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1 Jeder war schon in Paris
Оглавление»Hau ab! Weg von den Geleisen!«
Ich bremse.
Ich hupe.
Ich schreie.
Will sie sich umbringen?
Ich winke, fuchtle mit den Armen und gebe alle möglichen Geräusche von mir, aber weder Zischen, Schnalzen noch Klatschen haben die gewünschte Wirkung. Hoffentlich filmt mich keiner, denn ich gestikuliere wie eine Irre. Schließlich muss ich meine Bahn tatsächlich anhalten und aussteigen, um die kleine Katze höchstpersönlich von den Schienen wegzutragen. Sie wirkt ziemlich verstört. Ich habe das kleine Tigerchen noch nie gesehen. Vielleicht ist es neu hier in Stans und der Standseilbahn noch nie begegnet. Ich stelle das Tier hinter dem Zaun wieder auf seine vier Pfoten und gebe ihm einen kleinen Klaps auf den Hintern. Schnell klettere ich wieder in den Führerstand. Jede Minute ist kostbar. Bevor ich wieder starten kann, brüllt es schon aus dem Funkgerät: »Wagen 1 – von Kälti, antworten! Wagen 1 – von Kälti!«
Der Maschinist will wissen, warum die Bahn steht. Ich erkläre es ihm.
»Wegen einer Katze? Judith! Wie oft soll ich es sagen: Die gehen doch immer selber weg. Immer!«
Simons Stimme überschlägt sich fast.
»Diese aber nicht. Ehrenwort. Es war ein Katzenkind, ein winziges, ein total verstörtes«, verteidige ich mich.
Resigniert antwortet er: »Na dann … solange du nicht verstört bist …«
Simon beendet den Funkverkehr. Ich sehe vor meinem inneren Auge sein Kopfschütteln. Damit kann ich leben. Ich bin die Fahrerin und habe die Verantwortung. Ich muss entscheiden. Und Simon ärgert sich schnell. Noch schneller beruhigt er sich zum Glück wieder. Eigentlich hat er ein sonniges Gemüt. Er vergisst das nur ab und zu, vor allem dann, wenn er zeitlich unter Druck steht. Heute stehen wir alle unter Druck, weil die Touristen Schlange stehen. Hochbetrieb. Wir haben sogar unsere Leute vom Boarding-Team aufgeboten, weil so viele Gäste im Internet Sitzplätze reserviert haben. Sie können nun an einem separaten Schalter einchecken.
Seit fünf Jahren stehe ich vorn auf dem Führerstand der alten Standseilbahn am Stanserhorn. Diese hat schon über hundertfünfundzwanzig Jahre auf dem Buckel. Dagegen bin ich mit meinen fünfundfünfzig Jahren ein echter Jungspund.
Heute ist ideales Arbeitswetter. Es ist warm und sonnig. Nur ein zarter Wind umspielt mein Gesicht beim Fahren. Herrlich.
Heute fahre ich viel.
Bergauf und bergab.
Alle zehn Minuten wechsle ich die Fahrtrichtung.
Mindestens.
In der Mittelstation Kälti steigen die Gäste aus meinem Holzzüglein in die moderne Cabrioseilbahn um, die ich natürlich auch bediene, je nach Schicht.
Rauf und runter, froh und munter
So fuhr ich gestern schon, so fahr ich heut.
Dieses alte deutsche Schunkellied – ich habe es nur ein wenig umgetextet – könnte glatt ein Bähnler-Song sein.
Ja, ich singe oft vor mich hin beim Arbeiten. Das sagt doch schon einiges aus über meinen Arbeitsplatz und die Arbeitsatmosphäre hier beim Stanserhorn. Wir arbeiten gern. Aber natürlich singe ich nur, wenn ich allein auf dem Führerstand bin. Wenn viel los ist, nehme ich vorn bei jeder Fahrt drei Personen mit. Gerade sind in der Talstation in Stans wieder neununddreißig Personen zugestiegen. Drei Japaner stehen neben mir. Ich könnte sogar singen – die würden das gar nicht merken. Sie sind total darauf konzentriert, ihre Reise für die Ewigkeit festzuhalten. Der junge Mann neben mir treibt es auf die Spitze: In einer Hand hält er ein Tablet und filmt, mit der anderen umklammert er sein Handy, um gleichzeitig zu fotografieren. Das grenzt an eine akrobatische Meisterleistung, da es ja ziemlich rüttelt und schüttelt, wenn man hier steht. Ich selbst halte mich während der Fahrt auch immer am Geländer fest. Meine Passagiere dokumentieren alles minutiös: jeden Stein, jede Kuh, jedes Unkraut am Wegesrand. Manchmal frage ich mich, wer diese ganzen Filme jemals anschauen wird, anschauen muss oder darf. Wissen meine Gäste am Ende ihrer Reise noch, wo sie was gefilmt haben? Diese Gruppe kommt zum Beispiel direkt aus Mailand und fährt später noch nach München weiter.
Eigentlich mag ich die Japaner sehr. Sie sind sauber, höflich, diszipliniert. Aber so richtig leicht im Umgang sind sie trotzdem nicht. Wenn ich oben an der Seilbahn arbeite und ihnen auf dem Cabriodach erkläre, dass sie – einmal an der Bergstation angekommen – auf dem Oberdeck aussteigen können und nicht wieder die Treppe nehmen müssen – natürlich in meinem schönsten Englisch –, dann lächeln sie, nicken vielleicht sogar. Aber kaum hält die Bahn oben, höre ich schon – triptrap, triptrap –, wie sie alle der Reihe nach die enge Wendeltreppe herunterkommen. Sie hatten nichts verstanden. Das Lächeln der Asiaten kann alles heißen – oder nichts.
Der Kontakt mit Menschen aus aller Welt, das Kennenlernen von mir fremden Kulturen, das macht mir Freude. Natürlich bin auch ich versucht, die Gäste in Schubladen zu stecken. Und es gibt ein paar hässliche Schubladen.
Am liebsten habe ich – ehrlich gesagt – Touristen, mit denen ich reden kann, wie auch immer, notfalls mit den Händen; Touristen, die Interesse bekunden, die Fragen stellen, die sich nicht nur hinter ihrem Handy verstecken.
»Bekommen Sie Geld für diese Arbeit hier?«, wollte grad vorhin einer wissen. Ein Schweizer übrigens. Diese Frage kenne ich. Sie gehört zu den Top Ten der am häufigsten gestellten Fragen. Aber – ich schwörs – es ist eine reine Schönwetterfrage. Keiner fragt so was, wenn ich vorn im Regen stehe und mir der kalte Wind um die Ohren pfeift oder wenn mir ein Schneesturm die Nase einfriert.
Ja, ich bekomme Geld.
Ja, das ist ein Job.
Allerdings nimmt auch mein Mann Guido meine Arbeit nicht richtig ernst. Im Januar, auf einem Cüpli-Empfang mit seinem Matura-Jahrgang, fragte ein Doktor Sowieso nach meiner Tätigkeit. Er habe gehört, ich arbeite bei der Stanserhorn-Bahn. Wahrscheinlich dachte er, ich sei die persönliche Assistentin des Direktors. Mindestens. Als ich ihm jedenfalls erklärte, was ich mache, dass ich nämlich mit zwei verschiedenen Bergbahnen jeden Sommer um die zweihunderttausend Gäste auf den Berg bringe, unterbrach er mich schnell leicht gelangweilt, meinte herablassend lächelnd: »Schön, schön« – und fügte mit leicht mitleidigem Blick an: »Meine Frau Gertrude töpfert.«
Gertrude töpfert …
Nein, ich habe nichts gegen Töpfern. Gar nichts. Aber meine Beschäftigung hier ist – bitte schön – kein Hobby. Ich trage schließlich Verantwortung für Menschen und Maschinen.
Und Gertrude töpfert …
Ich könnte mich glatt wieder aufregen, wenn ich an diesen Abend denke. Vor allem darüber, dass mein Mann Guido mitlächelte. Und wenn ich schon dabei bin: Gertrude durfte ich neulich persönlich kennen lernen. Sie war zu Fuß mit einer Frauengruppe das Stanserhorn hochgekommen – womit sie sich schon einmal meinen vollen Respekt verdient hat – und stieg auf dem Heimweg in meine Gondel. Gertrude war mit ihren Studentinnen unterwegs und erzählte mir, dass sie in Luzern an der Hochschule für Design und Kunst Keramik und Töpfern lehrt. Sie hat mit ihren Werken schon Preise gewonnen und Ausstellungen bestückt. Ihre Töpferei ist Kunst.
Gertrude töpfert …
Was soll diese Herablassung?
Bloß wegen des fehlenden Doktortitels?
Gut, wir Bähnler am Stanserhorn absolvieren für unsere Tätigkeit keine Lehre und sicher kein Studium. Wir werden intern geschult und laufend weitergebildet. Ein paar wenige von uns sind Studenten, andere sind Rentner. Wir kommen aus allen möglichen Berufen. Trotzdem wünschte ich mir ein wenig mehr Wertschätzung.
Wenigstens von meinem eigenen Mann.
Ich atme durch und vergesse meinen Ärger schnell. Beim Fahren muss ich auf die Bahnübergänge achten, immer mit voller Bremsbereitschaft. Es gab da ja mal vor Jahren einen Zusammenstoß mit der Standseilbahn und einem Auto. Dieser hässliche Unfall wird uns bei jeder Fortbildung in Erinnerung gerufen, damit wir immer gut achtgeben und die latente Gefahr bei den unbewachten Bahnübergängen auch wirklich ernst nehmen. Die Schienen und die Umgebung behalte ich sowieso immer im Auge. Ich musste schon für unvorsichtige Wanderer, spielende Kinder oder Tiere aller Art bremsen. Neulich verlor eine Amerikanerin unterwegs ihr Handy. Es war an einen Stab montiert, und sie hielt das Ding so weit aus dem Fenster, dass es beim ersten Tunnel mit der Wand kollidierte, was natürlich entgegen ihrer Erwartung kein Grund für eine Vollbremsung war, sondern »nur« für einen geordneten Halt bei der nächsten Vorbeifahrt.
Beim Ein- und Aussteigen der Gäste in Stans und im Kälti soll ich zwar immer umwerfend höflich und charmant sein, trotzdem aber versuchen, das Tempo des Ablaufs zu beschleunigen, um möglichst schnell wieder unterwegs zu sein.
Ein Seiltanz. Und immer steht die Sicherheit an erster Stelle.
Türchen auf, Türchen zu.
Rauf und runter.
Abends bin ich jeweils völlig erledigt.
Vom Stehen, vom Rennen, vom Gerüttelt-und-geschüttelt-Werden, vom ständigen Höhenunterschied, von der Überdosis an frischer Luft.
Aber auch glücklich und zufrieden.
Mit mir.
Mit der Welt.
Mit meinem Leben.
Gerade fahre ich wieder am Altersheim Nägeligasse vorbei. Es steht direkt an den Geleisen, kurz nach der Talstation. Touristen fragen oft, ob das ein Hotel sei. Hier lebt seit einem Jahr meine Schwiegermutter Lotti. Oft beklagt sie sich, dass ich ihr nicht gewinkt habe, obwohl sie doch am offenen Fenster gestanden sei. Daher winke ich immer mal wieder prophylaktisch in Richtung Altersheim, während ich im Bähnchen vorbeirumple. Lotti, meine schwierige Schwiegermutter … Immerhin wohnt sie jetzt hier, was uns von vielen Sorgen und Notfalleinsätzen befreit. Aber das ist eine andere Geschichte.
»Du, Judith, hast du es gesehen?«
Simon, der Maschinist, hält mir beim Mittagessen im Kälti eine Zeitschrift so nahe unter die Nase, dass ich rein gar nichts sehen kann.
»Was?«, frage ich leicht genervt. »So sehe ich nichts!«
Simon lässt mich essen und setzt sich mir gegenüber. Dann erzählt er mir geduldig von einem Wettbewerb, den er gerade im »Schweizer Magazin« entdeckt hat, und erklärt: »Da kann man eine Reise nach Paris gewinnen!«
Er schaut mich an, als müsste ich jetzt vom Stuhl kippen oder aber vor Begeisterung aufspringen.
»Schön«, sage ich nur und genieße mein Geschnetzeltes mit Rösti. Die Arbeit macht hungrig, und das Personalessen in der kleinen Stube im Kälti schmeckt immer sehr gut.
Eine Parisreise gewinnen? Es ist ja nicht so, dass wir uns diese nicht selber leisten könnten. Mein Mann ist Tierarzt. Er verdient genug. Paris ist also nicht von einem Wettbewerb abhängig, sondern bräuchte einfach etwas Organisation, ein wenig Aufwand und Planung – und vor allem und in erster Linie auch den echten Willen dazu, unsere Hochzeitsreise tatsächlich nachzuholen, jetzt, nach dreißig Jahren. Ob dieser Wille vorhanden ist, nun ja, daran zweifle ich schon lange. Daher meine eher gedämpfte Freude über den Wettbewerb.
»Ich kann mein Glück ja mal versuchen«, steige ich – dem Frieden zuliebe – dann doch noch in eine Unterhaltung ein und lege mein Besteck zur Seite.
»Eben! Fast jeder war schon in Paris, außer dir«, behauptet Simon.
»Na, das ist jetzt etwas übertrieben«, wehre ich mich.
Das hätte ich lieber gelassen. Nun wird jeder, der im Kälti vorbeikommt, befragt, ob er schon in Paris war. Und in der Tat, schon fast alle waren in der Stadt der Liebe: der Maler, die Kellnerin, die Gärtnerin, die Kioskfrau … Außer Kuno, der eh nie irgendwohin verreist und überhaupt keinen Grund sieht, die Schweiz jemals freiwillig zu verlassen. Und Corinne, die erst achtzehn ist und somit unsere jüngste Bähnlerin. Stimmt, sie war auch noch nicht in Paris. Aber sie hat China bereist, wanderte in den Pyrenäen, und sogar in Ouagadougou war sie schon. Paris steht auf ihrer To-do-Liste.
Auf meiner Liste dümpelt Paris seit langem vor sich hin, verstaubt und verschimmelt da langsam. Und schon oft war ich versucht, mir eine schöne Parisreise zusammenzustellen und allein zu verreisen. Oder meine Tochter Claire dazu einzuladen. Vielleicht sogar mit Kolleginnen zu fahren.
Aber nein, das lässt mein Kopf nicht zu. Vielleicht auch mein Herz nicht. Eine Hochzeitsreise bis in alle Ewigkeiten vor sich herzuschieben, ist die eine Sache. Sie dann abzusagen und aufzugeben, eine ganz andere.
Am Feierabend drückt mir Simon das »Schweizer Magazin« in die Hände.
»Viel Glück, Judith!«, sagt er.
Und natürlich setze ich mich zu Hause hin und öffne die Zeitschrift. Keiner kennt Paris so gut wie ich. In der Theorie zumindest. Ich habe alles über Paris gelesen, jeden Film und jede Reportage darüber gesehen.
Seite 21, tatsächlich, da ist der Wettbewerb. Eine leichte Übung; erst recht, weil die Lösung nur aus drei verschiedenen Vorschlägen gewählt werden muss.
Die Avenue des Champs-Élysées ist 1,9 Kilometer lang.
Der Eiffelturm ist 300 Meter hoch, ohne Antenne. Obwohl ich da noch anzumerken hätte: Die Länge des Turms schwankt um einige Zentimeter, je nach Jahreszeit, weil sich der Stahl in der Sommerhitze ausdehnt. Aber das ist Wissen für Fortgeschrittene.
Die Stadt Paris hat über 2,2 Millionen Einwohner.
Die Bürgermeisterin heißt Anne Hidalgo.
Das wars.
Dafür musste ich nicht einmal Wikipedia konsultieren. Ich könnte ein Buch über Paris schreiben oder Touristen durch die Stadt führen. Aber ich war noch nie da. Weil Guido nicht kann. Weil seine Tierarztpraxis wächst und wächst und er zwar immer mehr Mitarbeiter hat, trotzdem aber meint, absolut unabkömmlich zu sein.
Natürlich gab es zwischendurch auch Zeiten, da wäre eine Reise tatsächlich nicht möglich gewesen. Als wir unsere Tochter Claire bekamen, unseren Sonnenschein, da wollten wir nicht auf eine Städtereise, haben Familienferien gemacht, das war auch schön – aber es war keine Hochzeitsreise. Später gab es Krankheiten, Unfälle. Meine Eltern starben. Guidos Praxis wurde umgebaut. Es war immer irgendetwas. Den letzten ernsthaften Versuch, unseren Honeymoon nachzuholen, unternahmen wir vor fünf Jahren. Es war alles gebucht, und ich konnte nicht mehr schlafen vor lauter Vorfreude. Da starb unerwartet unser Schwiegersohn Erwin an einem Schlaganfall, und Claire stand mit dem einjährigen Moritz allein da, völlig gebrochen und extrem hilfsbedürftig. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihr Leben wieder im Griff und sich als alleinerziehende Mutter organisiert hatte. Monatelang pendelte ich ständig zwischen ihrem und unserem Haus hin und her. Auch Guido engagierte sich mit vollem Einsatz.
»Hast du überhaupt noch Lust auf eine Hochzeitsreise, nach all den Jahren? Hat die nicht auch ein Verfallsdatum?«, fragte mich meine Freundin Bärbel neulich provokant und schob dann nach: »Ich hätte keine Lust mehr auf Flitterwochen mit meinem Berti. Das käme mir ja direkt lächerlich vor, so wenig, wie wir uns noch zu sagen haben.«
»Na ja, ich weiß nicht, vielleicht wäre es gerade deshalb wichtig? Die Stadt der Liebe, der Romantik, l’amour toujours … Sicher inspirierend und animierend …« Leise sang ich: »Ganz Paris träumt von der Liebe …«
Bärbel lachte nur und winkte ab.
Und sie hat natürlich recht. Eine Reise nach Paris hätte vor dreißig Jahren eine andere Bedeutung gehabt als heute. In meiner romantischen Vorstellung sah ich uns damals Hand in Hand durch malerische kleine Gassen der riesigen Stadt bummeln, verliebt in traditionellen Bistros herumschmusen, Liebesschwüre auf dem Eiffelturm austauschen. Ich freute mich auf das Nachtleben, auf stimmungsvolle Candle-Light-Dinners und erotische Abendshows, lange Spaziergänge an der Seine, eng umschlungenes Tanzen in schummrigen Bars.
Heute wäre es einfach eine Städtereise, das Einlösen eines Versprechens und – ja – doch irgendwie auch ein Bekenntnis zu mir. Ich weiß, Guido ist Paris nicht wichtig, aber er weiß, wie wichtig mir die Stadt ist. Und es reicht einfach nicht, wenn er mir Bettwäsche voller kleiner Eiffeltürme oder ein Goldkettchen mit einem zierlichen Eiffelturm-Anhänger schenkt. Das Gemälde im Wohnzimmer, das den Eiffelturm im Abendrot zeigt, war auch nur gut gemeint. Claire hatte als Kind sogar einen aufblasbaren Eiffelturm. Ich fands süß, als Guido damit ankam. Aber eben …
Vielleicht sollte ich meinem Guido mal die Bärbel-Frage stellen: »Hast du eigentlich noch Lust auf eine Hochzeitsreise mit mir?«
Aber will ich die Antwort auch wirklich hören?
Ich schicke die Lösungen für den Pariswettbewerb übers Internet ab und schwöre mir, diese Reise, sollte ich sie gewinnen, auch wirklich anzutreten, notfalls mutterseelenallein. Dann gehe ich schlafen. Morgen muss ich wieder um sieben zum Dienst antreten. Zum Glück bin ich bei der Cabrioseilbahn ganz oben eingeteilt. Das ist gut so, weil es möglicherweise ein wenig regnet. Beim oberen Dienst wird man immerhin nicht nass, weil man in der Gondel ein Dach über dem Kopf hat und nicht vorn im Regen stehen muss wie auf der Standseilbahn.
Es ist oft so, dass Guido erst heimkommt, wenn ich schon schlafe. Manchmal muss er auch mitten in der Nacht ausrücken. Darum haben wir getrennte Schlafzimmer. Heute werde ich allerdings wach, weil er um zwei Uhr morgens laut in der Küche herumhantiert. Ich höre, wie er vor sich hin schimpft. Das ist doch recht ungewöhnlich, und so stehe ich auf, um nachzuschauen, ob etwas passiert ist.
Mein Göttergatte sucht im Kühlschrank nach irgendwas.
»Hallo, Schatz«, sage ich.
Guido erschrickt, weil ich so unerwartet auftauche, und als er sich zu mir umdreht, geht es mir genauso, denn er sieht furchtbar aus.
»Jesses, was ist denn mit dir passiert?«, platzt es aus mir heraus.
»Schon gut, schon gut«, versucht er mich zu beruhigen. »Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
Mich beruhigen seine Worte gar nicht. Im Gegenteil.
»Hattest du eine Schlägerei?«, frage ich, allerdings im Scherz, denn mein Guido würde sich nie und nimmer prügeln. Ich schubse ihn vorsichtig weg vom Kühlschrank und hole den Eisbeutel aus dem Gefrierfach.
»Genau, den brauche ich«, sagt er.
Ja, das glaube ich allerdings auch.
»Setz dich hin«, fordere ich ihn auf.
Dann schaue ich mir sein Gesicht genauer an. Sein rechtes Auge ist praktisch ganz zugeschwollen, das Auge selber scheint aber nicht wirklich verletzt zu sein. Wenigstens, soweit ich das überhaupt beurteilen kann. Auch am Kinn hat er ein paar Kratzer. Vielleicht ist es wirklich nicht so schlimm.
Vorsichtig lege ich den Eisbeutel auf sein Auge.
»Es war ein Pferd«, schimpft er. »Ein verdammtes Pferd!«
Guido hasst Pferde. Zum Glück hat er auch selten mit ihnen zu tun. Pferde sind edel und teuer. Da lassen die Besitzer nicht den einfachen Feld-Wald-und-Wiesen-Tierarzt ran. Außer im Notfall.
»Gloria hat mich gebeten, mal kurz nach ihrem Hengst Hasso II. zu schauen. Der war aber eigentlich ganz fidel. Jedenfalls fit genug, um mich mit einem kurzen Schwung seines Schädels einfach umzunieten.«
Er lacht grimmig.
»Auf die Hufe habe ich ja aufgepasst. Aber nein. Mit dem Kopf! Gefällt wie einen Baum hat er mich. Zack. Ich hatte keine Chance.«
Ja, ja, Pferde sind doof. Aber Gloria – eine attraktive Frau, wohl die schönste hier weit und breit. Klar, dass jeder antanzt, wenn sie pfeift, sogar mein Guido, der große Pferdehasser.
»Bist du sicher, dass du keinen Arzt brauchst, Schatz?«, frage ich nun fürsorglich. Aber ich kenne die Antwort schon.
Und genau, sie kommt: »Ich bin Arzt!«
Wenn man schon so lange zusammen ist wie wir zwei, dann kennt man sich halt. Viele von Guidos Antworten könnte ich mit hundertprozentiger Treffsicherheit voraussagen. Warum frage ich dann noch? Selber schuld. Guido verarztet sich grundsätzlich selber, nimmt Medikamente, die eigentlich für Tiere vorgesehen wären. Auch Salben und Wickel verwendet er aus seiner eigenen Praxis. Und er hat damit meist Erfolg. Ich habe bei Gelenkschmerzen auch schon seine Salben ausprobiert, und sie waren keinesfalls schlechter als die von meinem Hausarzt – und auf jeden Fall nur halb so teuer.
»Ich musste mich bei Gloria kurz hinlegen, ging mir echt schlecht für einen Moment. Sie hat die kritischen Stellen desinfiziert und hat mir dann einen Schnaps gegeben. Das wird schon wieder. In Zukunft halte ich mich von Pferden fern, versprochen.«
»Und von Gloria bitte auch«, würde ich gern noch anfügen.
Früher war ich nicht eifersüchtig. Nie. Doch heute, da spüre ich manchmal kleine Stiche von Eifersucht, weil es zwischen Guido und mir nicht mehr ganz so rundläuft. Rund … ja, ich hingegen bin über die Jahre etwas zu rund geworden. Und dann kam diese Gloria daher: reich und schön, elegant und erfolgreich. Da mache ich mir halt schon Gedanken, wenn sie ständig die Nähe von Guido sucht. Und wenn sie es nicht schafft, ihn auf ihr Gestüt zu locken, dann bringt sie eben ihren Hund in die Praxis oder – wie neulich – eine ihr angeblich zugelaufene Schildkröte. Als würden einem Schildkröten zulaufen!? Mir ist das auf jeden Fall noch nie passiert.
Ich schenke meinem Mann ein Glas Rotwein ein, seinen Schlummertrunk, wie er das nennt, und lasse ihn von seiner anstrengenden Nacht erzählen. Die Kuh von Klaus Infanger musste ein totes Kalb gebären, was offenbar mit viel Mühe verbunden war. Der Pudel von Mary Amstutz wurde wahrscheinlich vergiftet und ist jetzt tot. Da musste Guido einen Bericht für die Polizei schreiben.
»Einem Menschen, der Tiere vergiftet, dem sollte man einfach ohne großen bürokratischen Aufwand das gleiche Gift zu fressen geben«, sagt er und gähnt.
Diesen Satz kenne ich schon, und ich verstehe Guidos Wut. Auch letzte Woche wieder lag auf einer Wiese beim Robinsonspielplatz ein mit Rasierklingen gespickter Cervelat. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was für Qualen ein Tier erleiden muss, das in so eine Wurst beißt.
Jetzt kramt Guido in seiner großen Ledertasche und holt eine Dose heraus. Großzügig verteilt er eine stinkende grüne Salbe über die lädierten Stellen in seinem Gesicht.
»Ich bin müde«, sagt er dann weinerlich.
Und so bringe ich ihn ins Bett, wie einen kleinen Jungen. Was er für mich manchmal auch ist. Liebevoll decke ich ihn zu und küsse ihn auf eine gesunde Stelle im Gesicht, streichle ihm übers Haar.
»Danke, Judith, du bist die Beste«, sagt er leise.
Und dann ist er auch schon eingeschlafen. Ich sitze noch eine Weile auf dem Bettrand, kontrolliere, ob Guidos Wecker gestellt ist, beobachte ihn beim Schlafen. Dann kippe ich das Fenster, ziehe den Vorhang zu.
Ich liebe Guido. Keine Frage. Nach all den Jahren noch. Nie habe ich unsere Beziehung hinterfragt oder angezweifelt. Guido ist ein guter Mensch, ein liebevoller Mann. Wir haben uns ein wenig auseinandergelebt, was leider vielen Paaren passiert, nach dreißig Ehejahren. Aber wir gehören zusammen. Für immer. Das ist eine Gewissheit, die mir guttut, ein sicherer Wert in meinem Leben.
Das Frühstück am frühen Morgen ist oft unsere einzige gemeinsame Mahlzeit. Immerhin so weit konnten wir unseren Lebensrhythmus aufeinander abstimmen. Guido hält beim Kaffeetrinken wieder den Eisbeutel aufs Auge. Es ist inzwischen blau geworden. Ein klassisches Veilchen.
»Scheißpferde«, schimpft er vor sich hin.
Ich lächle in mich hinein und hoffe, dass ihn dieses Erlebnis ein wenig von der schönen Gloria fernhalten wird.
»Ich habe heute Innendienst«, sagt er dann. »Du weißt: Hunde und Katzen kastrieren, impfen, entwurmen …«
Er lacht und verdreht die Augen. Lieber ist er halt unterwegs auf den Bauernhöfen, bei den großen, richtigen Tieren, den echten Herausforderungen, wie er immer wieder betont. Bei den Bauern halt. Und weg von den Frauchen und Herrchen mit ihrer – seiner Meinung nach – übertriebenen Tierliebe. Weg von all denen, die ihre Haustiere vermenschlichen, verziehen, verwöhnen und die von Guido oft mehr Zuwendung brauchen als ihr krankes Tier. Aber wir haben nun mal in der Schweiz bald zwei Millionen Katzen und jetzt schon rund eine halbe Million Hunde. In gut jedem dritten Haushalt lebt mindestens ein Haustier, auf dem Land sogar in mehr als jedem zweiten. Und – das habe ich neulich gelesen – wir Schweizer geben im Jahr weit über sechshundert Millionen Franken für unsere tierischen Freunde aus. Somit sind sie eben auch ein gutes Geschäft. Für Tierärzte sowieso. Diese Aussage würde Guido nicht gern hören, aber sie stimmt halt trotzdem.
Ich bin froh, dass ich ihn heute in der Praxis bei den verwöhnten Haustieren weiß, wo er seine Helferinnen um sich hat, die sich um ihn kümmern werden, falls er sich in seiner Selbstdiagnose etwas überschätzt hat.