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KAPITEL ZWEI

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Elara Vega sah auf ihre Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch, eine Geste, die nur für sie selbst gedacht war. Sie war schließlich allein; ihre Kollegen waren bereits gegangen, die meisten um sechs, als die Arbeitszeit offiziell geendet hatte. Aber Elara bedeutete ihre Arbeit alles – das war schon immer so gewesen.

Nein, das stimmte nicht ganz, dachte sie, während sie ihre Sachen zusammensuchte und ihre Notizen für den nächsten Morgen sortierte. Es hatte auch eine Zeit gegeben, in der ihr andere Dinge wichtiger gewesen waren. Sie hatte ihren Sohn groß gezogen und für eine Weile war sie auch verheiratet gewesen, auch wenn die Scheidung nun schon zwanzig Jahre zurücklag. Zwei Jahre nach der Scheidung war ihr Sohn fürs Studium ausgezogen und seitdem lebte sie allein. Ihr gefiel dieses Leben. So hatte sie all die Sterne und Planeten, die Ewigkeit und Vergänglichkeit zugleich repräsentierten, ganz für sich.

Elara warf noch einen weiteren Blick auf ihren aufgeräumten Schreibtisch, um sicherzugehen, dass alles an seinem Platz war. Wenn sie in ihren neunundfünfzig Lebensjahren eines gelernt hatte, dann, dass es wesentlich einfacher war, immer alles gleich aufzuräumen, als ein Chaos zu beseitigen, das sich über längere Zeit angesammelt hatte.

Mit dem Ergebnis ihrer Mühen zufrieden, griff Elara nach ihrem Mantel, der über der Lehne ihres Stuhls hing, und warf ihn sich über. Dann machte sie sich in Richtung Ausgang auf. Sie war gerade dabei, ihren Kragen zu glätten, als sie in den Flur trat und sah, dass dort einer der Hausmeister damit beschäftigt war, mit kreisrunden Bewegungen den Boden zu wischen. Sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie so lange im Büro geblieben war, dass sie die Reinigungskräfte beim Putzen störte. Die mussten ja auch ihre Arbeit machen und waren sicher nicht begeistert davon, wenn sie in ihren Schuhen über den frisch gewischten Boden stiefelte.

In dem Planetarium gab es sowohl Büros als auch Konferenz- und Veranstaltungsräume, die alle um den in der Mitte gelegenen Vorführsaal angeordnet waren, von dem aus man ins Foyer und damit zum Ausgang kam. Elara trat in den dunklen Raum, der nachts, wenn das ganze Gebäude dunkel und still war und auf all den hier aufgereihten Stühlen niemand saß, immer etwas Gruseliges an sich hatte. Sie fühlte sich dabei immer an eine typische Horrorfilmszene erinnert, in der die Charaktere einen verwaisten und heruntergekommenen alten Kinosaal mit verrottenden Sitzpolstern und eingestaubtem Filmprojektor entdeckten. Sie mühte sich, den Saal rasch zu durchqueren, um möglichst schnell in das wesentlich weniger furchteinflößende Foyer zu gelangen. Und danach an die kühle Nachtluft.

Sie hatte gerade etwa die Mitte der vordersten Sitzreihe erreicht, als sie ein ihr gut bekanntes Geräusch vernahm: das mechanische Rattern des Projektors, das immer zu hören war, wenn er den Betrieb aufnahm. Elara blieb stehen, blickte sich verwundert um und sah schließlich zur Decke auf. Die Sterne und Planeten waren über ihrem Kopf zum Leben erwacht und wirbelten herum, bis sie schließlich an ihren Plätzen für den Beginn der Vorstellung zur Ruhe kamen. Sie hatte das schon hunderte Male gesehen und war sogar beteiligt gewesen, als vor einigen Jahren die Genauigkeit des Systems anhand neuer Sternkarten überprüft und aktualisiert worden war. Aber zu Beginn der Präsentation hier in der Mitte zu stehen, das war dennoch auch für sie ein ganz neues Gefühl. Es machte beinahe den Eindruck, als könnte sie nach den Sternen greifen und sie berühren…

Aber wer hatte den Projektor eingeschaltet? All ihre Kollegen waren bereits nach Hause gegangen. Und zu dieser späten Stunde sollte er eigentlich nicht an sein. Orchestermusik dröhnte nun aus den Lautsprechern, so laut, dass Elara nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Sie runzelte die Stirn und drehte sich langsam um, denn sie dachte, dass sie besser mal im Projektorraum nachsehen sollte–

Doch plötzlich kniete sie auf dem Boden und starrte den Teppich an. Wie war das denn passiert? Gerade eben noch war sie doch – aber dann hatte ein starker Schmerz ihren Hinterkopf durchzogen – sie erinnerte sich daran, dass etwas mit krachendem Geräusch dagegen geprallt war, das Geräusch war sogar noch lauter als die Musik gewesen – daraufhin hatten ihre Beine nachgegeben, genau wie ihre Arme, ihr ganzer Körper hatte förmlich zu brummen begonnen–

Nun vernahm sie noch etwas anderes in ihrem Nacken – eine andere Form des Schmerzes – eine Hand, die fest zupackte, ohne Rücksicht auf ihre empfindliche Haut zu nehmen. Elara versuchte benommen, sich aus dem Griff zu befreien, denn sie wollte, dass der Schmerz aufhörte. Doch die Hand griff dadurch nur noch fester zu. Der Schmerz schien wie aus weiter Entfernung zu ihr durchzudringen. Als käme er von einem anderen Planeten, durch die große Entfernung und das Licht der anderen Sterne verschleiert. Sie bewegte sich nun. Genauer gesagt wurde sie bewegt, denn etwas packte sie immer noch am Nacken – brachte sie irgendwo hin, ihre Beine schleiften dabei hilflos den Boden entlang.

Elara gab sich alle Mühe, wieder auf die Beine zu kommen, sie daran zu hindern, immer weiter über den glatten Boden zu rutschen. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, denn die Musik war zu laut und die Lichter zu grell. Und dann floss da auch noch irgendetwas Heißes ihre Stirn herunter, direkt in ihr Auge. Unter sich nahm sie nun etwas Rundes wahr, aus Metall, darin bewegte sich etwas, von dem das Licht reflektiert wurde – Wasser. Und dann–

Das kalte Wasser versetzte ihr einen Schock, ließ sie laut nach Luft schnappen, es war die erste klare und deutliche Reaktion, die sie zu zeigen imstande war, seitdem die Projektion begonnen hatte. Bedauernswerterweise war das aber auch genau die eine Reaktion, die in dieser Situation nicht angemessen war: Denn es drang nur Wasser in ihre Lungen, keine Luft. Das überwältigende Gefühl, mit dem es in ihren Mund strömte und ihren Rachen hinunterlief, löste eine Panik in ihr aus, die jedwede Verwirrung und jeden Schmerz, den sie vorher verspürt hatte, verdrängte. Sie dachte nur noch daran, dass sie irgendwie hier rauskommen musste, dass sie irgendwie wieder auftauchen, es an die Oberfläche und an die Luft schaffen musste.

Elara quälte sich, zappelte, versuchte, sich an dem metallenen Behälter festzukrallen, sich daran nach oben zu ziehen. Sie spürte, wie er unter ihr zu wackeln begann, und aus irgendeinem Grund wackelte sie mit. Da stand etwas über ihr, das sie niederdrückte und sie daran hinderte, den Kopf aus dem Wasser zu ziehen. Ihr Sichtfeld verdunkelte sich, schwarze Punkte erschienen vor ihren Augen. Sie war von Wasserblasen umgeben und die schwarzen Punkte tanzten, genau wie die glitzernden Reflektionen des Lichtes, von einer Blase zur nächsten – während sie verzweifelt um sich schlug und darum kämpfte, ihren Kopf zu heben.

In einem letzten Aufbäumen versuchte Elara, sich einfach nach hinten fallenzulassen und mit der Bewegung den Behälter umzukippen, aber ihre Kehle zog sich krampfhaft zusammen und ihr Augenlicht ließ nach und ihr wurde klar, dass sie nichts mehr tun konnte. Ein schmerzhafter Krampf in ihrer Brust zwang sie dazu, noch ein letztes Mal nach Luft zu schnappen – aber da war keine Luft. Dann wurde sie von totaler Finsternis umhüllt, um sie herum war nichts mehr – nicht einmal mehr das Funkeln der Sterne, die Millionen von Lichtjahren entfernt waren, in einer anderen Galaxie. Und die gerade im Begriff waren, zu sterben – oder vielleicht waren sie auch schon tot.

Gesicht des Zorns

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