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KAPITEL EINS

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Zoe schloss die Augen und lehnte sich mit dem Kopf gegen die Lehne des Sofas. Es machte sowieso keinen Unterschied. Vor ihrem Fenster war Bethesda in Dunkelheit gehüllt und sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, aufzustehen, um das Licht einzuschalten. Kleine, gelb leuchtende Punkte in der Skyline am Horizont zeigten ihr, dass Washington D.C. noch wach war – und sie war es leid, diese Punkte anzustarren.

Das war nicht mehr ihre Welt. Wenn sie dort hinschaute, sah sie überall bloß Zahlen: die Anzahl der Stockwerke jedes einzelnen Gebäudes und der Fenster pro Stockwerk, die Entfernung vom Boden, die Zeitspanne, die ein Objekt brauchen würde, um aus jedem beliebigen Fenster auf den Bürgersteig zu fallen. Die Anzahl der Gebäude, die Aufteilung der Straßen und die Winkel, in denen sie aufeinandertrafen. All diese Zahlen kreisten in ihrem Kopf herum, bis sie sich nur noch in die Dunkelheit zurückziehen und sich von alldem abschotten wollte.

Und dann, als sie die Augen geschlossen hatte, drangen ihre anderen Sinne in den Vordergrund. Sie hörte das Ticken ihrer Armbanduhr, die sie schon vor Tagen abgenommen und quer durchs Zimmer geschleudert hatte, in der Hoffnung, sie dann nicht mehr hören zu müssen. Aber sie konnte die Sekunden immer noch mitzählen. Sogar aus den Kohlensäurebläschen in ihrer Bierflasche formte sich ein Muster, wenn sie die darin enthaltene Flüssigkeit im Halbdunkeln anstarrte: Sie konnte die Zeit zwischen dem Platzen der einzelnen Bläschen zählen und die Geschwindigkeit berechnen, mit der sich die Bläschen bewegten.

Zoe nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, denn das Bier auszutrinken, würde gleich zwei Vorteile mit sich bringen: Erstens würde dadurch das Prickeln der Kohlensäure verstummen, außerdem würde der Alkohol ihre Sinne betäuben. Vielleicht würde ihr die nächste Flasche dann ja nicht mehr ganz so laut erscheinen.

Eine ihrer Katzen, dem Klang der Pfoten auf dem Stoff nach zu urteilen war es Euler, machte es sich auf der Sofalehne hinter ihr bequem. Der Kater schmiegte sich fast vollkommen geräuschlos mit seinem warmen Fell an Zoes kurz geschnittenes Haar. Und doch war er zu hören, denn er hatte einen hörbaren Herzschlag und atmete rhythmisch. So leise diese Geräusche auch sein mochten, sie waren doch wahrnehmbar. Und da Zoe alles andere in ihrer Umgebung aus ihrer Wahrnehmung verdrängt hatte, wusste sie genau, dass sie schon bald anfangen würde, mitzuzählen.

Sie rutschte ein wenig zur Seite und griff nach ihrem Handy. Es lag nutzlos auf der Armlehne des Sofas herum, ausgeschaltet. Sie hatte es schon seit Tagen nicht mehr angemacht. Nachdem sie von dem Fall zurückgekehrt war, der mit ihrer Suspendierung geendet hatte, hatte sie es zunächst angelassen. Aber all die SMS und Benachrichtigungen, mit ihrem ständigen Klingeln und Vibrieren, hatten sie beinahe in den Wahnsinn getrieben, weshalb sie das Handy irgendwann ausgeschaltet hatte. Seitdem hatte sie das Handy einmal am Tag eingeschaltet, die Nachrichten gelesen und es gleich wieder ausgestellt. Jetzt konnte sie sich selbst dazu nicht mehr überwinden. Es war einfach zu viel.

Zoe rechnete sowieso nicht mit irgendwelchen Neuigkeiten. Sie hatte den Kontakt zu allen abgebrochen, sich komplett abgeschottet, und nach einigen Wochen hatten sie ihre Kontaktversuche eingestellt. Auch von der Arbeit würde es nichts Neues geben. Nachdem sie den Mörder ihrer Partnerin, Special Agent Shelley Rose, zusammengeschlagen hatte, war SAIC Maitland nichts anderes übrig geblieben, als sie nach Hause zu schicken. Allerdings erst, nachdem sie den Fall gelöst hatte, was ihr noch immer eine gewisse Genugtuung bereitete . Nicht, dass das reichte. Sie hatte den Mord ja dennoch nicht verhindert.

Sie hatte zugelassen, dass er Shelley ermordete, nahezu direkt vor ihrer Nase.

Zoe verlagerte ihr Gewicht auf dem Sofa, starrte ihr Handy an und berechnete dabei dessen Maße, das Gewicht, die Umrisse der Tasten an der Seite. Selbst die Zahlen waren besser zu ertragen, als die Gedanken an Shelleys Ermordung.

Und nicht nur das FBI kontaktierte Zoe nicht mehr. Sie war lang genug mit John zusammen gewesen, um Vertrauen zu ihm zu fassen und darüber nachzudenken, ihm von den Zahlen zu erzählen. Sie hatte das sogar schon geplant, sich dafür mit ihm verabredet. Aber nach Shelleys Tod erschien es ihr sinnlos, ihn weiter zu treffen.

Zunächst hatte er jeden Tag angerufen. Dann hatte er Nachrichten geschrieben, erst dreimal pro Tag, dann zweimal, dann einmal. Die Frequenz hatte rapide abgenommen, bis John es schließlich ganz aufgegeben hatte. Er hatte eine Nachricht geschickt, die sie inzwischen auswendig kannte: Wenn du reden möchtest, bin ich für dich da.

Neun Wörter. Vierunddreißig Buchstaben. Das war seine letzte Nachricht gewesen, er hatte sie vor siebenundzwanzig Tagen geschickt. Das wusste Zoe, ohne die Nachricht dafür noch mal ansehen zu müssen, denn ihre innere Uhr hörte nicht auf, die Stunden mitzuzählen, die seitdem vergangen waren. Sie wusste, dass es in ein paar Stunden achtundzwanzig Tage gewesen sein würden. Jeder Tag zog sich gleichermaßen unerträglich in die Länge, ein immer gleiches Maß, das sich vor ihr und hinter ihr erstreckte und sich immer und immer wieder wiederholte.

Zoe wollte sich gerade das zweite Bier des Abends aufmachen, als sie vor Schreck zusammenfuhr und die Flasche beinahe fallen ließ. Jemand klopfte energisch an die Tür und sofort gingen Zoe allerhand Zahlen durch den Kopf: das Gewicht der Faust, die da klopfte, ihre Geschwindigkeit und die aufgewendete Kraft. Und sie wusste ganz genau, zu wem diese klopfende Faust gehörte.

„Zoe?“ Die Stimme drang unter der Tür in die ansonsten ruhige Wohnung vor; sie war zu laut. Dr. Francesca Applewhite war an fast jedem einzelnen der siebenundzwanzig Tage seit Johns letzter Nachricht vorbeigekommen – und auch an jedem einzelnen Tag davor. Sechsunddreißig Mal hatte sie an die Tür geklopft. Da Dr. Applewhite fast immer im gleichen Rhythmus viermal klopfte – eins, eins-zwei, eins – machte das hundertvierundvierzig einzelne Klopfgeräusche, Aufpralle am Rahmen, an Dr. Applewhites Knöcheln.

Und Zoe hatte die Tür nicht ein einziges Mal geöffnet.

„Zoe, ich möchte bloß deine Stimme hören“, sagte Dr. Applewhite. „Damit ich weiß, dass es dir gut geht.“

Zoe schloss langsam die Augen. Dr. Applewhites Stimme drang in einer Lautstärke von fünfundsechzig Dezibel durch die Tür und war somit nur geringfügig lauter, als sie es in einem normalen Gespräch gewesen wäre. Gerade laut genug dafür, dass man sie auch durch die Tür noch verstehen konnte. Und in der ganzen Wohnung. Es gab keinen Ort, von dem aus Zoe die Stimme nicht hätte verstehen können. Dafür war die Wohnung zu klein. Zoe hatte schon alles versucht.

„Zoe!“

Neunundsechzig Dezibel. Zoe hielt sich die Ohren zu, um die Zahlen nicht mehr hören zu müssen. „Verschwinde!“, schrie sie. Sie konnte sich nicht beherrschen. „Lass mich einfach in Ruhe!“

Aus dem Flur vor ihrer Wohnung war ein sanftes Geräusch zu vernehmen. „In Ordnung, Zoe.“ Neunundsechzig Dezibel. Ruhig und bestimmt. „Dann gehe ich jetzt. Ruf mich einfach an, wenn du irgendetwas brauchst.“

Es folgte eine kurze Pause, in der Hoffnung auf eine Antwort. Zoe erwiderte nichts. Schließlich war zu hören, wie sich Dr. Applewhites Schritte von der Wohnungstür entfernten. Zoe horchte genau hin, bis die Schritte die Treppe erreicht hatten. Am Klang erkannte sie, dass Dr. Applewhite immer noch neunundfünfzig Kilo wog.

Zoe rieb sich die Augen und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Sie öffnete die Flasche und trank einen großen Schluck – so viel, wie sie in einem Zug trinken konnte. Danach stellte sie fest, dass sie die Flasche fast genau bis zur Hälfte geleert hatte. Sie drehte sich wieder zum Sofa um, bewegte sich aber nicht weiter.. Ihre Wohnung erschien ihr jetzt erdrückend eng, zu klein und zu kreisförmig, um ihren Gedanken genug Platz zu bieten.

Sie konnte unmöglich den ganzen Abend hier verbringen, die Zahlen würden das nicht zulassen. Sie konnte nicht ertragen, wie sie in ihrem Kopf widerhallten, ohne eine Reaktion zu erzeugen. Sie waren einfach überall. Und obwohl ihr auch draußen Zahlen begegnen würden, wären das dann immerhin neue Zahlen.

Sie ließ siebzehn Minuten seit den letzten hörbaren Schritten von Dr. Applewhite verstreichen, um sicher zu gehen, dass sie nicht mehr in der Gegend war, trank den Rest ihres zweiten Bieres aus, warf die leere Flasche in den Müll und zog sich dann ihre Schuhe an.

***

Zoe stolperte über einen losen Stein, der auf dem Bürgersteig lag, beinahe wäre sie hingefallen. Als sie noch einmal genauer hinsah, stellte sie fest, dass der Stein nicht einfach zufällig dort lag, sondern Teil der Konstruktion war. Eine Kante, die als seitliche Begrenzung des Gehweges diente. Nun ja. Hätten sie nicht so bauen sollen. Zoe richtete sich vorsichtig wieder auf und konzentrierte sich darauf, nicht noch einmal ins Taumeln zu geraten.

Sie sah die Straße hinauf und stellte bedrückt fest, wo sie sich befand: am selben Ort, an dem sie so oft landete, wenn sie nachts durch die Straßen zog, nachdem sie ein paar Drinks intus hatte. Oder während sie ein paar Drinks zu sich nahm, denn sie hatte den Rest des Sixpacks mitgenommen  – inzwischen waren ihre Hände allerdings leer. Das war nicht gerade ein kurzer Spaziergang gewesen, woraus sich schließen ließ, dass sie sich bewusst entschieden haben musste, hierherzukommen. Auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, diese Entscheidung getroffen zu haben. Wie dem auch sei, hier war sie nun also, vor dem Haus, vor dem diese Ausflüge immer endeten.

Das Haus, zu dem sich Zoe unter normalen Umständen niemals getraut hätte. Es war kein Zufall, dass sie nur nachts herkam, wenn die Dunkelheit ihr Schutz bot und der Alkohol sie weniger nervös gemacht hatte. Nachts war es unwahrscheinlich, dass sie Zoe sehen würden, weshalb sie ungestört dort stehen und sich in ihren Schuldgefühlen suhlen konnte, ohne jemals irgendetwas dagegen zu tun.

Was nicht hieß, dass sie nichts tun wollte. Zoe wünschte sich nichts sehnlicher, als an die Tür dieses Hauses zu klopfen. Sie wünschte sich, dass sich die Haustür öffnen und ihre Partnerin Shelley Rose vor ihr stehen würde, mit ihrer perfekt sitzenden Frisur und ihrem sauber aufgetragenen, rosafarbenen Lippenstift. Sie wünschte sich, dass Shelley sie anlächeln und „Dann wollen wir mal, Zoe!“ oder etwas dergleichen sagen würde. Und dass sie dann zusammen in einen Flieger steigen und irgendwo einen Mordfall lösen würden. Dass einfach alles in Ordnung wäre.

Aber das war unmöglich, denn Shelley wohnte hier nicht mehr. Shelley lag unter der Erde. Zoe hatte dabei zugesehen, wie man sie in ihr frisch ausgehobenes Grab hinabgelassen hatte, während ihr Ehemann und ihre Tochter daneben standen. Sie hatte schon damals etwas sagen wollen, aber sie hatte es ebenfalls nicht geschafft. Auch jetzt wollte sie etwas sagen, aber sie schaffte es immer noch nicht. Sie hatte es nicht verdient, mit der Sache einfach so abzuschließen.

Shelleys Ehemann hatte nun keine Frau mehr. Shelleys Tochter hatte nun keine Mutter mehr. Zoe hätte bei ihnen klopfen und ihnen sagen können, dass es ihr leid tat, dass sie an allem Schuld war, dass sie es nicht hatte verhindern können. Sie hätte die ganze Schuld auf sich nehmen können, den ganzen Hass der beiden – und überhaupt alles, was sie Zoe an den Kopf werfen wollten – absorbieren können. Sie hätte dafür sorgen können, dass es den beiden ein wenig besser ging.

Aber ob nun aus Rücksicht auf sich selbst oder auf Shelleys Familie – es war ihr nicht möglich. Nicht nur, weil sie es nicht verdient hatte. Auch nicht, weil sie sich nicht traute. Zoe sah zu dem Haus auf und versuchte, zu formulieren, was sie den beiden sagen würde. Aber alles, das ihr in den Sinn kam, war: Zur Straße hin hat das Haus fünf Fenster, die jeweils in vier Teile unterteilt sind; die Haustür ist zwei Meter hoch; der Weg zur Tür ist einen Meter und achtzig Zentimeter lang und besteht aus zwölf Gehwegplatten; jede einzelne dieser Platten ist fünfzehn Zentimeter lang, was im angloamerikanischen Maßsystem etwa einem halben Fuß oder sechs Zoll oder 0,164 Yard entspräche…

Zoe fand für sie keine Worte. Ihr kamen nur Zahlen in den Sinn. Sie wandte sich von dem ihr wohlbekannten Haus, mit all seinen Maßen und Dimensionen, ab und zwang sich dazu, sich wieder auf den Heimweg zu machen. Wenn sie an diesem Moment angelangt war, dann ging es ihr immer noch schlechter, als es ihr vor ihrem Aufbruch gegangen war. Und doch führte es sie immer wieder hierher.

Früher oder später würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als einfach gar nicht mehr rauszugehen. Es war das Risiko einfach nicht wert.

Und Zoe sah keinen Ausweg aus dieser schrecklichen Situation – eine Situation, in die sie sich selbst gebracht hatte. Sie würde einfach mit ausgeschaltetem Handy zu Hause sitzen bleiben und all die Anrufe ignorieren, die sie erhalten würde, wenn ihre Suspendierung aufgehoben wurde, und alles zur Erinnerung von jemand anderem verblassen lassen.

Gesicht des Zorns

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