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2 Königin der Lüfte

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Der schönste Job am Stanserhorn ist natürlich das Fahren der großen Cabrioseilbahn, der Stolz unseres Unternehmens. Sie bietet Platz für insgesamt sechzig Personen und – das ist der Clou – ist die einzige Seilbahn der Welt mit einer Dachterrasse. Das ist einer der Gründe, warum seit Juni 2012 noch mehr Menschen aus aller Welt auf das Stanserhorn kommen, wo es doch rundherum auch noch diverse andere wunderschöne Ausflugsziele gibt: den Pilatus, die Rigi, den Titlis, den Bürgenstock. Dazu den Vierwaldstättersee mit seinen historischen Dampfschiffen. Wir leben wirklich im Paradies. Das denke ich zumindest jedes Mal, wenn ich mit meiner Seilbahn unterwegs bin. Und das bestätigen mir meine Gäste jeden Tag. Ich habe den Arbeitsplatz mit der großartigsten Aussicht, und diese hat jeden Tag wieder ihren neuen Reiz. Sie verändert sich je nach Wetter, Tageszeit, Jahreszeit, und ich kann mich nie daran sattsehen. Meine Facebook-Freunde müssen sich fast täglich irgendein Foto anschauen, das ich während der Arbeit aus der Seilbahn heraus mache, und das auch an Tagen, wo es nichts zu sehen gibt außer Nebel. Ja, ich habe einen herrlichen Job, um den mich viele beneiden. Zu Recht. Ich fühle mich wie die Königin der Lüfte.

Trotzdem ist es Arbeit. Die Bahn fährt zwischen der Mittelstation Kälti auf 700 Metern und dem Stanserhorn auf 1900 Metern rauf und runter, und wie gesagt, dieser ständige Höhenunterschied macht müde. Außerdem habe ich am Morgen, nachdem die Nothalte-, die Funk- und Telefontests gemacht sind, ein kleines Fitnessprogramm zu absolvieren: putzen. Die hölzernen Stufen der Wendeltreppe, die vom ersten Stock auf die Dachterrasse führt, sind immer besonders schmutzig. Außerdem sind die riesigen Fenster verschmiert und mit allerlei Substanzen verklebt, und die vielen Chromstahlgeländer müssen gereinigt und desinfiziert werden. Doch das alles mache ich gern. Am Morgen fährt man ja meist leer von oben nach unten und hat also Zeit für solche Reinigungsarbeiten.

Putzen mit Aussicht.

Putzen mit Weitsicht.

Es macht mir wesentlich mehr Spaß als daheim in den eigenen vier Wänden.

Heute kommt diese Arbeit ein wenig zu kurz, weil meine Freundin Bärbel, die eine Saisonkarte von mir zum Geburtstag bekommen hat, mehrmals mit mir hoch- und wieder runterfährt. Das sieht die Direktion natürlich nicht gern, aber Bärbel kümmert das nicht, denn sie hat Gesprächsbedarf und ist furchtbar aufgewühlt. Ich glaube, sie hat geweint. Viel geweint. Jedenfalls sieht sie so aus. Ihre immer so sorgfältig gepflegte Föhnfrisur, für die ich sie oft beneide, sieht ziemlich verwildert aus. Die Zeichen stehen also auf Sturm.

»Du bist schuld, Judith!«, sagt sie gleich mal provozierend.

»Aha!«, kommentiere ich da nur und reibe an einem besonders hartnäckigen Flecken an der Schiebetür herum.

Bärbel doppelt nach: »Ich hatte einen furchtbaren Streit mit Berti. Deinetwegen!«

»Soso«, murmle ich in meinen nicht vorhandenen Bart.

Ich lasse mich doch von ihr nicht provozieren. Was sollte ich denn getan oder gesagt haben, das ihr Liebesleben betrifft? Was habe oder hatte ich jemals mit Berti zu tun? Wenn ich es mir so richtig überlege, waren meine Gespräche mit ihm bisher sehr oberflächlich. Ich putze weiter und warte auf irgendeine schlüssige Erklärung, auf die ich wirklich reagieren kann.

Und dann geht Bärbel endlich ins Detail: »Wir haben über deine blöde Hochzeitsreise gesprochen. Und ich fragte Berti, ob er denn noch Lust hätte, mit mir eine Hochzeitsreise zu machen, mit Romantik und so, nach all den Jahren. Ich könne mir das irgendwie gar nicht richtig vorstellen, wie man nach dreißig Ehejahren die Hochzeitsreise nachholen könne.«

Jetzt schaue ich sie doch aufmerksam an und stelle das Putzen ein.

»Er hat laut gelacht. Er hat mich ausgelacht. Ich solle nicht albern sein. Albern! So ein richtiges Paar seien wir ja sowieso nicht mehr.« Daraufhin hätten sie ein stundenlanges Gespräch gehabt, offen, ehrlich und schonungslos. Bärbel klagt mich an: »Du bist schuld! Sonst hätten wir weitergemacht wie bisher, ohne Worte nebeneinanderher gelebt. Jetzt, wo wir so vieles ausgesprochen haben, scheint mir unsere Ehe irreparabel beschädigt zu sein. Wieso sollen wir zusammenbleiben, wenn wir keine Liebe mehr füreinander empfinden?«

Im Kälti angekommen, öffne ich die Schiebetüren. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit. Siebenundzwanzig Amerikaner steigen ein. Sie werden vom Reiseleiter Jordan begleitet, den ich inzwischen gut kenne. Wir begrüßen uns freundlich. Die Gäste stürmen aufs Oberdeck, Jordan lacht und folgt ihnen leichtfüßig die Treppe hoch. Um diese Gruppe muss ich mich nicht kümmern. Jordan wird ihnen alles erzählen und erklären, wird sie mit seinem Charme einwickeln. Da störe ich nur. Ich schließe die Glastüren. Simon, der Maschinist, winkt mir zu. Ich gebe das »Bereit« in den Bordcomputer ein, warte das Aufleuchten des »Gegenbereit« ab und drücke dann den Startbefehl. Während ich das Feld für die Statistik bearbeite, das heißt, die Zahl 27 eintippe, heben wir schon ab und gondeln dem Gipfel entgegen.

Jetzt habe ich wieder Zeit für meine Freundin. Ihre Worte haben mich erschüttert.

»Du, Bärbel, das tut mir total leid. Aber was soll ich dazu sagen? Du weißt, meine Ehe ist auch ein wenig lauwarm. Ich wünschte mir manchmal so ein Gespräch, wie ihr es geführt habt. Allerdings hast du mir jetzt grad Angst davor gemacht. Und denkst du nicht, dass am Ende, wenn die Emotionen sich etwas beruhigt haben, das Gespräch doch irgendwie gut war? Vielleicht ist dann eine Art Neuanfang möglich?«

Sie schüttelt resigniert den Kopf, und Tränen laufen ihr übers Gesicht. Ich insistiere weiter: »Das kann ich einfach nicht glauben. Jeder Therapeut sagt doch: Reden, reden, reden. Das habt ihr jetzt gemacht. Vorbildlich. Also warte es doch mal ab.«

Bärbel schnäuzt sich lautstark die Nase.

Sie erklärt: »Ich denke gerade über einen wirklichen Neuanfang nach. Einen ganz ohne Berti.«

Oh.

Jetzt fühle ich mich wirklich einen kleinen Moment lang schuldig. Aber nur einen winzig kleinen. Denn sofort stellt sich mir die Frage: Kann es wirklich besser sein, nicht zu wissen, was der andere denkt und fühlt? Ein Zusammenleben im Nebel? Kann ein offenes Gespräch so viel zerstören? Eigentlich war doch wohl schon alles vorbei, man hatte, was geschehen war, nur noch nicht in Worte gefasst. Trotzdem musste das nicht Ausgesprochene doch ständig in der Luft hängen. Erstaunlich, dass die beiden noch atmen konnten.

Das alles behalte ich für mich, es gibt im Moment nichts mehr zu reden. Bärbel nimmt einen Putzlappen und putzt, als gäbe es kein Morgen. Sie findet das hinterletzte Hundehaar und das winzigste Steinchen unter der Holzbank. Ich habe die sauberste Seilbahn der Welt, als Bärbel sie verlässt, um arbeiten zu gehen. Ich drücke meine Freundin noch einmal fest an mich.

»Du kannst immer auf mich zählen!«, verspreche ich ihr, worauf sie ein wenig lächelt.

Es ist ein schiefes Lächeln, das mir im Herzen wehtut.

Bärbel ist meine beste Freundin. Meine einzige Freundin. Wenn es ihr so schlecht geht, dann bedrückt mich das auch. Wir haben uns vor dreißig Jahren kennen gelernt, vor einer halben Ewigkeit also. Sie war wegen Berti nach Stans gezogen, ich wegen Guido, und wir fühlten uns beide ein wenig verlassen, hatten noch keine Kontakte. Wir lernten uns im Spital kennen, im Wochenbett. Bärbel bekam Josy, ich Claire. Es war wie ein Zeichen, das wir dankbar annahmen. Seither sind wir unzertrennlich.

Jetzt lässt sie mich nachdenklich zurück, und ich bin froh um jede Touristengruppe, die heute kommt und mich beschäftigt.

Irgendwann beginnt es zu regnen, und trotzdem bestehen die Gäste auf einem Besuch auf dem Dach.

»Wir haben das schließlich bezahlt!«, erklärt mir eine junge Frau aus Deutschland.

Dabei gibt es auch da oben überhaupt keine Aussicht mehr. Gar keine. Wir fahren durch Regenwolken. Ich trockne ständig die nasse Treppe, schaue, dass das Wasser nicht in die Elektronik hineinrinnt. Es gibt aber Leute, die so eine Fahrt im Regen richtig genießen. Es darf sogar kalt sein.

»Kühl ist cool«, meinte eine Inderin neulich. Sie genoss es, durch die Regenwolken zu fahren. In ihrem Heimatland hätten sie gerade vierzig Grad.

Nein, so viel Hitze braucht wirklich keiner. Es reicht, dass auch unsere Sommer immer heißer werden. Trotzdem: Wenn es stärker regnet, richtig schüttet, vielleicht auch noch windet, dann müssen wir das Dach schließen. Und ich muss die Proteste der Touristen dann charmant weglächeln. Aber so was kann ich.

Nach Feierabend spaziere ich kurz am Bahnhof vorbei, um zu schauen, wie es Bärbel geht. Sie führt den Bahnhofkiosk und ist grad ganz schön beschäftigt. Darum blättere ich in ein paar Zeitschriften, bis sie Zeit für ein paar Worte findet.

Ha!

Ich dachte es ja schon immer, aber jetzt weiß ich es ganz sicher, weil es hier steht, in dieser bunten Illustrierten: »Mehr Sex in roter Bettwäsche!«

Die Schlagzeile macht mich neugierig, und so überfliege ich den Artikel, der alles darüber weiß, welche Farbe man bei welchen sexuellen Problemen für die Bettwäsche wählen soll. Ist es nicht wunderbar, wenn die Welt und das Leben einem so einfach erklärt werden? Bisher habe ich mir noch nie Gedanken über die Farbe meiner Bettwäsche gemacht.

»Sexprobleme, liebe Judith? Habt ihr überhaupt noch Sex?«, fragt mich Bärbel belustigt, die nun kurz für mich Zeit findet und mir über die Schulter schaut.

»Nun, hätte ich Sexprobleme, fände ich hier ja die Lösung«, gebe ich lachend zurück.

Bärbel erklärt grinsend, dass sie auch immer viel aus diesen Zeitschriften lerne.

Ich frage sie ernst: »Kannst du arbeiten? Geht es?«

Sie nickt und sagt: »Ich bin ein großes Mädchen. Arbeiten geht immer. Arbeiten hält die Welt zusammen.«

Und schon kommt wieder Kundschaft.

Von der Ansichtskarte über Zigaretten, vom Apfel bis zur Zeitung: Bei Bärbel kann man alles kaufen. Ich beobachte sie eine Weile und denke, dass sie mir ähnlich ist. Sie funktioniert auch in Situationen wie dieser. Sie strahlt und lächelt, albert mit Stammkunden herum, hört ihnen zu.

Dabei weint sie innerlich.

Eine starke Frau.

»Arbeiten hält die Welt zusammen« – dieser Satz könnte von mir stammen. Aber was sagt er über Bärbel und mich aus?

Irgendetwas gefällt mir daran nicht, ich weiß nur noch nicht, was. Wahrscheinlich möchte ich einfach, dass andere Dinge meine Welt zusammenhalten. Liebe und Geborgenheit zum Beispiel. Ich bin wohl ein Weichei.

Gerade will ich mich davonstehlen, da stellt sich mir ein pickelgesichtiger Junge mit Stachelhaarfrisur in den Weg.

»Können Sie mir helfen?«, fragt er, und weil ich denke, dass er mich anbetteln will, habe ich schon das böse Nein auf der Zunge. Er aber erklärt schnell: »Ich möchte ein Glückslos kaufen, aber die dürfen das erst an Leute ab achtzehn Jahren abgeben.«

Er hält mir fünf Franken hin.

»Wie alt bist du denn?«

»Vierzehn.«

»Und was kostet das Los?«

»Fünf Franken.«

Nun, es mag sicher gute Gründe geben, diese Lose erst an mindestens Achtzehnjährige zu verkaufen. Ich habe noch nie eines gekauft, kann also nicht mitreden. Viel Zeit zum Überlegen habe ich nicht, und der Junge ist ja nicht mein Kind. Ob das nun pädagogisch wertvoll ist oder nicht, ist mir eigentlich grad egal. Klar, ich würde ihm keinen Alkohol und keine Zigaretten kaufen. Aber ein winziges, kleines Glückslos? Ich mache es einfach und kaufe ihm das Los. Bärbel lächelt, denn sie kennt den Trick und den Jungen auch.

»Hat er dich rumgekriegt? Er findet immer ein Opfer.«

»Ist das schlimm?«

»Nicht wirklich.«

Bärbel zuckt mit den Achseln.

Ich reiche dem Jungen sein Los. Er nimmt es dankend entgegen und rennt davon.

»Gib mir doch auch so ein Los«, sage ich spontan und beschließe, auch meinem Glück eine Chance zu geben.

»Echt jetzt?«, wundert sich Bärbel.

»Jawohl. Am besten zwei!«

Sie reicht mir kopfschüttelnd die Lose, und ich gebe ihr eines zurück, nachdem ich bezahlt habe.

»Das ist für dich, Bärbel. Vielleicht hast du ja Glück im Spiel?«

Ich bekomme ein gequältes Lächeln als Antwort, aber sie nimmt das Los und steckt es in ihre Jeans.

Fünf Franken für ein Stückchen Hoffnung, einen kleinen Traum. Man könnte zehntausend Franken gewinnen. Oder im noch besseren Fall, sozusagen als Topgewinn, zwanzig Jahre lang jeden Monat viertausend Franken.

Wahnsinn!

Jeden Monat viertausend Franken!

Vielleicht ist es fünf Franken wert, dieses berauschende Gefühl der Hoffnung auf das große Glück. Wenn man natürlich am Ende eine Niete gezogen hat, dann hat diese Enttäuschung fünf Franken gekostet und war ein schlechtes Geschäft.

Zu Hause bin ich allein. Kein Guido weit und breit. Ich schäle mich aus der Uniform, ziehe Jeans und Bluse an und lege mich auf das Sofa. Meine müden Beine freuen sich. Einfach einen Moment lang liegen. Eine kleine Weile nichts tun. So viel Luxus muss sein nach einem langen Arbeitstag.

Ich muss wohl eingenickt sein, denn ich erwache, als jemand mein Gesicht ableckt. Oder ist das noch ein Stück schräger, abartiger Traum, der mich ins Erwachen begleitet?

Nein! Wäh!

Da ist eine Zunge in meinem Gesicht!

Ich schüttle mich und setze mich auf.

Ein Hund!

Er bellt und wedelt mit dem Schwanz.

Ich putze mir verärgert mit dem Ärmel meiner Bluse die Hundespucke aus dem Gesicht. Was macht der Hund hier? Ich weiß die Antwort schon, bevor sich die Frage in meinem Kopf wirklich breitgemacht hat: Guido hat mal wieder einen Gast aufgenommen. Aus irgendeinem Grund, den er mir bei Gelegenheit verraten wird. Wir hatten schon die unglaublichsten Hausgäste: Springmäuse, eine alte, riesige Echse und eine Zeit lang sogar einen Papagei, der mich wirklich nur genervt hat mit seinem Lärm, seinem Geschnatter, seinem Gehabe. Gut, wenn ich ein Papagei wäre und jemand würde mich in einen Käfig sperren, dann würde ich mich auch rächen und den Leuten im Haus das Leben möglichst schwer machen wollen. Wie kann man Vögel in Käfigen halten?!

Ganz anders dieser Hund hier. Er rennt gerade aufgeregt durchs Haus und scheint sich wohlzufühlen bei uns.

»Guido!«, rufe ich vorwurfsvoll.

Kein Lebenszeichen.

Mein Gatte hat mir einfach einen Hund ins Wohnzimmer gestellt, während ich ein Nickerchen gemacht habe, und ist wieder gegangen? Auch nicht etwas, das ich nicht schon kenne. Als Frau eines Tierarztes trägt man vieles mit.

Jetzt sitzt der kleine Hund wieder vor mir und schaut mich erwartungsvoll an. Was will er? Spielen, essen, Gassi gehen? Vorsichtig streichle ich ihn und schaue mir sein Halsband genauer an.

»Soso, du heißt also Jacky.«

Der Kleine bellt aufgeregt. Sein Name wurde wohl von seiner Rasse abgeleitet. Viel weiß ich zwar nicht von Hunden, aber einen Jack Russell Terrier erkenne sogar ich: kleine weiße Hunde mit ein paar wenigen braunen oder schwarzen Flecken. Jacky hat fast schwarze Ohren und einen Blick, mit dem er wohl von jedem Herrchen immer und zu jeder Zeit bekommt, was er will.

Ich stehe auf, vergesse meine Müdigkeit, hole eine Hundeleine – was bei uns immer vorrätig ist – und mache mich mit dem Vierbeiner auf den Weg nach draußen. Der Abend ist wunderschön. Ich spaziere durchs Dorf zur Praxis von Guido. Immerhin braucht der Gast ja sicher auch noch Futter, und ich möchte schon gern wissen, wie lange Jacky bei uns bleibt.

Wir bummeln durch Stans. Hier kenne ich jede Ecke, jeden Laden, fast jeden Einwohner. Ich grüße und werde gegrüßt, wechsle da und dort ein paar Worte. Man kennt mich als die Frau vom Tierarzt und als die Bähnlerin vom Stanserhorn. In Stans lässt es sich gut leben. Grad genug weit weg von Luzern, damit der Ort nicht ausblutet und sich alles nach Luzern verlagern würde, vom Einkaufen bis zur Kultur. Und doch sehr nahe bei der Stadt, woraus sich endlos viele Möglichkeiten ergeben. Wir haben die Berge, die Hügel, die Wiesen, und der See ist zum Greifen nah.

Guido sehe ich schon von weitem vor seiner Praxis stehen. Vielleicht hat er gerade Feierabend. Das wäre schön. Aber er ist nicht allein. Gloria steht neben ihm. Sie unterhalten sich unverfänglich. Ich sollte da nicht zu viel hineininterpretieren und damit meiner Eifersucht Nahrung geben. Aber ich sehe meinen Mann lachen und scherzen und frage mich, wann er mir gegenüber zum letzten Mal so charmant war, wann er das letzte Mal in einem Gespräch mit mir so gestrahlt hat. Das tut weh.

»Schau mal«, ruft Gloria erfreut, als sie mich mit dem Hund sieht – ich glaube, ihre Freude bezieht sich vor allem auf den Hund –, »schau, da ist ja Jacky!«

Der untreue Hund will sofort nichts mehr von mir wissen, und als ich ihn schließlich loslasse, rast er auf Gloria zu, wedelt, bellt und leckt ihre Hände.

Warum nur fliegen alle auf Gloria?

Sogar Hunde!

Ich bin kurzfristig ein wenig beleidigt.

Guido reagiert ungerührt und sagt, Gloria zugewandt: »Ich habe es dir doch gesagt: Ich wusste nicht, wem der Hund gehört, und weil ich wegmusste, habe ich ihn einfach mal meiner Judith anvertraut.«

Jetzt, wo ich bei ihm angekommen bin, legt er seinen Arm um mich und zieht mich an sich, küsst mich sogar. Wem will er damit etwas beweisen oder sagen? Ich bin verwirrt.

»Schon gut«, winkt Gloria großzügig ab. »Er ist nur zu Besuch. Ein Feriengast sozusagen. Vielen Dank, Frau Flury. Sehr nett, dass Sie sich gekümmert haben.«

Sie reicht mir ihre Hand und mustert mich. Gut, ich mustere sie auch, das gebe ich gern zu. Bei ihr gibt es ja auch etwas zu sehen. In den Reithosen, die sie trägt, macht sie – wie gewohnt – eine gute Figur. Sie hat einen knackigen Hintern, eine beneidenswerte Taille, einen erstaunlichen Busen. Und ihre Haut sieht aus, als wäre sie nie der Sonne ausgesetzt, dabei ist Gloria beim Reiten doch ständig draußen. Keine Ahnung, wie sie das macht. Ich bin immer viel zu braun, sommersprossig, und meine Nase wird gern leicht rot, wofür mich mein Guido ständig neckt. Meine krausen Haare sind schnell ausgebleicht von der ständigen Sonnenbestrahlung, manchmal auch trocken, wie ein Besen, kaum zu bändigen. Glorias schwarz gefärbte Haare sind dagegen straff zu einem Zopf geflochten und geben ihr zartes Gesicht frei.

Gloria ist ein Dornröschen. Oder ein Schneewittchen.

Dagegen bin ich bloß ein fröhlicher, liebenswerter Pumuckl.

Aber immerhin: Sie zieht mit ihrem Jacky von dannen, und Guido spaziert Hand in Hand mit mir heimwärts.

»Wollen wir in der ›Linde‹ essen gehen? Wir könnten ein wenig draußen sitzen, ein Glas Wein trinken? Was meinst du, Judith?«, fragt Guido, und seine Spontanität überrascht mich. »Muss nicht sein, wenn du zu müde bist«, sagt er schnell, weil ich nicht sofort reagiere.

Ich küsse ihn mitten auf der Straße auf die Nasenspitze und sage: »Eine wunderschöne Idee.« Aber ich erlaube mir dann doch zu fragen: »Muss ich mir Sorgen machen wegen Gloria? Gibt es da etwas, das ich wissen muss?«

Eine mutige Frage. Vielleicht auch eine dumme Frage. Schließlich würde er kaum zugeben, wenn da etwas wäre.

Er zuckt mit den Achseln und sagt: »Ja, weißt du, ich glaube … also … sie schleicht schon auffallend oft um mich herum. Keine Ahnung, warum sie sich auf mich eingeschossen hat. Ich mag ja nicht einmal ihre Pferde. Es war gut, dass sie uns zusammen gesehen hat.«

Ich lächle in mich hinein, denn ich weiß natürlich, warum Gloria sich auf Guido »eingeschossen« hat. Das hat nichts mit Pferden zu tun. Guido ist ein intelligenter, charmanter, witziger, attraktiver Mann. Und Gloria ist weder blind noch blöd. Möglicherweise ein wenig überheblich, weil sie denkt, dass sie alles haben kann, auch den Mann, der mit mir verheiratet ist.

Guido und ich verbringen einen schönen Abend in Stans, sitzen auf der »Linden«-Terrasse im Schatten alter Bäume mit Sicht auf die Kirche Sankt Peter und Paul. Ein besonderer Platz. Nachdem im März 1713 ein Großbrand das Dorf Stans zerstört hatte – einundachtzig Häuser brannten innert weniger Stunden nieder –, wurden die Ruinen vor der Kirche ganz abgerissen und ein großzügiger Dorfplatz geschaffen. Die umliegenden Häuser hingegen wurden nach einheitlichen Vorgaben wiederaufgebaut. Schön, dass dieser Platz heute noch lebt und ein wesentlicher Teil unseres Dorfes geblieben ist.

Wir sitzen entspannt da.

Ganz entspannt.

Sehen und gesehen werden.

Wir essen ein Ennetmooser Saiblingsfilet und trinken eine Flasche Luzerner Seelagen-Cuvée dazu. Immer wieder kommt jemand an unseren Tisch, um ein paar Worte zu wechseln. Natürlich muss sich Guido viele Sprüche wegen seines blauen Auges anhören. Wir lachen einfach mit. Ich fühle mich wohl, lehne mich ab und zu an die Schulter meines Mannes. Das fühlt sich gut an. Und richtig.

Nein, wir sind kein hoffnungsloser Fall, Guido und ich. Wir sind noch immer ein Paar. Zu Hause gehen wir diesmal nicht in unsere getrennten Schlafzimmer. In unserem zärtlichen Liebesspiel ist noch sehr viel Feuer, nicht bloß lauwarme Asche.

Paris

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