Читать книгу Vermisst - Блейк Пирс - Страница 6

PROLOG

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Lori Tovar fuhr in die Einfahrt des Hauses ein, in dem sie beinahe ihr gesamtes Leben gewohnt hatte. Sie machte den Motor aus, blieb sitzen und starrte bloß auf das charmante dreistöckige Gebäude.

Sie dachte an einen bekannten Ausdruck.

Als erste da, als letzte weg.

Sie lächelte leicht traurig. Die Leute sagten das oft von ihr.

Sie arbeitete als Krankenschwester im South Hill Krankenhaus und war dafür bekannt, dass sie längere Dienste als alle anderen übernahm. Sie vertrat oft andere Krankenschwestern und nahm selbst nur selten frei. Es war nicht so, als würde sie sich besonders verantwortlich fühlen. Es war bloß so, dass es sich für sie irgendwie natürlich anfühlte lange Stunden zu arbeiten.

Sie murmelte diese Worte vor sich hin: „Als erste da, als letzte weg.“

Diese Phrase fasste ihr Leben in mehr als nur einer Hinsicht zusammen. Sie war das erste Kind von vier Geschwistern, welches in diesem großen, einst glücklichen Haus, gelebt hatte. In den letzten Jahren waren ihre Geschwister über das ganze Land verteilt ansässig geworden.

Und dann war Dad natürlich einfach gegangen. Niemand hatte es kommen sehen.

Lori und ihre Brüder und Schwester hatten immer das Gefühl gehabt, dass sie einer perfekten Bilderbuchfamilie angehörten. Es war für sie alle ein Schock gewesen vor einigen Jahren eines Besseren belehrt zu werden, als Dad Mom für eine andere Frau verließ.

Und hier war Lori nun –– das letzte Kind, dass noch in der Stadt lebte und daher immer diejenige, die vorbeikam, um nach Mom zu schauen. Sie schaute mindestens einmal die Woche vorbei, um sie auf einen Kaffee auszuführen oder einfach Zeit mit ihr zu verbringen und zu reden und zu versuchen ihre Mutter aus den Anflügen tiefer Traurigkeit herauszulocken.

Als letzte weg.

Lori seufzte tief, stieg dann aus dem Auto und ging an den makellos angeordneten Pflanzen und Büschen vorbei auf die Eingangstür zu. Sie machte am Briefkasten halt und öffnete diesen, um nachzusehen, ob Post gekommen war. Der Briefkasten war leer.

Lori nahm an, dass Mom ihn bereits gelehrt haben musste, was ein gutes Zeichen sein könnte. Vielleicht bedeutete es, dass Mom sich nicht auf dem Weg in einen ihrer extremen Apathieschübe befand.

Doch Lori war entsetzt, dass die Tür einfach aufging, als sie die Klinke herunterdrückte. Sie schüttelte den Kopf. Sie musste Mom wohl bereits tausendmal gesagt haben, dass sie die Tür abschließen solle, auch tagsüber, besonders jetzt, wo sie alleine lebte.

Während Loris Kindheit war es unnötig gewesen, die Tür immer verschlossen zu halten. Doch das waren noch unschuldigere Zeiten gewesen. Die Welt hatte sich verändert und Kriminalitätsraten waren gestiegen, sogar in diesem wohlsituierten Viertel. Einbrüche passieren immer öfter.

Dann muss ich sie wohl noch einmal daran erinnern, dachte Lori sich.

Nicht, dass es etwas bringen würde.

Alte Gewohnheiten sind hartnäckig.

Sie trat ins Haus und rief: „Mom, ich hatte heute früher Schluss auf der Arbeit. Dachte mir, ich komme mal vorbei.“

Sie erhielt keine Antwort.

Sie rief erneut: „Mom, bist du zuhause?“

Wieder kam keine Antwort. Das überraschte Lori nicht sonderlich. Es war gut möglich, dass Mom oben ein Nickerchen machte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie Lori nicht hatte kommen hören, weil sie schlief.

Aber es war nicht gut, dass Mom die Tür aufgesperrt ließ, während sie ein Nickerchen machte.

Ich muss mit ihr darüber sprechen.

Währenddessen wurde Lori etwas unentschlossen. Es wäre schade jetzt hochzugehen und Mom zu wecken, wenn sie so tief und fest schlief. Andererseits hatte sie einige Mühen auf sich genommen, um ihren Dienstplan so umzustellen, dass sie vorbeikommen konnte.

Ich hätte vorher anrufen sollen, dachte sie sich.

Sie beschloss hochzugehen und kurz ins Schlafzimmer ihrer Eltern reinzuschauen, um zu sehen wie fest Mom denn nun schlief. Sollte sie aufwachen, würde Lori ihr sagen, dass sie da war. Wenn nicht, würde sie vielleicht einfach leise wieder gehen.

Als sie die Treppen hochstieg, erlebte Lori einen bekannten Anflug tiefer Nostalgie. Wie immer rief dieses Haus viele Erinnerungen hervor, die meisten davon waren sehr schön. An Loris jetzigem Leben gab es nichts Schlechtes, aber sie konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass sie ihre glücklichsten Tage genau hier verbracht hatte.

Werde ich jemals wieder so glücklich sein? fragte sie sich.

Sie hoffte darauf, dass ihr Leben eines Tages ein wenig kompletter sein würde, als es jetzt war.

Und wäre es nicht wundervoll, wenn es genau hier passieren könnte?

Lori und ihr Mann Roy hatten oft darüber gesprochen, dieses Haus zu kaufen. Sie fanden beide, dass Mom es in einem kleineren Haus besser hätte, oder vielleicht in einer gemütlichen Wohnung, um die sie sich besser kümmern könnte, und wo sie nicht andauernd daran erinnert werden würde, wie Dad sie verlassen hatte. Es wäre sicherlich auch besser für ihr Allgemeinbefinden.

Lori dachte sich, dass dies der perfekte Ort wäre, um ihre eigene Familie zu gründen, was, wie sie und Roy beide fanden, bald passieren sollte. Für einen Moment konnte sie beinahe den Klang lachender Kinderstimmen, und herumlaufender Kinderfüße hören, die von einem Zimmer ins nächste rannten, so wie sie und ihre Geschwister es vor Jahren selbst getan hatten. Wenn Mom doch nur bereit wäre umzuziehen, und wenn sie ihnen natürlich doch nur ein Angebot machen würde, dass sie sich leisten konnten.

Mom sagte oft, dass sie langsam ungeduldig auf Enkelkinder wartete, aber sie schien nicht zu begreifen, dass ihr Auszug diesen Prozess beschleunigen könnte. Sie bestand stur darauf weiter hier zu wohnen, und weigerte sich auch nur darüber nachzudenken, irgendwo anders hinzuziehen.

Vielleicht ändert sie ja irgendwann ihre Meinung, dachte Lori.

Falls das passieren würde, so hoffte sie, dass es passieren mochte, bevor sie Kinder kriegte.

Als Lori im Flur des zweiten Stocks angelangt war, bemerkte sie, dass Moms Schlafzimmertür einen Spalt weit offenstand. Normalerweise schloss Mom die Tür, wenn sie sich hinlegte. Plötzlich kam es Lori ein bisschen komisch vor, dass Mom sie nicht hatte rufen hören. Wurde sie vielleicht langsam etwas taub? Wenn dem so war, so hatte Lori es bisher nicht bemerkt.

Lori ging auf die Schlafzimmertür zu und stieß sie leise auf. Im Schlafzimmer war niemand und das Bett sah perfekt gemacht aus.

Sie dachte sich, dass Mom wohl irgendwo hingegangen war.

Und das ist wahrscheinlich gut.

Mom saß in letzter Zeit viel zu oft eingesperrt alleine in diesem riesigen Haus rum. Als Lori vor ein paar Tagen da war, hatte Mom erwähnt, dass sie vielleicht mit ein paar Freunden ausgehen würde, mit denen sie freitags in der Kirche Bingo spielte. Lori hatte ihr geantwortet, dass sie das für eine ausgezeichnete Idee hielt.

Aber heute war nicht Freitag, und wo auch immer Mom hingegangen sein mochte, es war besorgniserregend, dass sie die Eingangstür nicht abgeschlossen hatte. Lori begann sich zu fragen –– hatte Mom vielleicht begonnen mental etwas abzubauen? Dieser Gedanke hatte ihr in letzter Zeit oft Sorgen bereitet. Moms Erinnerungsgabe war immer außerordentlich gut gewesen, doch in letzter Zeit hatte sie begonnen Kleinigkeiten zu vergessen.

Lori versuchte sich damit zu beruhigen, dass Mom immer noch ziemlich jung war für das Eintreten von Demenz. Jedoch wusste sie aufgrund ihrer Arbeit im Krankenhaus, dass es doch möglich war. Sie wollte gar nicht daran denken, dass sie mit Mom darüber sprechen müsste, und auch nicht daran, wie viel Leid und Sorgen mit diesem Gespräch sicherlich einhergehen würden.

In der Zwischenzeit, so beschloss Lori, konnte sie aber ebenso gut nach Hause fahren.

Sie stieg die Treppe wieder hinunter und hielt kurz inne, um ins Esszimmer hineinzuschauen. Ein kurzer Schmerz durchfuhr sie, als sie den langen Esstisch nicht an seinem gewohnten Platz wiederfand, wo sie, ihre Schwester und ihre Brüder leckere Mahlzeiten und die Gespräche mit ihren Eltern genossen hatten.

So fest entschlossen Mom auch gewesen war, genauso weiterzuleben, wie sie es bisher getan hatte, so war sie gleichzeitig einfach nicht mehr in der Lage gewesen, alleine an diesem großen Tisch zu sitzen. Er bot genug Platz, um alle Familienmitglieder drum herum zu versammeln, die nicht mehr im Haus lebten, und konnte sogar ausgezogen werden, um zusätzlichen Gästen Platz zu bieten. Lori konnte verstehen, wieso Mom den Tisch loswerden wollte. Sie hatte ihr geholfen den Tisch und die dazugehörigen Stühle zu verkaufen und eine kleinere Esszimmergarnitur zu kaufen.

Dann fiel Lori etwas Merkwürdiges auf. Normalerweise standen vier Stühle um den neuen quadratischen Esstisch herum. Doch jetzt waren es nur drei.

Mom musste den vierten Stuhl irgendwo anders hingestellt haben, doch wieso?

Vielleicht hatte sie ihn benutzt, um eine Glühbirne auszuwechseln, oder an ein hohes Regal zu kommen.

Lori dachte besorgt: Eine weitere Sache, über die wir reden müssen.

Mom besaß schließlich eine Tretleiter, die sehr viel sicherer für solche Aufgaben benutzt werden konnte. Sie sollte es besser wissen, als einen Stuhl zu verwenden.

Lori schaute sich um und versuchte den verschwundenen Stuhl zu entdecken, als ihr Blick auf den schmalen Marmortresen fiel, der das Esszimmer von der Küche trennte. Sie sah einen rötlichen Fleck am hinteren Ende des Tresens.

Das war wirklich merkwürdig. Mom hatte den Haushalt schon immer äußerst sorgfältig geführt, und war besonders besessen darauf, ihre Küche blitzblank zu halten. Es sah ihr gar nicht ähnlich, etwas zu verschütten und es nicht sofort wegzuwischen.

In Lori begann sich Panik breitzumachen.

Irgendetwas stimmt nicht, dachte sie.

Sie eilte zum Tresen und schaute hinein in die Küche.

Dort auf den Boden lag ihre Mutter, ausgestreckt in einer Blutlache.

„Mom!“, schrie Lori mit heiserer Stimme auf.

Ihr Herz raste und sie spürte, wie ihre Arme und Beine kalt und taub wurden. Sie wusste, dass sie in Schock war, aber sie musste versuchen Herrin ihres Verstandes zu bleiben.

Lori kniete sich nieder und sah, dass die Augen ihrer Mutter geschlossen waren. Auf ihrem Kopf befand sich eine tiefe Wunde. Lori kämpfte gegen die Gefühle der Ungläubigkeit, des Horrors und der Verwirrung an. Ihre Gedanken waren ganz wirr, während sie versuchte zu begreifen...

Was war geschehen?

Mom musste gestolpert sein und sich beim Sturz mit dem Kopf am Tresen gestoßen haben.

Ihre Medizinerreflexe arbeiteten nun und Lori fasste an Moms Hals, um nach ihrem Puls zu fühlen.

Und das war als Lori sah, dass Moms Kehle durchgeschnitten war.

Eine ihrer Halsschlagadern war durchtrennt, aber kein Blut kam heraus.

Das Gesicht ihrer Mutter war bleich und gänzlich leblos.

Lori spürte, wie eine vulkanische Kraft aus den Tiefen ihrer Lungen ausbrach.

Dann begann sie zu schreien.

Vermisst

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