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3 Ungelegte Eier
ОглавлениеAm nächsten Morgen kann ich es fast nicht glauben, dass ich in Guidos Armen liege. Was für ein glückliches Erwachen! Ein guter Start in einen neuen Tag – leider kommt er so nur noch selten vor. Allerdings ist Guido gar nicht mehr romantisch gestimmt. Sein Auge schmerzt, und er fragt sich nun selber, ob ein Arztbesuch nicht doch besser gewesen wäre. Was soll ich dazu sagen? Natürlich hätte ich einen wunderbar passenden Kommentar auf der Zunge, schweige aber lieber. Jedes Wort wäre falsch.
Mein Mann schimpft schlecht gelaunt vor sich hin, und ich bin froh, dass er früh das Haus verlässt. Immerhin haucht er mir vorher noch schnell einen Kuss auf die Lippen.
Konnte er kein bisschen von dem Glücksgefühl der vergangenen Nacht in den heutigen Morgen hinüberretten? Oder gab es nur bei mir Glücksgefühle, und ihn hatte einfach der Alkohol beflügelt?
Etwas verloren und ernüchtert sitze ich mit meinem Milchkaffee am Frühstückstisch. Im Radio singt Michy Reincke, dass er mit einem Taxi nach Paris fahren will, nur für einen Tag, weil er Paris nun mal so mag. Ein bescheidener Song der längst aufgelösten Popgruppe Felix de Luxe, weder geistreich noch musikalisch, aber er schenkt mir immerhin ein winziges Lächeln.
Vielleicht sollte ich mir auch einmal so ein Taxi nehmen.
Nur für einen Tag.
Oder gleich für länger.
je réfléchis | ich denke nach |
j’ai réfléchi | ich habe nachgedacht |
je réfléchissais | ich dachte nach |
je réfléchirai | ich werde nachdenken |
je réfléchirais | ich würde nachdenken |
j’aurais réfléchi | ich hätte nachgedacht |
j’aurai réfléchi | ich werde nachgedacht haben |
Manchmal, wenn es mir schwerfällt, meine Gefühle zu sortieren, ich besonders verwirrt oder auch nur gelangweilt bin, jongliere ich mit französischen Verben und lerne neue dazu. Ich könnte auch von hundert rückwärtszählen oder eine Tasse Tee trinken. Mir tut die französische Sprache gut.
Ab und zu haben auch Schimpfwörter einen therapeutischen Wert, vor allem wenn ich sie laut hinausbrülle.
Merde!
Nom d’une pipe!
Bordel de merde!
Ja, ich lerne Französisch. Wieder. In der Schule war das nicht gerade meine Lieblingssprache. Heute lerne ich völlig anders, nur das, was mich interessiert, nur dann, wenn ich Lust habe, ohne jeden Druck. Einfach so, für den Tag X, an dem ich in Paris stehe und mich verlaufen habe oder mir eine Pizza bestellen will. Gut, dann nützen Verben wie »nachdenken« und vor allem so ausgefallene Zeitformen wie »ich hätte nachgedacht« wenig. Aber in der Schule, da haben wir noch viel, viel Unsinnigeres gelernt.
Jean mange une orange. | Hans isst eine Orange. |
Jean aurait mangé une orange. | Hans hätte eine Orange gegessen. |
Einmal pro Woche leiste ich mir eine Skype-Schaltung zu Pierre aus Paris. Er gehört zu einer Online-Sprachschule. Ich konnte mir unter diversen Lehrern einen aussuchen. Meine Wahl fiel auf Pierre, weil er tatsächlich aus Paris kommt. Es gab da noch Jean, der von Polen aus unterrichtet, oder Rahel, die heute in Spanien lebt. Und viele andere Franzosen. Aber eben nur einen Pierre aus Paris. Er spricht ein wenig Deutsch, was manchmal hilfreich ist. Und ich höre ihn gern deutsch sprechen, denn er hat genau diesen süßen Akzent, den wir bei den Franzosen so lieben.
Pierre ist charmant, gut aussehend, witzig, und er flirtet manchmal mit mir. Das gehört wohl zu seinem Geschäftsmodell, da mache ich mir nichts vor – er will ja, dass ich immer wieder Stunden bei ihm buche. Trotzdem ist er sehr diskret und verschwiegen. Von seinem Privatleben weiß ich gar nichts, kenne nicht einmal seinen Nachnamen. Schon wenn ich bloß wissen will, wie das Wetter in Paris ist, lenkt er ab und findet, das Wetter in Stans sei doch viel wichtiger. Wir reden einfach, damit geredet wird. Vor allem ich. Deshalb habe ich diese Stunden ja auch gebucht. Konversation.
Pierre weiß wohl bald einmal alles über mich. Vor allem kann er all die Texte längst mitsprechen, die ich auf der Seilbahn vor meinen Gästen aufsagen muss. Wenn uns trotzdem mal der Gesprächsstoff ausgeht, übersetzen wir schnulzige französische Chansons, die ich dann in der Seilbahn singe, wenn sie leer ist. Pierre ist großartig und die wöchentliche Stunde mit ihm ein Höhepunkt. Bärbel lacht mich oft aus deswegen.
»Weißt du, ich überlege mir ernsthaft, auch irgendeine Sprache zu lernen«, meinte sie dann aber neulich. »Ich möchte auch so einen charmanten Skype-Freund haben. So eine digitale Bekanntschaft ist vielleicht besser als ein Liebhaber und könnte sogar den Therapeuten ersetzen, wenn man ihn als Kummerkasten missbraucht.«
Und Guido hat einmal höchstpersönlich seinen Kopf in die Kamera gehalten und in seinem schönsten Schulfranzösisch ein paar Grußworte gesprochen. Das kam mir ein wenig vor, als wollte er sein Gelände markieren. Seither lässt er mich lächelnd gewähren.
Ja, ja: Gertrude töpfert, und ich lerne Französisch …
Pierre aus Paris weiß inzwischen also fast alles über mich und alles über das Stanserhorn. Und mich hat er so weit gebracht, dass ich keine Hemmungen mehr habe, mit meinen französischen Gästen zu plaudern. Das war doch eigentlich der Sinn der Sache. Natürlich hört man immer noch, dass ich eine Deutschschweizerin bin, aber das darf man auch.
Pling!
Oh, eine Nachricht von Bärbel.
»Mein Los war eine Niete. Hoffe nun auf Glück in der Liebe. Und du? Schon reich?«, schreibt sie mir übers Handy.
Ach ja, das Los. Ich hatte es total vergessen.
Jetzt will ich natürlich auch wissen, ob ich vielleicht schon reich bin. Ich krame das Los aus meiner Umhängetasche, setze mich an den Küchentisch und lese zuerst einmal die Erklärungen und das Kleingedruckte.
»Zwanzig Jahre lang Monat für Monat viertausend Franken«, wird einem versprochen. Wow, ein großartiger Hauptgewinn! Rubbelt man dreimal das Wort »WIN« auf, hat man den Hauptpreis gewonnen, die monatlichen viertausend Franken. Es gibt auch einmalig kleinere und größere Summen zu gewinnen. Doch wen interessiert schon irgendeine Summe, wenn er den Hauptgewinn haben möchte?
Ich atme tief durch.
Dann rubble ich vorsichtig und andächtig mit einem Einfränkler die Silberfolie auf meinem Los weg.
Und plötzlich steht es da:
WIN WIN WIN.
Dreimal!!!
Ich lese noch einmal die Erklärungen.
»Finden Sie dreimal das Wort ›WIN‹, so gewinnen Sie viertausend Franken monatlich während zwanzig Jahren.«
WIN WIN WIN.
Es ist eigentlich eindeutig, ich glaube es nur irgendwie nicht. Wie könnte ich auch: Ich habe noch nie etwas gewonnen. Doch, einmal, als junge Frau. Da habe ich im Pfarrei-Lotto eine riesengroße Salami mit nach Hause nehmen dürfen. Seither hatte ich nur Glück in der Liebe.
WIN WIN WIN.
Ich schaue um mich, glaube fast, von irgendwem verschaukelt zu werden. Aber da ist keiner. Da ist nur dieses Los, das vor mir auf dem Tisch liegt und mich anlacht.
WIN WIN WIN.
Bedeutet das jetzt wirklich, dass ich zwanzig Jahre lang viertausend Franken im Monat bekomme?
Ich glaube schon.
Ziemlich sicher.
Ich habe den Hauptgewinn geknackt.
Ich weiß, ich sollte jetzt schreiend durch das Haus tanzen. Ich könnte Bärbel und Guido anrufen, meiner Tochter Claire Bescheid geben oder einfach einen öffentlichen Facebook-Eintrag machen. Stattdessen bleibe ich wie versteinert am Küchentisch sitzen. Es ist so unglaublich, so unfassbar. Ich glaube, ich stehe unter Schock.
Ein unerklärliches Misstrauen macht sich in mir breit. Wird mir so ein Gewinn wirklich Glück bringen? Keine Ahnung, warum ich das denke. Viertausend Franken im Monat sind für eine Bähnlerin verdammt viel Geld. Die Löhne bei Bergbahnen sind eher bescheiden. Und am Stanserhorn verdiene ich im Winter jeweils gar nichts, weil die Bahnen nur im Sommer unterwegs sind. Viertausend Franken im Monat, das ist wie eine Lottomillion, nur irgendwie fast mehr, weil das Geld in Raten und regelmäßig kommen soll. Wird das wirklich funktionieren? Ist auf so ein Versprechen Verlass? Ist das seriös? Könnte man die Summe einklagen, wenn sie auf einmal ausbliebe? Wenn das wirklich wahr ist: Dieser Gewinn würde mich bis weit über meine Pensionierung begleiten. Wahnsinn!
Ich sitze immer noch einfach so da.
Still und bewegungslos.
Erst ganz langsam empfinde ich Freude und Glück. Die schönen Gefühle kommen langsam über mich, wie ein warmer Sommerregen. Und ich fange an zu weinen. Nur so ein bisschen. Der Situation angemessen.
Ich muss nämlich ganz fest an meine Mutter denken, die sich zeitlebens immer um ihr Auskommen gesorgt hat, die sogar im Altersheim, schon leicht verwirrt, immer befürchtete, ihre Finanzen würden für ihren Lebensunterhalt nicht ausreichen. Dabei hatte sie inzwischen eine ganz ordentliche Summe auf ihrem Bankkonto. Aber sie war arm aufgewachsen, sehr arm, und sie konnte ihre Angst davor, wieder nichts zu haben, nie ganz ablegen, obwohl mein Vater als Apotheker sehr gut verdient hatte. Und sie gab mir diese Angst mit auf meinen Lebensweg.
Jetzt aber würde sich meine Mutter viel enthusiastischer freuen als ich. Sie würde Feuerwerk entzünden, eine Blaskapelle engagieren, die internationale Presse zu einem Imbiss einladen. Endlich müsste sie sich kein bisschen mehr um mich sorgen. Ich weiß noch, wie glücklich sie war, als ich Guido heiratete. Mir selber traute sie nämlich nicht so recht über den Weg: Würde ich es schaffen, mich mit meinem lausigen Job als Coiffeuse über Wasser zu halten? Sie fühlte sich in ihrer Sorge bestätigt, als ich von all den Mitteln, mit denen meine Haut in Kontakt kam, Allergien bekam, die immer schlimmer wurden. Mein selbst gewählter und geliebter Beruf machte mich schließlich so krank, dass ich ihn aufgeben musste. Danach versuchte ich mich in diversen Jobs, arbeitete im Verkauf, machte Stadtführungen in Luzern und erledigte eine Weile für Guido die Büroarbeiten. Bis ich dann vor sechs Jahren den Direktor der Stanserhorn-Bahn kennen lernte. Er bot mir an, am Stanserhorn zu arbeiten. Und ich war mehr als bereit, es zu versuchen.
Glück, Freude und Tränen, ein Wechselbad der Gefühle, ein Durcheinander. Ein »Gnosch«, wie mein Enkel Moritz das bezeichnen würde. Ich habe nun also ausgesorgt, so würde das meine Mutter nennen. Obwohl ja Guido problemlos für mich sorgen könnte und würde. Natürlich hat er mich auch nie zum Arbeiten gezwungen. Er verdient mehr als genug. Ich wollte aber arbeiten. Schon immer. Um mir damit das schöne Gefühl von Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten.
Trotzdem: Wenn ich wollte, könnte ich jetzt einfach nur noch auf dem Sofa sitzen und Musik hören, bis an mein Lebensende. Oder auf Reisen gehen. Mir exotische Tiere anschaffen. Socken stricken. Oder töpfern …
Lange denke ich darüber nach, was ich denn jetzt wirklich machen möchte, was ich in meinem Leben verändern sollte, wollte, könnte – mit diesem unerwarteten Geldregen. Und mir fällt auf: Ich habe eigentlich gar keine großen Träume, die ich schon lange vor mir herschiebe. Eigentlich gefällt mir mein Leben so, wie es ist. Ich habe Guido. Ich habe Claire und Moritz. Ich habe Bärbel. Ich habe das Stanserhorn. Das ist mehr, als manch einer hat. Das ist mehr als irgendein Losgewinn. Ich habe eigentlich alles.
Dingdongdung.
Mein Skype meldet sich. Mon Dieu! Ich habe meine Französischstunde vergessen.
Und so kommt es, dass ausgerechnet Pierre aus Paris der Erste ist, der von meinem Glück erfährt. Mehrmals lässt er sich von mir die Zahl »viertausend« übersetzen, weil er denkt, ich hätte mich da vertan. Ich habs nämlich nicht so mit den Zahlen.
»Quatre mille francs suisses? Chaque mois? Pendant vingt ans? Tu es sûre, ma chère Judith?«, fragt er mehrmals ungläubig, mit großen, fragenden Augen, bis ich ihm die Zahl als Notiz schicke und ihm das Rubbellos in die Kamera halte.
Er habe noch nie jemanden gekannt, der so einen großartigen Preis gewonnen habe, freut sich Pierre mit mir und strahlt mehr als ich. Ich erzähle ihm von meiner Riesensalami, wir lachen und unterhalten uns darüber, dass Salami auch auf Französisch Salami heißt und auch auf Englisch oder auf Griechisch. Ich liebe solche Wörter. Als er hört, dass noch niemand von meinem Los weiß, findet er das ein wenig merkwürdig. Ich müsse das doch in die Welt hinausschreien.
… dans le monde entier …
Er will unbedingt wissen, was ich mir nun leisten werde. Irgendetwas. Jeder habe doch einen geheimen Wunsch!
… un souhait secret …
Und dann steht es plötzlich in Großbuchstaben vor mir: JETZT ODER NIE!
Ich werde für Guido und mich eine wunderschöne luxuriöse Parisreise buchen, mit allem Drum und Dran. Nicht gerade für morgen, aber vielleicht für September, sodass er in seiner Praxis alles organisieren kann.
»Ja, ich habe einen Wunsch. Der ist nicht einmal geheim. Paris! Wir kommen dich in Paris besuchen!« Pierre wirkt irgendwie bestürzt, und einen Augenblick lang ist er sprachlos. Darum schicke ich schnell hinterher: »Keine Sorge, wir wohnen nicht bei dir.«
Das beruhigt ihn. Seine Gesichtszüge entspannen sich wieder. So viel zur Gastfreundschaft der Pariser!
Nach meiner Französischstunde folge ich dem guten Rat von Pierre, zuerst bei der Lotteriegesellschaft anzurufen, bevor ich mit dem Feiern anfange. Sofort werde ich mit einem netten Herrn verbunden. Stefan Meister erklärt sich bereit, mit mir zu skypen, damit ich ihm das Los in die Kamera halten kann. Ich habe immer noch Angst, dass ich irgendetwas übersehen oder falsch verstanden habe.
»Das sieht gut aus, soweit ich das von hier aus beurteilen kann. Ich gratuliere ganz herzlich!«, sagt er nach einer kurzen Musterung des Loses.
»Was muss ich jetzt tun?«, frage ich, und mein Herzklopfen wird immer stärker.
»Stellen Sie mir das Los per Einschreiben zu. Sobald wir in seinem Besitz sind, kontaktieren wir Sie schriftlich. Sie müssen sich dann entscheiden, ob Sie eine Einmalauszahlung oder die Rente möchten. Sobald wir eine schriftliche Antwort und Ihre Kontoangaben haben, werden wir die Zahlung in die Wege leiten. Falls Sie die Rente haben möchten, wird sie Ihnen Anfang des nächsten Kalendermonats zum ersten Mal überwiesen.«
»Einmalauszahlung?«, frage ich verdattert.
»Ja, wenn Sie möchten, können Sie auf die Rente verzichten und bekommen stattdessen dreihunderttausend Franken aufs Mal. Die Rente beläuft sich bei voller Auszahlung auf neunhundertsechzigtausend Franken. Wenn Sie aber das Geld dringend brauchen oder schon sehr alt sind …«
»… nein, nein. Ich möchte sicher die Rente!«, sage ich schnell.
»Gut, dann machen Sie eine Kopie Ihres Loses und gehen dann mit dem Original zur Post. Einschreiben nicht vergessen! Ich freue mich, von Ihnen zu hören.«
»Danke!«
»Mir müssen Sie nicht danken, mein Geld ist das nicht«, meint er nur freundlich. Er jongliert ziemlich gelassen mit den hohen Geldsummen.
»Rufen Sie mich kurz an, wenn Sie das Los bekommen haben und alles in Ordnung ist?«, wage ich dann noch zu fragen.
»Gern. Natürlich, ich mache das gern für Sie, Frau Flury. Auf Wiederhören.«
Bis zu diesem Anruf – das beschließe ich hier und jetzt – werde ich über meinen Gewinn schweigen, alles für mich behalten, auch wenn ich möglicherweise fast daran ersticke. Ich werde nicht über ungelegte Eier reden.
Es reicht, wenn Pierre Bescheid weiß.
Und Herr Meister.
Am nächsten Tag fahre ich mit der Standseilbahn. Rauf und runter, durch endlos strömenden Regen. Natürlich trage ich entsprechende Kleidung und muss auch weniger oft fahren als bei gutem Wetter. Aber ich hasse es, im Regentenue zu arbeiten. Wenn ich mich auch nur ein wenig bewege, werde ich auch noch von innen nass. Irgendwann fängt dann das große Frieren an. Regenkleidung ist entweder wasserdicht oder atmungsaktiv. Wasserdicht und atmungsaktiv, das scheint – auch in diesem Zeitalter, wo die Wissenschaftler den ersten bemannten Flug auf den Mars planen – noch immer unmöglich zu sein. Das ist zumindest meine Erfahrung.
Unterwegs werde ich vom Wind angefaucht, der mir den Regen ins Gesicht peitscht. Bei jedem Halt trockne ich die Bänke und schüttle mit klammen Fingern den Regen aus den Vorhängen, die links und rechts an den scheibenlosen Fensterlöchern hängen. Irgendwann sind alle Lappen nass.
»Hier ist es noch etwas feucht!«, sagt eine junge Frau pikiert und deutet mit ihren lackierten Fingernägeln auf eine Stelle.
Ich wische noch einmal mit dem Wildlederlappen drüber, was allerdings keinen wesentlichen Unterschied macht. Die Dame setzt sich widerwillig hin. Das dünne Sommerkleidchen wird ihr heute auf dem Berg kein Glück bringen. Beim Anblick ihrer nackten Füße in den teuren Sandalen friere ich gleich noch mehr. Ich verstehs nicht. Wenn sie an so einem Tag in eine historische Standseilbahn einsteigt, muss sie sich doch darauf einstellen, dass das keine Kaffeefahrt wird!
Über die Kleidung unserer Gäste könnte ich Geschichten erzählen … Einmal, als es besonders kalt und unfreundlich und der Berggipfel frisch bepudert war, fuhr ich eine Familie aus den Emiraten auf den Berg. Wie die junge Frau heute trugen auch sie nur Sandalen, ihre Füße waren nackt. Die Frau war traditionell gekleidet, also ziemlich verhüllt, der Mann aber war in kurzen Hosen gekommen, und auch die Kinder hatten nur leichte Kleidung an. Auf dem Stanserhorn angekommen, gingen sie gerade mal vier Schritte Richtung Terrasse. Dann standen sie still, wie schockgefroren.
»Yes, this way, please!«, versuchte ich sie Richtung Restaurant zu lotsen.
Aber sie drehten wieder um und kamen zurück in die Cabriobahn. Es war ihnen egal, dass ich ihnen erklärte, ich würde erst in dreißig Minuten wieder losfahren. Der Empfang auf dem Berg war ihnen eindeutig zu unfreundlich.
Ja, Berge sind je nach Wetter nichts für Weicheier.
Sie sind oft rau und abweisend.
Aber es gibt ja auch die ganz harten Gäste, die sind eigentlich am schlimmsten. Sie erzählen von ihrer geplanten Wanderung, tragen jedoch bloß neue weiße Stoffschuhe, ohne Profil. Es hat frisch geschneit oder tagelang geregnet, und sie sind völlig unerfahren in den Bergen. Trotzdem: Niemals könnte ich sie von ihren Plänen abbringen, denn sie halten sich für Seelenverwandte von Reinhold Messner, weil sie schon mal irgendwo im Unterland einen Themenweg bewandert oder vielleicht im Fernsehen einen Film über Ueli Steck gesehen haben. Wenn Kinder dabei sind, tut mir das immer besonders weh. Da möchte man Handschellen dabeihaben, um – klick, klack – dem möglichen Unheil vorzubeugen. Ja, Kinder können nichts dafür, sind den Plänen der Erwachsenen ausgeliefert. Ansonsten ist jeder Unfall oder Absturz schlecht für das Image des Berges. Keiner fragt dann, welches Schuhwerk die Verletzten trugen, welche Ratschläge sie vorher ignorierten oder ob sie gar auf gesperrten Wegen unterwegs waren.
Ich muss aber sagen, dass die meisten Touristen heute durchaus angemessen gekleidet sind, nicht mehr so wie früher, als Asiatinnen in Stöckelschuhen und Minirock auf den Gletschern ein beliebtes Fotosujet waren. Ein ausnehmend gut ausgestattetes Pärchen aus Indien war neulich bei mir in der Bahn, und die Frau und ich kamen ins Gespräch. Sie erzählte, dass es in Mumbai, ihrer Heimatstadt, immer heiß sei.
»Dann haben Sie Ihre Kleidung in der Schweiz gekauft? Oder bekommt man sie auch in Indien?«
Mit einem liebenswürdigen Lächeln klärte sie mich auf: »Wir haben extra Shops für Reisebekleidung.«
Na ja, das hätte ich mir ja auch selbst denken können. Werden nicht ohnehin die meisten Kleider in Asien produziert? Auch unsere Regenjacken werden in China hergestellt.
An hässlichen Tagen wie diesem, die es auch mitten im heißesten Schweizer Sommer immer wieder geben kann, ist unser Personalraum im Kälti, bei der Mittelstation, dort, wo die Gäste von der Stand- in die Cabrioseilbahn umsteigen, mein Rettungsanker – vor allem die Kaffeemaschine. Manchmal trinke ich nur Kaffee, um mir an der Tasse die Hände zu wärmen.
»Endlich wieder einmal Regen. Die Wassertanks auf dem Berg waren schon fast leer«, sagt Simon, der Maschinist, als ich gerade mal wieder eine kurze Pause habe und nun versuche, meine Kleider ein wenig zu trocknen, bevor es wieder losgeht.
Ich mag ihm seinen Regen ja gönnen. Theoretisch. Mir eigentlich auch. Denn wenn die Tanks auf dem Berg leer sind, müssen wir mit der Cabriobahn Trinkwasser auf den Berg fahren, was manchmal etwas umständlich ist. Einmal habe ich beim Füllen des Plastiktanks in der Kabine eine Sekunde lang nicht aufgepasst, und schon war die ganze Gondel geflutet. Das ging erstaunlich schnell. Genauso schnell musste die Kabine wieder getrocknet werden, weil die nächste Gästegruppe schon bereitstand. Rund achthundert Kubikmeter pro Jahr transportieren wir mit der Seilbahn. Der Stanserhorn-Gipfel hat eben keine Wasserquelle. Darum sammelt man oben Regenwasser in Tanks und bereitet es mit einer UV-Filteranlage zu Trinkwasser auf. Auch das Wasser vom Terrassenboden wird gesammelt, zum Beispiel für die Spülkästen der Toiletten. Ja, Wasser ist hier ein Dauerthema und Regen in vielerlei Hinsicht auch eine Art Segen. Es liegt immer im Auge des Betrachters.
Mein Handy funktioniert jedenfalls noch, trotz Feuchtigkeit, und so kann ich etwas später, wieder auf der Bahn, den Anruf von Herrn Meister entgegennehmen. Mit klammen Fingern klaube ich das Gerät aus einer meiner vielen Innentaschen.
»Ich gratuliere, liebe Frau Flury!«, sagt er. »Das Los ist angekommen. Es ist alles in Ordnung. Sie haben morgen schon die Unterlagen, von denen ich gesprochen habe und die Sie uns ausgefüllt retournieren müssen. Ich freue mich mit Ihnen!«
Wenn er sich mit jedem Gewinner freut, hat er tatsächlich einen erfreulichen Job, im wahrsten Sinne des Wortes, geht es mir durch den Kopf. Nun – ich freue mich auch. Riesig! Und das miese Wetter spielt plötzlich auch für mich keine Rolle mehr. Ich bin schließlich ab sofort freiwillig hier, müsste überhaupt nicht mehr arbeiten. Aber das braucht im Moment keiner zu wissen. Zuerst werde ich nämlich Guido damit überraschen.
Heute habe ich früh Feierabend, weil es abends auf dem Gipfel die Candle-Light-Dinners gibt und wir daher in zwei Schichten arbeiten. Das passt mir gut in den Kram. Schnurstracks mache ich mich auf den Heimweg. Daheim stelle ich mich genüsslich unter die heiße Dusche. Ich gönne mir die teure Seife, die einen zarten rosaroten Schaum erzeugt und die Guido so gern an mir riecht. Ich brauche eine Weile, bis ich wieder aufgewärmt bin, und am Ende ist meine Haut vom heißen Wasser gerötet. Schnell ziehe ich mich an und marschiere ins Dorf. Ich beeile mich, denn ich habe einen Termin im Reisebüro mit dem lustigen Namen »Reisefreund«.
Nachdem mich Lydia, bei der Guido und ich bisher alle unsere Reisen gebucht haben, begrüßt hat, mustert sie mich mehr als neugierig. Ich hatte ihr schon am Telefon gesagt, was sie für mich vorbereiten soll: eine perfekte Parisreise für zwei Personen, im September. Ein sehr gutes Hotel, Abendunterhaltung, Führungen. Und mir sei völlig klar, dass das alles seinen Preis habe. Jetzt bin ich gespannt, was sie sich ausgedacht hat.
»Ich habe da etwas vorbereitet«, sagt Lydia lächelnd und legt einige Unterlagen vor mir aus. »Den Hinweg mit dem TGV, den Rückweg mit der Swiss. Immer die besten Plätze. Ein Fünfsternehotel mit Blick auf den Eiffelturm. Leider wirklich ausgesprochen teuer. Dann eine private Führung am ersten Tag. Für die Abende: Einmal ›Moulin Rouge‹, einmal ›Paradis Latin‹, das älteste Cabaret in Paris, jeweils mit Abendessen. Ein Dinner im ›Ciel de Paris‹ im 56. Stockwerk des Tour Montparnasse mit perfekter Sicht über die Stadt. An einem Nachmittag einen Termin mit einem Fotografen, der an der richtigen Stelle das perfekte Erinnerungsfoto für euch schießt. Ein Ticket für einen bevorzugten Zugang zum Eiffelturm. Dasselbe für den Louvre.« Lydia hält einen Moment inne. »Habe ich etwas vergessen?«
Ich überlege kurz und antworte: »Nein, ich glaube, alles andere können wir ja dann vor Ort organisieren oder in den nächsten Wochen noch buchen.«
»Hast du im Lotto gewonnen?«, platzt es nun aus Lydia heraus.
»Ja, so etwas Ähnliches«, antworte ich vage.
Als sie mir den Preis für das ganze Arrangement nennt, zucke ich dann aber doch zusammen. Allerdings nur ein bisschen.
»Ich drucke dir das Angebot aus und gebe dir zwei Tage Zeit. Vielleicht hat ja Guido ein paar Sonderwünsche.«
Ja, das passt mir gut.
Sehr gut.
Mit der wunderbaren Liste in der Umhängetasche fliege ich praktisch heimwärts, summe vor mich hin, bin ausgelassen und glücklich. Vielleicht hat es sich ja gelohnt, dreißig Jahre auf diese Hochzeitsreise zu warten, wenn sie jetzt dafür einfach perfekt wird, ohne irgendeinen Kompromiss, mit dem Besten vom Besten … Kein Wunsch wird mehr offenbleiben. Ich freue mich auf unser wunschloses Pariser Glück.