Komm rein, mein Herz.“ Doris Weber umarmte ihre Tochter, als sie endlich da war, und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Wie schön, dich zu sehen! Julia, komm, lass dich auch umarmen.“

„Hallo, Frau Weber. Ich freue mich, Sie zu sehen. Ist schon lange her.“

„Das stimmt, Julia. Gut siehst du aus.“

„Hallo Mama. Wie geht‘s dir?“

„Mir geht es gut, Mila. Wir sind gerade zurück aus Norwegen. Es war ein Erlebnis!“

„Das freut mich. Wo ist Papa?“

„Er sitzt schon am Tisch. Kann es nicht erwarten, bis es endlich Kuchen gibt.“

Mila lief ins Esszimmer, wo der Tisch mit viel Liebe und dem besten Geschirr Ton in Ton mit passenden Servietten gedeckt war. Typisch für ihre Mutter. Ihr Vater saß auf seinem Stuhl, die Hände über seinen beachtlichen Bauch gelegt, und fixierte den Kuchen.

„Hey Papa. Du hast Hunger, wie ich sehe.“

„Hallo Mila. Komm her! Lass dich drücken.“ Hans Weber wuchtete sein Gewicht vom Stuhl hoch und nahm seine Tochter in den Arm. „Wie geht’s dir, mein Kind?“

„Gut, Papa. Ich bin endlich geschieden und heilfroh, Bernd endgültig los zu sein.“

„Das glaube ich dir. Du weißt ja, ich habe nie viel von dem Schmarotzer gehalten. Lässt sich von meiner Tochter aushalten“, brummte er, „zu faul, um arbeiten zu gehen. Ich habe immer schon gesagt …“

„Hans! Lass es gut sein. Wir wollen heute nicht über Bernd reden“, schimpfte Milas Mutter. „Setzt euch. Ich bringe den Kaffee.“

Doris und Hans Weber waren nicht mehr berufstätig und genossen ihr Leben in vollen Zügen. Als Architekt hatte Hans zeit seines Berufslebens eine Menge Geld verdient. Mit seinem Talent, Geld gewinnbringend anzulegen, hatte sich Hans ein Vermögen erarbeitet. Er hatte ein Ferienhaus in Norwegen gebaut und ein luxuriöses Wohnmobil gekauft, mit dem er und Doris, wann immer sie Lust hatten, durch die Lande reisen konnten. An seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag hatte Hans beschlossen, nur noch vereinzelt Aufträge für besondere Kunden anzunehmen und sich ansonsten seinem Hobby, der Naturfotografie, zu widmen. Beide liebten die skandinavischen Länder, die Doris die wunderbare Natur und Hans herrliche Gelegenheiten zum Fotografieren boten.

„Hast du schöne Fotos gemacht, Papa?“, fragte Mila, nachdem sie den Kuchen fast komplett verspeist hatten.

„O ja, willst du sie sehen?“

„Na klar will ich die sehen.“

„Ich bereite alles vor und rufe euch, wenn ich fertig bin.“ Mit diesen Worten sprang Hans, der nur auf diese Gelegenheit gewartet hatte, erstaunlich flink für seine Leibesfülle auf, und lief ins Wohnzimmer, wo er seinen Laptop an den Fernseher anschloss und den Ordner mit den neuesten Fotos suchte.

Mila, Julia und Doris räumten derweil den Tisch ab und verstauten das gebrauchte Geschirr in die Spülmaschine. Wie immer sah es im Hause Weber aus, als wäre gerade eine Putzkolonne hindurchgefegt. Alles lag und stand ordentlich an seinem Platz, nirgendwo waren Flecken, Fussel oder Staubkörner zu sehen. Mila kannte es nicht anders. Entgegen ihrer eigenen Lebenseinstellung war es ihrer Mutter wichtig, dass alles immer sauber und vorzeigbar wirkte. Mila hatte es noch nie geschafft, ihre Wohnung in den gleichen Zustand zu versetzen, so sehr sie sich auch bemühte. Bei ihr herrschte ein geordnetes Dauerchaos, wie sie es selbst bezeichnete.

„Ihr könnt kommen“, ertönte die Stimme ihres Vaters aus dem Wohnzimmer. Die nächste Dreiviertelstunde sahen sie sich Fotos von Elchen, Bären, Ameisen, Vögeln, Bäumen, Seen, Polarlichtern und anderen Naturwundern an und lauschten dabei Hans‘ Ausführungen.

Mila wurde zusehends unkonzentrierter. Als sie begann, an ihren Fingernägeln zu kauen, stand ihre Mutter auf.

„So, Hans, es reicht für heute.“ Rigoros nahm sie ihrem Mann die Fernbedienung aus der Hand, und Mila atmete erleichtert auf. So gern sie ihrem Vater zuhörte und seine Fotos betrachtete, heute konnte sie sich nicht darauf konzentrieren.

„Mila, du bist doch nicht nur hergekommen, um Papas Fotos anzusehen und meinen Kuchen zu essen, nicht wahr?“

„Äh - doch. Auch. Ich meine, natürlich liebe ich deinen Kuchen und auch die tollen Fotos …“ Mila räusperte sich verlegen.

„Aber du bist hier, um uns zu fragen, ob wir dir helfen, deine Auswanderung zu unterstützen, stimmt’s, mein Herz?“

„Hm, ja. Eigentlich schon.“ Mila schaute hilfesuchend zu Julia.

„Ja, Frau Weber, genau deshalb sitzen wir hier.“

„Danke“, murmelte Mila in Julias Richtung.

„Gut, ihr beiden, dann kommt mal mit. Wir haben einiges vorbereitet“, erklärte Doris und ging zurück ins Esszimmer. Als alle bereit saßen, holte Hans einen Aktenkoffer unter dem Tisch hervor und zog einen Ordner heraus.

Milas Herz hämmerte wie ein Presslufthammer in ihrer Brust. Jetzt kam die Stunde der Wahrheit. Nervös knetete sie ihre feuchten Hände unter dem Tisch.

„Also, Mila. Gern lassen wir dich nicht ziehen, das weißt du. Vor allem – es ist so fürchterlich weit weg“, begann Doris. „Aber Papa und ich kennen das Fernweh nur allzu gut. Aller Wahrscheinlichkeit nach hast du das von uns geerbt.“ Doris lächelte ihre Tochter liebevoll an. „Deshalb helfen wir dir gern dabei, deinen Neustart auf Tobago zu verwirklichen. Allerdings unter einer Bedingung.“

So erleichtert Mila nach den ersten Worten ihrer Mutter war – welche Bedingung mochten ihre Eltern an sie stellen? Tausend Gedanken und Eventualitäten rasten in Lichtgeschwindigkeit durch ihren Kopf, und so hörte sie nur noch die letzten Worte von dem, was Doris ihr vorschlug.

„… wir hoffen, damit kannst du leben.“

„Äh …“ Mila räusperte den Kloß aus ihrem Hals, „tja, was soll ich sagen?“ Nervös warf sie Julia einen fragenden Blick zu, die sofort verstand.

„Nun ja, Mila, dass deine Eltern einmal im Jahr kostenlos in einem deiner Gästehäuser wohnen und einen dreiwöchigen Urlaub auf Tobago verbringen möchten, ist doch schön, oder?“

„Ja! Ja, natürlich“, jubelte Mila erleichtert. „Das hätte ich euch sowieso vorgeschlagen. Klar. Ich will euch doch auch regelmäßig sehen. Diese Bedingung nehme ich gern an.“

„Gut“, sagte Doris und sah ihren Mann an, „dann wird Papa dir jetzt alles erklären, was wir für dich vorbereitet haben.“

Ihr Vater erläuterte, dass sie ein Konto angelegt hatten, auf dem eine stattliche Summe bereitlag. Dieses Geld war für den Bau des eigenen Hauses und der Gästehäuser gedacht.

Als Mila den Geldbetrag sah, wurde ihr schwindelig. „So viel?“, stammelte sie.

„Man weiß nie, ob Unerwartetes auf einen zukommt, Mila. Lass dir das von einem Fachmann gesagt sein“, antwortete ihr Vater. „Nimm anständiges Material, schau nicht auf den Preis. Es wird sich in der Zukunft bezahlt machen, Kind. Und wenn du unsicher bist, kannst du mich jederzeit anrufen.“

„Danke“, konnte Mila gerade noch hervorbringen, bevor ihr Tränen in die Augen schossen.

Als sie sich beruhigt hatte, legte Hans ihr ein weiteres Dokument vor. „Wir haben noch ein zweites Konto für dich angelegt. Auf dem liegt genug Geld, um ein Jahr lang gut leben zu können. Geh sorgfältig und sparsam damit um. Mehr bekommst du nicht. Wenn das Geld aufgebraucht ist, sollte dein Geschäft laufen.“

„Mit so viel habe ich nicht gerechnet. Ich – weiß nicht, was ich sagen soll. Danke, Mama! Danke, Papa!“

Mila umarmte ihre Eltern und schluchzte vor Freude.

Stürmische Zeiten auf Tobago

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