Читать книгу Federspuren - Birgit Rentz - Страница 10

Wasser

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Haben Sie schon mal eine Katze Cola trinken sehen oder Ihren Lieblingskaktus mit Bier begossen?

Schauen Sie nicht so ungläubig, ich meine diese Fragen durchaus ernst.

Sie möchten sicher wissen, warum ich so etwas frage, wenn ich doch schon weiß, dass ich kein Ja von Ihnen hören werde.

Ich habe nur eben über die Katze und den Kaktus nachgedacht – nicht zum ersten Mal übrigens. Fragen dieser Art stelle ich mir häufiger, und zwar immer dann, wenn ich so wie heute Morgen im Supermarkt stehe und die Wunschliste meiner Familie abarbeite: diverse Sixpacks Apfelschorle – null Komma fünf Liter, für die Schule –, zwei Kisten stilles Mineralwasser für den großen Durst, eine Kombikiste Cola – schmeckt ja so lecker! –, ein Pfund Kaffee und eine Dose kakaohaltiges Getränkepulver für den Frühstücksdurst. An der Kasse angekommen, verrät mein Blick in den Einkaufswagen, dass wieder einmal mehr als die Hälfte aller Einkäufe Getränke sind. Auch auf dem Bon, den mir die Kassiererin nach dem Bezahlen in die Hand drückt, ist der Posten für Flüssiges nicht gerade unbedeutend. Bis zu zweihundert Euro vertrinkt meine Familie im Monat. Und ich kaufe fast nur im Discounter ein. Wenn ich das auf ein Jahr hochrechne, könnten wir vier von dem für Flüssiges verwendeten Geld in der Nebensaison drei oder vier Wochen Urlaub in Dänemark machen …

Ich darf einfach nicht rechnen, dabei wird mir ganz anders. Bin ich eigentlich verrückt, diese Wünsche, die mir meine Lieben auf meinen Einkaufszettel kritzeln, immer wieder zu erfüllen? Ich trinke doch auch die meiste Zeit des Tages nur Wasser – und zwar aus dem Wasserhahn, jawohl! Okay, dann und wann darf es auch ein Milchkaffee sein. Aber ansonsten: Kein Kistenschleppen und nur Pfennigbeträge, so trinke ich mich durchs Leben. Wäre das schön, wenn ich meine Familie mit dieser Gewohnheit anstecken könnte. Ich sage nur: Dänemark!

Apropos Leben: Der Mensch muss trinken, weil er sonst nicht überlebt. Ist doch so, oder? Überall, wo wir hinhören, heißt es, wir sollen täglich acht Gläser Wasser trinken. Und alle nicken dazu. Ob Kaffee denn auch dazu zählt, wurde ich in meiner Eigenschaft als Ernährungsberaterin immer wieder gefragt. Schließlich besteht Kaffee zu fast hundert Prozent aus Wasser. Die paar unbedeutenden Kaffeepulveranteile machen den Kohl doch nicht fett. Nein, das nicht, aber sie machen das Wasser zu einem ungesunden Lebensmittel.

Jetzt habe ich aber etwas gesagt: Lebensmittel. Drehen wir das doch mal um: Mittel zum Leben. Ohne Wasser kein Leben. Wasser erfüllt ein Grundbedürfnis des Körpers.

Und was macht der Mensch aus diesem Bedürfnis? Er erfindet das Rad neu, kreiert zum Beispiel Wellness-Getränke. Doch steigern die das Wohlbefinden, wie der Name es vorgaukeln mag? Vielleicht das Wohlbefinden derer, die daran verdienen – einschließlich des Zahnarztes. Der Körper wird allerdings nicht das Gefühl haben, dass diese Art von Getränken sein Grundbedürfnis erfüllt. Ihm wird Zucker zugeführt, und das nicht zu knapp. Vielleicht auch noch Farbstoffe und andere dubiose Zutaten. Aber warum trinken wir so etwas? – Weil wir glauben wollen, dass es uns guttut? Wo „Wellness“ draufsteht, kann doch nichts Schlimmes drin sein.

Wer braucht schon Wellness-Getränke?

Der Mensch braut Bier und brennt Schnaps und macht sich selbst davon abhängig.

Wer braucht schon Alkohol?

Der Mensch röstet Kaffeebohnen, damit er den Tag ohne Durchhänger übersteht.

Wer braucht schon Kaffee?

Der Mensch erfindet die tollsten Erfrischungsgetränke in den originellsten Geschmacksrichtungen. Aus Wasser, Zucker, naturidentischen Aromastoffen und ein paar Gramm Früchten werden Fruchtsaftgetränke, die zu einem günstigen Preis zum Kauf verführen. Energydrinks, Iso- oder Gurana-Getränke, Alkopos – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Doch wer braucht das alles? Wer braucht gut sortierte Getränkemärkte?

Ah, ich höre Protest.

„Kaffee tut so gut!“

„Ich brauche ein großes Glas Cola zum Essen.“

„Milch ohne Kakaopulver schmeckt doch nicht.“

„Ein Bier am Abend …“

„Auf Reisen wirkt ein Energydrink Wunder!“

„Wasser ist langweilig.“

Wasser ist langweilig? Ist es das wirklich? Wenn ich die Argumente betrachte, dann trinken wir uns doch nur quer durch den Getränkemarkt, weil wir uns etwas gönnen wollen, weil es gut schmeckt, weil die anderen das auch tun, weil uns ganz einfach danach ist. Wir befriedigen damit aber nicht das Grundbedürfnis des Körpers, der uns im Gegenzug Gesundheit und Lebenskraft schenkt, nein, wir befriedigen den Durst unserer Seele – auch wenn es uns im Grunde gar nicht guttut.

Und da sind wir wieder bei der Katze oder dem Kaktus. Diese Lebewesen sind mit dem gleichen Grundbedürfnis ausgestattet wie wir Menschen. Sie brauchen Wasser, um zu leben. Und sie geben diesem Bedürfnis nach. Menschen, die Pflanzen oder Tiere versorgen, tun das ganz automatisch, indem sie Wasser in einen Napf füllen oder in die Gießkanne. Niemand wird sich die Frage stellen: Geben wir Katerchen heute mal ein Schlückchen Kakao, ein Wellness-Wasser oder lieber ein kühles Hefeweizen? Völlig absurd, diese Gedanken. Stimmen Sie mir zu? Wir behandeln unsere Haustiere und unsere Zimmerpflanzen so, wie sie es verdienen. Wir geben ihnen, was sie brauchen. Das danken sie uns mit gesundem Wachstum und Zufriedenheit.

Und was tun wir uns an?

Lieber nicht so viel nachdenken, man könnte ins Grübeln kommen.

Katze müsste man sein – oder Kaktus.

Ich bin lange nicht mehr hier gewesen. Langsam gleite ich mit einem Schwarm bunter, fast durchsichtiger Fische, die mich an Schmetterlinge erinnern, durch das Schiffswrack. Wir ziehen vorbei an den zellenartigen Kabinen, in denen früher Menschen geschlafen haben. Vielleicht haben sie auch an dem kleinen Tisch gelesen, sich auf den Pritschen geliebt oder ihre Kinder in den Schlaf gesungen.

Die Eisengestelle der Pritschen ragen in den Raum, wie Skelette, die von einem früheren Leben zeugen. Es gab Zeiten, da habe ich mir jeden Tag eine andere Kabine vorgenommen, habe mich liegend an der Pritsche festgehalten, damit das Wasser mich nicht fortzieht, und mir ausgemalt, wer diese Kabine bewohnt haben könnte. Ich erschuf die Passagiere aus meiner Erinnerung, grub aus meinem Gedächtnis Personen aus, die ich irgendwo einmal gesehen hatte, zog ihnen Kleider an und ließ sie in meiner Vorstellung lebendig werden.

Am liebsten mochte ich die Luxuskabinen, obwohl kaum noch etwas von ihrer Einrichtung übrig ist. Vermutlich waren sie mit Holzbetten eingerichtet, die längst verfault sind. Nur die Kronleuchter haben den Untergang überstanden, die wenigen noch verbliebenen trüben Glassteine schaukeln im Wasser, und an den mit Algen überzogenen Armen hat sich ein Schwamm breitgemacht. Es ist absurd, dass ausgerechnet diese Lüster, die ich früher als Ausgeburten des Luxus verteufelt hätte, mich an mein Menschsein erinnerten. Den Passagieren dieser Kabinen stellte ich eine teure Garderobe zusammen, manche bekamen sogar Bedienstete, die ich in den kleinen Zellenkabinen unterbrachte.

Diese Reise in mein altes Leben, das verzweifelte Erinnern und Erschaffen von Menschen, die nur in meinem Kopf existieren, hat mich davor bewahrt, wahnsinnig zu werden. Denn wenn ich meinen Verstand nicht mehr gebrauchen kann, werde ich mich nicht mehr von denjenigen unterscheiden, die mit mir im Meer leben. Vor nichts habe ich mehr Angst, als eines Tages einem dieser hirnlosen Fischlebewesen mit den blöde glotzenden Augen zu ähneln.

Ich schwimme weiter in die Kapitänskajüte, die erstaunlich klein ist. Mein Kapitän ist dicklich und klein, ich habe ihm Wurstfinger verpasst und eine zu enge Gala-Uniform. Er ist ein Wichtigtuer und Feigling und muss die Rolle des Bösewichts übernehmen. Ihm ist Geld wichtiger als alles andere, und Schmuggel wird gut bezahlt. Heimlich hat er Chemikalien an Bord genommen, die explodiert sind. Am Untergang des Kreuzfahrtschiffes ist natürlich er schuld.

Während ich mich in eine Ecke drücke, um nicht von der Strömung fortgetrieben zu werden, spinne ich seine Geschichte aus. Je länger ich hier unten lebe, umso schwieriger wird es, Details zu finden. Manchmal fällt mir nicht einmal mehr ein, wie rosige Haut aussieht oder wie sich trockene Haare anfühlen.

Die einzige Brücke zu der Welt, in der ich einmal gelebt habe, ist meine Erinnerung. Wenn ich sie verliere, höre ich auf zu existieren.

Früher habe ich meine Gedanken schriftlich festgehalten, aber hier unten kann ich nicht schreiben, das schmerzt mich noch immer. Mit allem anderen habe ich mich abgefunden, mit der Einsamkeit und der Aussicht, nicht mehr auftauchen zu können. Nicht einmal die langsame Erkenntnis, nie wieder sprechen und singen zu können, macht mich so traurig wie die Feststellung, nicht mehr schreiben zu können.

Als ich noch oben lebte, dachte ich, das Reden sei wichtig, damit teile ich den anderen mit, was ich fühle, was ich denke. Doch hier unten wurde mir bewusst, dass das Schreiben viel wichtiger war. Es war mein Herz, das sprach, das mich aufschreiben ließ, was ich nicht sagen konnte. Ich war im Schreiben zu Hause, es war ein weites Land, und ich war dennoch darin geborgen.

Nur hier in dem Schiffswrack, an diesem einzigen menschlichen Ort im endlosen dunklen Ozean, kann ich meine Erinnerungen lebendig halten. Ich versuche so zu tun, als würde meine alte Welt noch existieren, als gäbe es meine Geschichte noch und als würde ich sie aufschreiben. Satz für Satz und Wort für Wort.

„Eines Tages bin ich im Meer aufgewacht“, lautet der erste Satz. Während ich ihn in Gedanken formuliere, sehe ich mich in meinem Zimmer unter dem Dach am Schreibtisch sitzen. Ich fahre fort mit meiner Geschichte: „Um mich herum ist Wasser, meine Arme und Beine stoßen ins Leere. Erst glaube ich, es ist ein Traum, ich schlage um mich, versuche zu schreien, in der Hoffnung, ich werde aufwachen. Schon während ich den Mund zum Schrei öffne, ist mir bewusst, dass es unmöglich ist. Das Schreien und das Sprechen sind mir abhandengekommen.

Dann bekomme ich Panik. Ich habe Angst, ich werde ertrinken. Ich muss atmen! Luft holen! Obwohl ich den Mund nicht öffne und nach Luft ringe, atmet es in mir. Dann versuche ich, nach oben zu schwimmen, bis ich erkenne, es gibt kein Oben und Unten. Alles um mich herum ist blau, ist Wasser. Ich bin eingeschlossen in diesem unendlichen Meer.

Am Anfang habe ich oft darüber nachgedacht, was mit mir passiert ist. Ich bin immer noch ein menschliches Wesen, nur dass ich mich plötzlich im Meer bewegen kann. Ist es ein Traum? Ein nicht enden wollender quälender Traum? Liege ich in Wirklichkeit in meinem Bett? Oder bin ich wahnsinnig geworden und bilde mir alles nur ein?

Vielleicht habe ich einen Unfall gehabt und kann mich an nichts mehr erinnern? Bin ins Koma abgetaucht und komme nicht wieder an die Oberfläche? Vielleicht gibt es Menschen da draußen, die um mich kämpfen, die mich rufen und zurückholen wollen, doch ich sehe und höre sie nicht. Ich lebe in meiner eigenen Welt.

Schwerelos gleite ich seitdem durch das Wasser. Am Anfang begleitete mich ständig die Angst, vor allem vor den Raubfischen, bis ich merkte, dass sie sich nicht für mich interessieren. Als wäre ich auch für sie nicht existent.

Es gibt hier unten keinen Tag, keine Nacht und keine Zeit. Wie lange ich schon hier bin, weiß ich nicht. Meistens lasse ich mich treiben, und es passiert mir immer öfter, dass ich nichts mehr denke, dass ich mich dem Sog des Wassers überlasse und einfach nur da bin. Ein menschliches Wesen, eingeschlossen im Wasser, frei von allen Zwängen und Pflichten, nur sich und seiner Einsamkeit überlassen.

Die Bilder in meinem Kopf verblassen und die Worte verstummen. Deswegen bin ich heute wieder in dem Wrack, meinem Zufluchtsort, an dem ich in die Vergangenheit reise.

Auch wenn ich nie wieder auftauchen sollte, will ich weiterleben. Ich will mich daran erinnern, wer ich gewesen bin.“

Federspuren

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