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4 A wie Ascona

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Reisen ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Die Züge sind schneller und voller, das Umsteigen hektischer, das Ein- und Aussteigen beschwerlicher und umständlicher. Nun, wahrscheinlich bin ich einfach langsamer und etwas steif geworden. Trotzdem: Im Urnerland bekomme ich nicht ein einziges Mal mehr die Kirche von Wassen zu Gesicht. Früher, wenn wir ins Tessin fuhren, erklärte Xaver Trudi und mir jedes Mal ausführlich die Konstruktion des Kehrtunnels und somit den Grund, warum man dreimal an der kleinen Kirche vorbeifuhr. Und wir ließen ihm den Spaß, obwohl wir längst Bescheid wussten. Heute braust der Zug mit zweihundert Kilometern pro Stunde durch einen langen, dunklen Tunnel, von Erstfeld bis Bodio. Mein Xaver würde mir jetzt sicher erklären, dass der neue Gotthard-Basistunnel mit seinen siebenundfünfzig Kilometern der längste Eisenbahntunnel der Welt sei. Das hat mein Tischnachbar Tobias an seiner Stelle getan, schon gestern Abend, sozusagen als Einführung für meine Reise.

Ich sitze in der ersten Klasse. Man gönnt sich ja sonst nichts. Ich komme mir vor wie in einem rollenden Großraumbüro: Um mich herum tippen Männer in Anzügen auf ihren Laptops herum, verbissen und hektisch, als gäbs kein Morgen. Dafür gibt es keine Gespräche. Was ist bloß aus den Menschen geworden! »Je älter man wird, desto merkwürdiger werden die anderen«, las ich neulich. Vielleicht – möglicherweise sogar ziemlich sicher – bin tatsächlich ich es, die seltsam geworden ist. Und eigentlich, wenn ich es mir genau überlege, gab es schon früher kaum Gespräche im Zug. Man verschanzte sich hinter einer Zeitung oder strickte. Man traute sich nicht, das Gegenüber anzusprechen. Ein lockeres Gespräch war ein Glücksfall, etwas, woran man sich noch lange gern erinnerte, aber eben auch nicht alltäglich. Ich muss aufpassen, dass ich nicht in die Früher-war-alles-besser-Falle tappe.

Früher war alles anders. Das schon.

Ich schaue mich unauffällig um, werde aber ignoriert. Trotzdem möchte ich nicht die Einzige sein, die einfach so dasitzt, als hätte sie nichts zu tun. Obwohl mir gerade das beim Zugfahren jeweils immer gut gefallen hat: entspanntes Sitzen und Schauen. Kim würde das wohl chillen nennen.

Ich nehme also das kleine Büchlein, das ich mir als Lektüre mitgenommen habe, aus meiner Handtasche und beginne zu lesen. Immer wieder erkenne ich in der Geschichte von Harry und Lore, einem alten Ehepaar, Xaver und mich: viel Gezänke, viele Missverständnisse, viel Schweigen. Aber trotzdem halt Liebe. »Alte Liebe« heißt das kleine Buch von Elke Heidenreich und Bernd Schroeder, und ich mag es sehr. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich laut auflache. Dann schaue ich mich erschrocken um und muss einige neugierige, irritierte Blicke aushalten. Ich lächle die Leute an, und sie lächeln zurück. Eine schrullige Alte, werden sie wohl denken. Hoffe ich jedenfalls. Aber gell, wenn da der Autor Philip Roth zitiert wird: »Das Alter ist kein Kampf; es ist ein Massaker«, dann ist das einfach erstaunlich treffend. Diese Aussage würden viele Heimbewohner sofort unterzeichnen. Oder wenn eine Figur sagt, sie habe das Gefühl, dass der Tod immer mit am Tisch sitze und abwarte, wer als Nächster dran sei, dann könnte das eine Szene aus unserem heimelig sein, direkt von unserem Tisch. Und ja, ich will darüber lachen. Denn sonst müsste ich darüber weinen.

Neuerdings muss man in Bellinzona umsteigen, aber immerhin keinen Treppen-Marathon bewältigen. Man kann einfach auf dem gleichen Perron stehen bleiben. Dafür haste ich dann in Locarno den Geleisen entlang durch den Bahnhof, überquere die Hauptstraße und bin völlig außer Atem, als ich an der Bushaltestelle ankomme. Mein Herz klopft wie verrückt. Und dann warte ich in der gleißenden Sonne auf den verspäteten Bus. Hier ist es wirklich heiß. Süden halt. Die Nylonstrümpfe hätte ich mir schenken können. Es ist, als wäre man in Italien. Ich atme tief durch, beruhige mich und spüre ein klein wenig Ferienstimmung aufkommen. Dieses Gefühl hatte ich lange nicht mehr.

Und dann erreiche ich Ascona, schlendere durch die Gassen zur Piazza und bin in Gedanken bei meiner Freundin Lisa. Dass sie kurz nach Xaver gestorben ist, gerade als ich sie am meisten gebraucht hätte, war ein schwerer Schlag. Ich nehme Lisa in meinem Herzen mit, höre im Geiste ihre Stöckelschuhe neben mir auf die Pflastersteine klopfen.

Das ist schwierig im Alter: Man muss viel zu oft Abschied nehmen. Von Freunden, Verwandten, Geliebten, Kollegen. Und wenn man seinen eigenen Abgang verpasst, zu spät stirbt, alle anderen vorher gehen, dann steht man plötzlich ganz allein da.

Hier in Ascona bin ich nicht allein. Ganz und gar nicht. Die Restaurants scheinen alle voll zu sein. Ich spaziere an einem Musiker vorbei, der Gitarre spielt und singt. Ein sympathischer junger Mann mit einer warmen, kräftigen Stimme. Er singt alte italienische Songs, die sogar ich kenne und die mich an gute Zeiten erinnern. Darum klaube ich großzügig einen Fünfliber aus dem Seitenfach meiner Tasche, wo immer ein paar Münzen drinstecken. Ich werfe das Geldstück in seinen Gitarrenkasten, er zwinkert mir zu. Ich zwinkere zurück.

Wir lachen uns an.

In einem Kiosk will ich mir eine Zeitschrift kaufen. Ich bin es nicht gewohnt, allein ein Restaurant zu betreten, und mit einer Zeitschrift könnte ich mich ein wenig beschäftigen und würde mir weniger verloren vorkommen. Aber als ich meine Geldbörse aus der Handtasche fischen will, ist keine da. Mir wird schwindlig. Meine Gedanken rasen wie Blitze durch meinen Kopf. Heute habe ich die schwarze, große Handtasche mitgenommen. Das letzte Mal war ich allerdings mit der kleinen, blauen unterwegs. Und genau: Ich habe das Portemonnaie nicht in die Tasche von heute umgepackt.

Zuerst einmal ist es mir einfach nur peinlich. Ich lege die Zeitschrift wieder zurück und verlasse fluchtartig den Kiosk.

Nein!

Ich bin zu alt zum Reisen. Zu blöde. Das Gehirn schon angegriffen vom Kalk oder ersten Anzeichen von Demenz.

Ich setze mich auf eine Bank und weine.

Ich bin so enttäuscht.

Von mir. Vom Leben. Von der Welt.

Und ich fühle mich uralt.

Ich schaffe es nicht einmal, einen Tag lang dem Heim zu entfliehen.

Das ist traurig.

Und jetzt sitze ich in Ascona am See und weine.

Genau hier, wo ich so oft glückliche Stunden verbracht habe.

»Santo cielo, che cosa è successo?«

Ich schaue erschrocken auf. Der Musiker von eben hat sich neben mich gesetzt und reicht mir ein Papiertaschentuch.

»Danke.« Ich schnäuze mich, wische meine Tränen weg und versuche mich zu fassen. Man weint nicht einfach so in der Öffentlichkeit. Wirklich nicht.

»Was ist passiert?«, fragt der Musiker nun auf Deutsch, und es scheint ihn tatsächlich zu kümmern.

»Ich habe mein Portemonnaie daheim vergessen. Dabei wollte ich nur einen kleinen Ausflug hierher machen, ein Risotto essen, ein Glas Wein trinken. Es ist nicht so schlimm. Dann fahre ich halt wieder heim.«

Er glaubt mir nicht.

»Warum weinen Sie dann, wenn es nicht so schlimm ist?«, will er wissen.

Ich erzähle ihm, dass das mein erster Versuch war, wieder Bewegung in mein Leben zu bringen. Mein erster Fluchtversuch. Meine erste Reise. Als Probe sozusagen. Und die ist eindeutig misslungen.

»Ich bin wohl zu alt, um noch in der Welt herumzureisen«, sage ich abschließend. Immerhin weine ich nicht mehr. Nur ab und zu meldet sich ein ungewollter Schluchzer aus meinem tiefsten Inneren.

»Contenance!«, hätte Frau Amstutz, die böseste Chefin, die ich je hatte, befohlen. Sie führte das Hotel Landhaus in Engelberg mit eiserner Hand. Eigentlich eher mit eisernem Herzen. Und an der Hand trug sie einen Brillantring, mit dem sie einem ganz schnell, fast beiläufig, sehr wehtun konnte, wenn eine Arbeit nicht in ihrem Sinne ausgeführt worden war.

Contenance.

Haltung.

Ich meine, ihre Stimme zu hören, und richte mich ein wenig auf.

»Ich heiße Matteo? Und du?«, ertönt es jetzt aber ganz real an meiner Seite.

Ich mag es gar nicht, ungefragt geduzt zu werden. Diese neumodische Art, sich mit jedem gleich zu verbrüdern, ist mir zuwider.

»Niederberger«, sage ich darum steif.

Matteo lächelt nachsichtig.

»Allora, Signora Niederberger, was machen wir jetzt?«

Er stolpert dermaßen über den für ihn wohl schwierigen Nachnamen, dass ich über meinen Schatten springe und ihm doch noch meinen Vornamen nenne.

»Allora, Signora Nelly: Ich lade Sie zum Essen ein, genau dort, wo Sie essen wollten!«

Matteo strahlt mich an.

Ich habe jedoch keine Ahnung, wie ich mit seiner Einladung umgehen soll. Der junge Mann macht mich sprachlos. Ich kenne ihn doch gar nicht. Ist das irgendeine Falle? Ein neuer Enkeltrick? Am Ende läuft er weg, und ich sitze da mit einer saftigen Rechnung und ganz ohne Geld? Matteo spürt wohl meine Bedenken und zeigt mir seine Geldbörse, die reichlich gefüllt zu sein scheint.

»Ich habe gut gearbeitet. So viele schöne Tage! Wir können ja auch einen Deal machen, wenn Ihnen das lieber ist?«

Ich bin auf der Hut und warte auf seinen Vorschlag.

»Ich bezahle, Sie schicken mir das Geld später wieder. Und ich darf über Sie in meinem Blog schreiben.«

Ich schaue ihm in die Augen und denke, dass ich doch eigentlich genug Lebenserfahrung haben sollte, um diesen Menschen richtig einschätzen zu können. Er gibt mir seine Visitenkarte, die allerdings irgendwie selbst gebastelt wirkt.

Mein Xaver würde sich die Haare raufen.

Meine Freundin Lisa würde den Kopf schütteln.

Genau das sind wohl die ausschlaggebenden Gedanken. Ich sage zu. Gerade habe ich Lust auf ein wenig Abenteuer, spüre einen Anflug von Aufmüpfigkeit in mir. Wenn alles schiefgeht, lande ich als Zechprellerin bei der Polizei. Was solls? Ich habe schon Schlimmeres überlebt.

Xaver ist gestorben.

Lisa ist gestorben.

Das Leben kann mir doch gar nichts mehr anhaben.

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