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KAPITEL EINS

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Ein Schuss fiel ganz in der Nähe.

Riley Paige machte auf dem Absatz kehrt, als das Geräusch durch ihren Flur hallte.

April! dachte sie und ein Schock ging durch ihren Körper.

Riley rannte zu ihrem Schlafzimmer.

Ihre sechzehnjährige Tochter April stand da und zitterte von Kopf bis Fuß, doch sie schien unverletzt.

Riley konnte wieder ausatmen.

Auf dem Boden vor Aprils Füßen lag eine Ruger SR22 Pistole. Daneben war die blaue Vinylbox, in der die Pistole aufbewahrt wurde.

Aprils Stimme zitterte, als sie sage: „Es tut mir leid. Ich wollte sie in den Safe im Schrank legen, als sie schoss und ich sie fallen ließ. Ich wusste nicht, dass sie geladen war.“

Riley fühlte ihr Gesicht rot anlaufen. Ihr Schreck wandelte sich nun zu Wut.

„Was soll das heißen, du wusstest es nicht?“, sagte sie. „Wie konntest du das nicht wissen?“

Riley hob die Pistole auf, entfernte das Magazin und fuchtelte vor April damit herum.

„Das Magazin sollte nicht mal in der Pistole drin sein“, sagte sie. „Du hättest es bereits auf dem Schießplatz entfernen müssen.“

„Ich dachte, dass ich alle Kugeln verschossen hatte“, sagte April.

„Das ist keine Entschuldigung“, sagte Riley schrill. „Du nimmst immer das Magazin raus, nachdem Du mit dem Schießtraining fertig bist.“

„Ich weiß”, sagte April. “Es kommt nicht wieder vor.“

Das kannst du laut sagen, dachte Riley sich. Sie begriff, dass sie auch auf sich selbst wütend war, weil sie den Raum verlassen hatte, bevor April die Pistole weggesperrt hatte. Aber sie hatten bereits mehrere Trainings auf dem Schießplatz hinter sich, und zuvor war alles glatt gelaufen.

Sie schaute sich im Zimmer um.

„Wohin hat sie gefeuert?“, fragte sie.

April zeigte auf die hintere Wand des Zimmers. Wie erwartet, konnte Riley ein Kugelloch entdecken. Eine erneute Welle der Panik überrollte sie. Sie wusste, dass die Wände zwischen den Zimmern in ihrem Haus nicht dick genug waren, um eine Kugel aufzuhalten –– nicht einmal eine aus einer .22er Pistole.

Sie drohte April mit dem Finger und sagte: „Du bleibst genau wo du bist.“

Sie ging hinaus in den Flur und hinein in das anliegende Zimmer, welches Aprils Schlafzimmer war. Es gab ein Schussloch in der Wand, genau dort, wo sie es vermutet hatte, dann ein weiteres Loch in der gegenüberliegenden Wand, wo die Kugel ihre Flugbahn fortgesetzt hatte.

Riley musste sich zusammenreißen, um ihre Gedanken zu ordnen und die Situation einzuschätzen.

Hinter der letzten Wand lag der Hinterhof.

Könnte die Kugel jemanden getroffen haben? fragte sie sich.

Sie ging zu dem Loch hinüber und spähte hinein. Wenn die Kugel durch die Wand gekommen wäre, hätte sie Sonnenlicht sehen müssen. Die Backsteinverkleidung musste sie endlich aufgehalten haben. Und selbst wenn nicht, wäre die Kugel soweit verlangsamt worden, dass sie nicht über den Hinterhof hinausgekommen wäre.

Riley atmete erleichtert aus.

Niemand wurde verletzt.

Nichtsdestotrotz war es schrecklich, dass das passiert war.

Als sie Aprils Zimmer verließ und zurück zu ihrem eigenen Schlafzimmer ging, erreichten zwei Personen das obere Ende der Treppe und rannten in den Flur hinein. Eine war ihre vierzehnjährige Tochter, Jilly. Die andere war ihre kräftige guatemalische Haushälterin, Gabriela.

Gabriela rief aus: „¡Dios mio! Was war dieser Krach?“

„Was ist passiert?“, rief Jilly hinterher. „Wo ist April?“

Noch bevor Riley irgendetwas erklären konnte, hatten die beiden April in ihrem Schlafzimmer aufgefunden. Riley folgte ihnen hinein.

Als sie eintraten, legte April die Vinylbox gerade in den kleinen schwarzen Safe im Kleiderschrank. Sichtlich bemüht ruhig zu bleiben sagte sie: „Meine Pistole hat fehlgezündet.“

Fast im Chor riefen Jilly und Gabriela aus: „Du hast eine Pistole?“

Riley konnte sich ein entsetztes Stöhnen nicht verkneifen. Die Situation war nun in allerlei möglicher Hinsicht noch schlimmer. Als Riley April damals im Juni die Pistole gekauft hatte, hatten sie sich beide darauf geeinigt weder Jilly, noch Gabriela etwas davon zu erzählen. Jilly wäre sicherlich neidisch auf ihre ältere Schwester gewesen. Gabriela wäre einfach nur besorgt.

Aus gutem Grund, wie sich herausstellt, dachte Riley.

Sie konnte sehen, dass ihre jüngere Tochter sich bereit machte, eine Lawine von Fragen und Anschuldigungen auf sie loszulassen, während die Haushälterin einfach nur auf eine Erklärung wartete.

Riley sagte: „Ich komme in ein paar Minuten runter und erkläre euch beiden alles. Jetzt muss ich kurz mit April alleine sprechen.“

Jilly und Gabriela nickten stumm und verließen das Zimmer. Riley schloss hinter ihnen die Tür.

Als April sich auf das Bett fallen ließ und zu ihrer Mutter hochschaute, musste Riley daran denken, wie sehr sie und ihre Tochter sich ähnelten. Obwohl sie einundvierzig war und April erst sechzehn, waren sie offensichtlich aus dem gleichen Holz geschnitzt. Es waren nicht bloß ihre dunklen Haare und grün-braunen Augen, auch dieselbe ungestüme Haltung im Leben einte sie.

Dann ließ das Mädchen den Kopf hängen und schien den Tränen nahe zu sein. Riley setzte sich neben sie aufs Bett.

„Es tut mir leid“, sagte April.

Riley antwortete nicht. Eine Entschuldigung würde jetzt einfach nicht reichen.

April sagte: „Habe ich etwas illegales getan? Das Feuern einer Waffe drinnen, meine ich? Müssen wir die Polizei verständigen?“

Riley seufzte und sagte: „Es ist nicht illegal, nein –– nicht, wenn es ein Versehen war. Ich bin mir nicht sicher, ob es jedoch nicht illegal sein sollte. Es war unglaublich leichtsinnig. Wirklich, April, ich dachte, dass ich dir mittlerweile damit vertrauen könnte.“

April unterdrückte ein Schluchzen und sagte: „Ich kriege jetzt wirklich Ärger, oder?“

Erneut schwieg Riley.

Dann sagte April: „Schau mal, ich verspreche, dass ich vorsichtiger sein werde. Es wird nicht wieder vorkommen. Das nächste Mal, wenn wir schießen gehen ––“

Riley schüttelte den Kopf und sagte: „Es wird kein nächstes Mal geben.“

April machte große Augen.

„Meinst du...?“, begann sie etwa.

„Du kannst die Pistole nicht behalten“, sagte Riley. „Es ist alles vorbei.“

„Aber es war nur ein Fehler“, sagte April und ihre Stimme wurde immer schriller.

Riley sagte: „Du weißt ganz genau, dass das hier eine Null-Toleranz Frage ist. Wir haben darüber gesprochen. Selbst ein dummer, fahrlässiger Fehler wie dieser ist einer zu viel. Das hier ist sehr ernst, April. Jemand hätte verletzt oder getötet werden können. Verstehst du das nicht?“

„Aber niemand wurde verletzt.“

Riley war baff. April ging gerade mit Vollgas in den Teenagermodus über und weigerte sich die Realität dessen zu akzeptieren, was gerade geschehen war. Riley wusste, dass es beinahe unmöglich war in solchen Momenten vernünftig mit ihrer Tochter zu sprechen. Doch Vernunft hin oder her, diese Entscheidung lag einzig und allein in Rileys Verantwortung. Sie war ja auch die offizielle Besitzerin der Waffe, nicht April. Ihre Tochter konnte keine Waffe besitzen, bis sie achtzehn war.

Riley hatte sie gekauft, weil April gesagt hatte, dass sie eine FBI Agentin werden wollte. Sie hatte gedacht, dass das kleinere Kaliber es zu einer guten Übungswaffe machen würde, mit der April auf dem Schießplatz des Waffengeschäfts üben konnte. Bis heute war der Unterricht gut verlaufen.

April sagte: „Weißt du was, das ist irgendwo auch deine Schuld. Du hättest besser auf mich aufpassen sollen.“

Riley fühlte den Stich. Hatte April Recht?

Als ihre Tochter die Pistole in der Schießhalle in den Pistolenkoffer zurücklegte, war Riley gerade dabei gewesen ihre eigenen Schießübungen mit ihrer .40 Kaliber Glock zu beenden. Sie hatte Aprils Vorgehen zuvor bereits viele Male genau kontrolliert. Dieses Mal dachte sie, dass sie weniger wachsam mit ihr sein konnte.

Offensichtlich hatte sie unrecht behalten. Trotz aller Übungseinheiten, brauchte April immer noch strenge Beaufsichtigung.

Keine Ausreden, wusste Riley. Keine Ausreden für keine von uns beiden.

Aber es machte keinen Unterschied. Sie konnte nicht zulassen, dass April ihre Meinung änderte, indem sie ihr ein schlechtes Gewissen machte. Der nächste Fehler ihrer Tochter könnte tödlich sein.

Riley fauchte: „Das ist keine Entschuldigung, und das weißt du auch. Die Pistole richtig zu verstauen war in deiner Verantwortung.“

April sagte jämmerlich: „Also nimmst du sie mir weg.“

„Genau“, sagte Riley.

„Was machst du mit ihr?“

„Ich bin mir noch nicht sicher“, sagte Riley. Sie dachte, dass sie sie wahrscheinlich an die FBI Akademie übergeben könnte. Dort könnte sie neuen Rekruten als Übungswaffe zur Verfügung gestellt werden. In der Zwischenzeit würde sie sicherstellen, dass die Waffe sicher im Schranksafe weggesperrt blieb.

Mit beleidigter Stimme sagte April: „Tja, in Ordnung. Ich habe mich eh umentschlossen, eine FBI Agentin zu werden. Ich hatte vor es dir zu sagen.“

Riley fühlte sich merkwürdig aufgerüttelt von diesen Worten.

Sie wusste, dass April erneut versuchte, ihr Schuldgefühle zu bereiten, oder zumindest sie zu enttäuschen.

Stattdessen fühlte sie Erleichterung. Sie hoffte, dass es stimmte, dass April nicht mehr an einer FBI Karriere interessiert war. Dann müsste sie nicht viele Jahre damit verbringen, um Aprils Leben zu fürchten.

„Das ist deine Entscheidung“, sagte Riley.

„Ich gehe auf mein Zimmer“, antwortete ihre Tochter.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ April das Zimmer und schloss die Tür, sodass Riley alleine auf ihrem Bett zurückblieb.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie April nicht nachgehen sollte, doch...

Was gibt es da noch zu sagen?

In diesem Moment gab es nichts. Mit dem Kopf verstand Riley, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, so vorzugehen. Sie konnte April die Pistole nicht noch einmal anvertrauen. Weiteres Schimpfen und Bestrafung wären jetzt sicherlich sinnlos.

Nichtsdestotrotz fühlte sich Riley so, als hätte sie irgendwie versagt. Sie war sich nicht sicher, wieso. Vielleicht, dachte sie, war es das, dass sie April überhaupt erst eine Waffe anvertraut hatte. Doch, fragte sie sich, gehörte das nicht zum Mutter-sein dazu? Früher oder später musste man Kindern mehr Verantwortlichkeiten überlassen. Sie würden an einigen davon scheitern, aber andere davon meistern.

Das ist einfach ein Teil des Erwachsenwerdens.

Sicherlich konnten keine Eltern all die Verfehlungen und Niederlagen ihres Kindes im Vornherein kennen.

Vertrauen war immer ein Risiko.

Trotzdem hatte Riley das Gefühl, dass ihr Verstand sich in Kreisen drehte, um irgendwie eine Rationalisierung für ihr eigenes Erziehungsversagen zu finden.

Ein plötzlicher schmerzhafter Stich in ihrem Rücken stoppte ihr Grübeln.

Meine Wunde.

Ihr Rücken schmerzte immer noch von Zeit zu Zeit dort, wo ein psychopathischer Mörder auf sie mit einem Eispickel eingestochen hatte. Die Spitze war erschreckend tief eingedrungen –– tiefer als ein normales Messer es vermutlich getan hätte. Es war jetzt über zwei Wochen her und sie hatte deswegen eine Nacht im Krankenhaus verbringen müssen. Danach hatte sie die Anweisungen bekommen, sich zuhause auszuruhen.

Obwohl Riley körperlich wie auch emotional von der ganzen Sache ganz schön mitgenommen gewesen war, hatte sie gehofft mittlerweile wieder auf der Arbeit sein zu können und an einem neuen Fall zu arbeiten. Doch ihr Boss, der Abteilungsleiter Brent Meredith, hatte darauf bestanden, dass sie sich mehr Zeit für ihre Genesung nahm, als ihr lieb gewesen wäre. Er hatte auch Rileys Partner Bill freigestellt, weil er auf den Mann, der Riley attackiert hatte, geschossen hatte und ihn dabei getötet hatte.

Sie fühlte sich auf jeden Fall bereit, zurück an die Arbeit zu gehen. Sie dachte nicht, dass ein schmerzhaftes Stechen hin und wieder sie bei der Arbeit behindern würde. Obwohl die Kinder und Gabriela sie die gesamte Zeit über umsorgt hatten, hatte sie nicht das Gefühl gehabt, dass sie gerade einen guten Draht zu ihnen hatte. Ihre permanente Sorge bereitete ihr bloß Schuldgefühle und gab ihr das Gefühl eine inadäquate Mutter zu sein.

Sie wusste, dass sie Jilly und Gabriela nun einiges an Erklärungen zu der Pistole schuldete.

Sie erhob sich und ging über den Flur zu Jillys Zimmer.

*

Ihr Gespräch mit Jilly verlief genau so schwierig, wie es Riley erwartet hatte. Ihre jüngere Tochter hatte dunkle Augen, die von ihrer vermuteten italienischen Abstammung kamen und ein aufbrausendes Temperament wegen ihren schwierigen Kindheitsjahren, bevor Riley sie adoptiert hatte.

Jilly war sichtlich aufgebracht, dass Riley April eine Pistole besorgt hatte und dass ihre Schwester Schießtraining hinter ihrem Rücken bekommen hatte. Natürlich versuchte Riley vergebens ihre jüngere Tochter davon zu überzeugen, dass eine Pistole in ihrem Alter außer Frage stand. Und außerdem hatte es ja auch mit April nicht gut geklappt.

Riley konnte sehen, dass nichts, was sie sagte, einen Eindruck hinterließ und gab bald auf.

„Später“, sagte sie zu Jilly. „Wir werden später erneut darüber sprechen.“

Als Riley Jillys Zimmer verließ, hörte sie wie sich die Tür hinter ihr schloss. Eine ganze Weile lang stand Riley bloß im Flur rum. Ihre beiden Töchter hatten sich in ihren Zimmern eingesperrt und schmollten. Dann seufzte sie und ging zwei Etagen tiefer in den Wohnbereich von Gabriela.

Gabriela saß auf ihrem Sofa und blickte durch die großen Glasschiebetüren in den Hinterhof hinaus. Als Riley eintrat, lächelte Gabriela und tätschelte den Platz neben sich. Riley setzte sich und begann ganz von Anfang an die Geschichte mit der Pistole zu erklären.

Gabriela wurde nicht wütend, doch sie schien verletzt zu sein.

„Sie hätten es mir sagen sollen“, sagte sie. „Sie hätten mir vertrauen sollen.“

„Ich weiß“, sagte Riley. „Es tut mir leid. Ich glaube ich habe einfach... zurzeit Probleme mit der ganzen Erziehungssache.“

Gabriela schüttelte den Kopf und sagte: „Sie versuchen zu viel zu tun, Señora Riley. Sowas wie eine perfekte Mutter gibt es nicht.“

Diese Worte erwärmten Riley das Herz.

Das ist genau, was ich hören musste, dachte sie.

Gabriela fuhr fort: „Sie sollten mir mehr vertrauen. Sie sollten sich mehr auf mich verlassen. Ich bin schließlich hier, um ihr Leben einfacher zu machen. Das ist meine Arbeit. Ich bin auch hier, um meinen Teil der Erziehungsarbeit zu übernehmen. Ich denke, dass ich mit den Mädchen gut kann.“

„Oh, und wie“, sagte Riley und ihre Stimme wurde ein bisschen heiser. „Das bist du wirklich. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich bin dich in unserem Leben zu haben.“

Riley und Gabriela saßen einen Moment schweigend da und lächelten einander an. Auf einmal fühlte Riley sich sehr viel besser.

Dann klingelte es an der Tür. Riley umarmte ihre Haushälterin und ging in den ersten Stock, um die Tür zu öffnen.

Für einen kurzen Moment war Riley entzückt zu sehen, dass ihr gutaussehender Freund, Blaine, vor ihr stand. Doch sie bemerkte etwas trauriges in seinem Lächeln, einen melancholischen Blick in seinen Augen.

Das hier wird kein angenehmer Besuch sein, begriff sie.

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