Читать книгу Gesicht des Zorns - Блейк Пирс - Страница 8
KAPITEL FÜNF
ОглавлениеZoe drehte ihren Kopf gerade rechtzeitig zur Seite, um sehen zu können, wie sich die Tür öffnete. Ein junger Mann in einem dunklen Anzug betrat den Raum. Er war eins neunzig groß, dünn, aber mit einem eng anliegenden Anzug, der zu erkennen gab, dass sich darunter Muskeln befanden. Außerdem hatte er schwarzes Haar und ein fernsehreifes Grinsen voller strahlend weißer Zähne. Dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt. Zoe konnte ihn auf Anhieb nicht ausstehen.
„Agent Aiden Flynn“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen, sein Gesicht dabei immer noch von einem breiten Grinsen überzogen.
Zoe nahm seine Hand und schüttelte sie leidenschaftslos und erfasste dabei die Maße seines Gesichts und die Winkel seiner hohen Wangenknochen. Er sah von Kopf bis Fuß so aus, als würde er Probleme machen. Sein Anzug saß so gut, mit normalen Kleidergrößen war das nicht möglich; er war also nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert. Dieser Kerl kam also sicher aus einer reichen Familie. Seine Hand fühlte sich weich an und Zoe war nicht auf die Hilfe der Zahlen angewiesen, um erkennen zu können, dass seine Schuhe brandneu waren.
Zoe warf Maitland einen vorwurfsvollen Blick zu. „Das ist sein erster Einsatz“, sagte sie.
„Frisch aus der Ausbildung“, erwiderte Maitland. Er streckte seine Arme aus und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Sein Rücken blieb dabei vollkommen gerade, nur sein Hüftgelenk bewegte sich.
„Ich möchte nicht die Babysitterin spielen“, blaffte Zoe und klang dabei vermutlich etwas barscher, als sie es gewollt hatte. Maitland konnte sich schließlich immer noch dazu entscheiden, ihr den Fall doch nicht zu überlassen. „Dieser Täter muss ernst genommen werden. Wir müssen ihn so schnell wie möglich schnappen.“
„Das schaffe ich“, ging Agent Flynn hastig dazwischen. „Ich war der Beste meines Jahrgangs. Ich werde mich schnell zurechtfinden.“
„Wie alt sind Sie?“, fragte Zoe. „Dreiundzwanzig?“
„Ja“, antwortete Agent Flynn verwundert. „Woher wussten Sie –“
„Der ist ja noch ein Kleinkind“, sagte Zoe wieder an Maitland gerichtet.
Er hatte seine Mundwinkel nach oben gezogen, um etwas einen halben Zentimeter, wodurch sich die Winkel in seinem Gesicht veränderten. „Agent Prime, Ich gebe Ihnen zwei Optionen“, sagte er. „Entweder arbeiten Sie mit Agent Flynn an diesem Fall, oder Sie arbeiten gar nicht daran. Wofür entscheiden Sie sich?“
Zoe sah zu Flynn herüber und überall in seinem Gesicht wimmelte es nur so vor Zahlen. Er war zu neu. Es gab zu viel zu entdecken. Er schien ganz aus spitzen Winkeln zu bestehen, seine Knochen waren kräftig und kantig, sein Anzug war perfekt geschnitten. Bei Leuten, die sie gut kannte, konnte sie mit der Zeit immerhin die Zahlen ausblenden, die immer gleich blieben. Sie konnte unmöglich mit ihm zusammenarbeiten.
Allerdings hatte sie bei der Arbeit – von Shelley abgesehen – nie jemandem von den Zahlen erzählt. Man hielt Zoe ja ohnehin schon für einen Freak, das wollte sie nicht noch weiter befeuern. Aber das bedeutete auch, dass sie die Zahlen nun nicht als Ausrede anführen konnte. Dass sie Maitland nicht sagen konnte, dass sie um sich herum sowieso schon überall nichts als Zahlen sah – zum Beispiel auf seinem Schreibtisch, der förmlich davon überladen war – und dass sie davon bereits genug abgelenkt wurde.
Zoe war sich bewusst, dass ein solches Eingeständnis sie nicht nur wie einen Freak dastehen lassen würde, sondern dass sich Maitland wahrscheinlich auch dazu gezwungen sehen würde, sie für arbeitsunfähig zu erklären und von ihr zu verlangen, an Therapiesitzungen mit einem vom FBI bereitgestellten Therapeuten teilzunehmen – vielleicht würde er sie sogar in eine psychiatrische Einrichtung einweisen lassen. Das konnte sie nicht riskieren.
„Sie lassen mir keine Wahl?“, sagte sie also stattdessen. Ein Versuch, herauszufinden, ob es auch nur die geringste Chance gab, der Zusammenarbeit mit diesem neuen Partner zu entgehen.
„Natürlich lasse ich Ihnen eine Wahl“, sagte Maitland. „Entweder, Sie machen sich gemeinsam auf dem Weg zum Flughafen, oder Sie gehen wieder nach Hause. Ich kann dafür sorgen, dass Sie schon in ein paar Stunden vor Ort sind. Also, wie lautet Ihre Entscheidung?“
Zoe seufzte. Ihr war klar, wofür sie sich entscheiden musste. Mit diesem neuen Idioten konnte sie nicht zusammenarbeiten. Mit ihm und seinen funkelnden Schuhen und seinem Tausend-Dollar-Lächeln. Aber genauso wenig konnte sie jetzt einfach wieder zurück nach Hause gehen, nicht, wo sie dort nur mit ihren Katzen auf dem Sofa hocken und ins Leere starren würde, nur um nachts Shelleys Familie zu stalken. Sie hatte eine Verpflichtung, nicht nur ihrer verstorbenen Partnerin, sondern auch den Mordopfern gegenüber, denen Gerechtigkeit zustand. Und gegenüber denen, die dem Täter in den nächsten Tagen und Wochen zum Opfer fallen würden, wenn man ihn nicht schnappte.
Die Katzen würden ohne sie zurechtkommen. Ihr Futterautomat würde sicherstellen, dass sie versorgt waren. Und auch sonst gab es auf der ganzen Welt niemanden, der auf sie angewiesen war. Zumindest nicht so sehr wie dieser Fall.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre Bedenken herunterzuschlucken und das Ganze trotzdem durchzuziehen. Sie wusste, dass Shelley es so gewollt hätte.
Und so öffnete sie den Mund, um den beiden Männern das mitzuteilen – auch wenn sie jedes einzelne Wort nur widerwillig über die Lippen brachte.
***
Zoe warf noch einen weiteren Blick auf die Akte, um sich mit dem Fall weiter vertraut zu machen. Es war zwar nur ein kurzer Flug, aber sie hatte dennoch genug Zeit, um sich die Details einzuprägen und sich erste Gedanken über die nächsten Schritte zu machen, die folgen würden, wenn sie gelandet waren. Zunächst einmal würden sie sich etwa den letzten Tatort und die beiden Leichen ansehen.
„Können Sie mir die Akte vorlesen?“ Flynn, der neben ihr saß, hatte schon die ganze Zeit versucht, einen Blick auf die Dokumente zu erhaschen, während sie die Akte durchblätterte. Seine langen Beine waren in einem ungünstigen Winkel in dem engen Flugzeugsitz eingeklemmt, seine Ellbogen waren spitze Kanten, die ständig drohten, in ihren persönlichen Raum einzuschränken. „Ich möchte gut vorbereitet sein.“
Zoe seufzte innerlich und wünschte sich nichts mehr, als dass er sie in Ruhe lassen würde. Aber das war keine unzumutbare Bitte. Er wusste ja nicht, dass sie das, was sie sah, für ihn sozusagen übersetzen musste. Um die Zahlen, die sie überall sah, herauszuschneiden. Sie musste es ihm praktisch wie ein Roboter vorlesen. Ohne Kontext oder Flexion, nur die Worte, wie sie vor ihr auf dem Papier standen. Für sie war es genauso schwer, die Akte so zu lesen, wie es für ein Kleinkind gewesen wäre, sie überhaupt zu entziffern.
„Die erste Leiche wurde nördlich von Syracuse gefunden, die zweite in Syracuse selbst“, sagte sie. „Das erste Opfer war eine einundvierzigjährige Frau namens Olive Hanson, erdrosselt und dann am Ufer des Flusses Oneida zurückgelassen, wo sie wohl zuvor wandern war.“
Zoe reichte ihm die Fotos vom Tatort, die sie sich bereits genauer angesehen hatte. Die Frau am Ufer ausgestreckt, ihr Hals violett, während der Rest von ihr weiß und schmierig war und ihre Augen ins Leere starrten. Dann das letzte Bild: Ihr entblößter Bauch. Das Oberteil war, als einzige erkennbare Veränderung an ihrer Kleidung, nach oben geschoben worden, sodass darunter das in ihr bereits totes Fleisch geschnittene Symbol zum Vorschein kam. Es stach deutlich hervor, wie es solche Dinge immer taten. Eine rote Wunde inmitten weißer, blasser Haut, in deren schmalen Streifen das darunter verborgene Fleisch gerade so zu erkennen war.
Zoe blieb mit dem Blick auf Flynns Händen. Sie war nicht dazu in der Lage, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, nicht so lange sie von all den Winkeln und Berechnungen abgelenkt wurde, die ihr mit jeder seiner Bewegungen ins Auge sprangen. Aber sie konnte erkennen, ob seine Hand zittern würde. Und sie sah ein Zittern, als er zu dem letzten Foto geblättert hatte: ein Tremor in seiner Hand, durch den das Blatt Papier für einen Augenblick wackelte, gerade stark genug, um sichtbar zu sein. Das Foto hatte ihn schockiert.
Das war eigentlich eher ein Vorteil. Wenn er Angst bekommen würde, dann wäre er womöglich leichter zu kontrollieren. Würde eher die Klappe halten, wenn sie Ruhe zum Nachdenken brauchte. Außerdem zeigte es seine Menschlichkeit – es bedeutete, dass er Mitgefühl hatte, von dem man Zoe oft vorwarf, dass es ihr fehlte. Zynisch betrachtet war es gut für sie, jemanden mit Mitgefühl dabei zu haben, der mit den Familien der Opfer sprechen konnte. Wenn man den Familien das Gefühl gab, dass man ihren Schmerz verstand, dann sagten sie mit größerer Wahrscheinlichkeit die Wahrheit.
Zoe nahm die nächsten paar Seiten aus der Akte und las sich die Informationen zu dem anderen Opfer durch. „Das zweite Opfer ist ebenfalls eine Frau. Eine Astronomin namens Elara Vega, die in dem Planetarium, in dem sie gearbeitet hatte, tot aufgefunden wurde. Neunundfünfzig Jahre. Todeszeitpunkt wird auf den späten vorherigen Abend geschätzt. Sie wurde in einem Putzwagen ertränkt.“
Die Fotos dazu zeichneten ein ähnliches, wenn auch nicht ganz identisches, Bild wie die zu dem ersten Mord. Die Leiche lag ausgestreckt wie sie gefallen war, ihre Haar noch nass davon, dass ihre Kollegen sie vom Putzwagem weggezogen hatten, um ihren Puls zu fühlen. Auch ihr Oberteil war hochgezogen, die unteren Knöpfe aufgemacht, damit der Mörder das Symbol in ihre Haut ritzen konnte. Eine scharfe, horizontale Linie und zwei Linien nach unten.
„Also gibt es von dem Symbol abgesehen keine großen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Morden“, sagte Flynn. Er sah aufmerksam zwischen den Fotos zu den beiden Fällen hin und her und verglich sie miteinander. „Keine Übereinstimmung bei Tatort, Methode, Frauentyp – außer, dass beide schon älter waren. Aber die Polizei vor Ort denkt, dass die Fälle zusammenhängen.“
„Sie hängen eindeutig zusammen“, sagte Zoe ruhig, bemüht, ihn nicht anzupflaumen. „Das Symbol ist eine Art Visitenkarte oder Markenzeichen. Dadurch wird markiert, dass die Taten von derselben Hand begangen wurden.”
„Hmm.“ Flynn reichte ihr die Fotos zurück und beobachtete, wie Zoe sie wieder in den Ordner steckte. „Hey, ich habe gehört, dass Sie schon lange im Dienst sind.“
„Ich bin Ihnen zehn Jahre voraus“, antwortete Zoe. Sie wandte den Kopf ab und sah aus ihrem Fenster. Es wäre großartig, wenn Flynn die Klappe halten könnte. So lange sie nach draußen sah und es ihr dabei gelang, die Fensterscheibe selbst zu ignorieren, konnte sie sich auf das weiße, fluffige Nichts der Wolken konzentrieren. Dort gab es keine Zahlen.
„Sie hatten auch schon viele verschiedene Partner, oder?“, fragte Flynn. „Man hat mir von Ihnen erzählt, nachdem ich Ihnen zugewiesen wurde.“
Zoe erstarrte. Wenn er sie etwas zu Shelley fragen sollte, dann würde sie aufstehen, in den vorderen Bereich des Flugzeugs gehen und so tun, als ginge sie auf die Toilette. Sie wollte das nicht tun – das enge Badezimmer würde von Zahlen überladen sein, all die klitzekleinen Maße eines Zimmer, das auf die größe eines Schrankes zusammengeschrumpft wurde –, aber das wäre immer noch besser, als über Shelley sprechen zu müssen. Niemand sprach gern über sein größtes Versagen. Nicht, wenn es erst so kurze Zeit zurücklag und noch so schwer auf den Schultern lastete.
„Man hat mir auch gesagt, dass Sie eine der Besten sind, wenn es um das Lösen solch komplizierter Fälle geht.“, sagte er. Er war näher an sie herangerückt, fast unmerklich. Fast – aber nicht, wenn man die Millimeter mitzählte. „Sie gelten da als eine Art Genie oder sowas.“
„Tue ich das?“ fragt Zoe emotionslos. Sie wollte ihm nicht in die Falle gehen.
„Ja, ernsthaft. Die haben gesagt, dass ich eine Menge von Ihnen lernen würde.“
„Wen meinen Sie mit ‚die‘?“, fragte Zoe und drehte sich zu ihm und sah ihn mit bösem Blick an. Sie wollte wissen, wer hinter ihrem Rücken über sie sprach – auch wenn das keinen großen Unterschied machen würde. Das übermütige Lächeln auf Flynns Gesicht verschwand, die Muskeln um seinen Mund herum verzogen sich nach unten.
„Ähm, also, einfach alle“, sagte Flynn, jetzt mit Verunsicherung in der Stimme. Er rutschte nun wieder ein Stück in die andere Richtung, zurück in seine Ausgangsposition. „Also, was ich sagen wollte, wir lösen den Fall doch wahrscheinlich ziemlich schnell, oder? Wir beide zusammen? Vielleicht kann ich ja die Führung übernehmen und Sie sagen mir, wenn ich irgendetwas übersehe.“
Zoe starrte ihn noch ein wenig länger an, von nur einem einzigen Blinzeln unterbrochen, dann wandte sie sich wieder von ihm ab, um weiter aus dem Fenster zu sehen.
Sie mochte ihn nicht, diesen Aiden Flynn. Er war überheblich, vielleicht sogar überheblicher als die meisten anderen Anfänger. Ein Neuling, der seine eigenen Grenzen noch nicht kannte. Das hatte wahrscheinlich mit seiner Herkunft zu tun. Es war unwahrscheinlich, dass er jemals ein Nein gehört hatte.
Sie hatte kein Interesse daran, ihm irgendetwas über sich anzuvertrauen, schon gar nicht ihre besonderen Fähigkeiten. Ob die nun ein Segen oder ein Fluch für sie waren, da war sie sich selbst noch nicht sicher, aber diesem Fremden würde sie davon jedenfalls nichts erzählen. Das lag nicht nur daran, dass sie diese Dinge nie mit irgendwem teilte, sondern auch daran, dass es eine Beleidigung für Shelley gewesen wäre. Nur eine einzige Partnerin im Laufe ihrer gesamten Karriere hatte sie jemals dazu gebracht, etwas über sich erzählen zu wollen.
Dieser arrogante junge Mann mit seinem glänzenden Haar und seinem maßgeschneiderten Anzug würde sicher kein Mitglied dieses illustren Klubs werden.
Was bedeutete, dass Zoe nun ein Kampf an zwei Fronten bevorstand: Sie musste nicht nur die Zahlen überwinden, die ihr überall begegneten, wo immer sie auch hinsah, was auch immer sie hörte. Nein, um den Fall lösen zu können, musste sie auch vor ihm verbergen, wie sie es schaffte, ihn zu lösen.
Zoe sah weiterhin nur zu den Wolken und genoss das bisschen Ruhe, dass sich ihr dadurch vor dem Beginn des Sturms bot. Es würde kein einfacher Fall werden. Dennoch hoffte sie, dass sie ihn schnell lösen würde, damit sie ihren neuen Partner nicht mehr allzu lange ertragen musste.