Читать книгу Die Frau im Schatten - Bodil Mårtensson - Страница 5
Montag 16:15:05
ОглавлениеWährend der letzten Kontrollrunde durch die alten Säle beschlich sie ein außerordentlich unangenehmes Gefühl.
Schon jetzt herrschte da oben nicht viel mehr als ein zweifelhaftes Dämmerlicht, und bald würde es endgültig bis in alle Ecken und Winkel hinein stockfinster sein.
Außerdem wusste man im Moment nie genau, was passieren könnte. In der letzten Zeit waren eine ganze Menge, offen gesagt, rätselhafte Dinge geschehen. Manches konnte man damit erklären, dass sich alter Putz plötzlich von den Wänden löste und herunterfiel – denn sie befanden sich ja wohl kaum in einem Neubau! Aber die anderen Begebenheiten...
Plötzlich, als sie gerade auf der Schwelle zum zweiten Stockwerk stand, drängte sich ihr ein merkwürdiges Geräusch auf.
Ein unangenehm fremder, fast schabender Laut.
Sie hielt augenblicklich inne und versuchte verzweifelt, im Dunkel etwas zu erkennen, konnte aber lediglich ihren eigenen Herzschlag hören, der im Takt mit der aufsteigenden Panik immer wilder wurde.
Das Schaben hörte auf, aber es gelang ihr nicht, den außer Kontrolle geratenen Puls zu beruhigen. Es hämmerte in ihren Ohren und pochte an den Schläfen.
Deshalb nahm sie kaum den neuen Laut wahr.
Erst als sie im letzten Schimmer des abnehmenden Tageslichts etwas aufblitzen sah, hörte sie es.
Ein wütend zischendes Sausen wie von kaltem Stahl.
Und es flog geradewegs auf sie zu...
Der Festungsturm hier oben auf dem Burgwall hatte seit Urzeiten über die Küsten des Öresund gewacht. Kärnan, oder Schloss Helsingborg, wie das Gebäude auch in alten Zeiten genannt wurde, hatte Jahrhunderte und Generationen Revue passieren sehen – seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts, oder vielleicht sogar schon um einiges früher, wie die jüngste Forschung vermuten ließ.
Die Burg hatte Krieg, Elend und Belagerung gleichermaßen wie Fortschritt und Triumph erlebt, um im 18. Jahrhundert schließlich modernen Verteidigungsansprüchen zu weichen und ihrem Verfall überlassen zu werden.
Bis am Ende des vorigen Jahrhunderts eine dringend notwendig gewordene Restaurierung ihr neues Ansehen verlieh und sie zum Symbol vergangener Blütezeiten erhob.
Heute waren es nicht mehr die Soldaten des Königs, sondern neugierige Touristen, die in breitem Strom das Torgewölbe passierten. Ein Strom, der im Sommer allerdings wesentlich stärker war als jetzt im Winterhalbjahr.
Aber selbst in diesen windgepeinigten Tagen wollten eifrige Besucher die steilen Treppen erklimmen. Rotwangig von Winterluft und Bewegung entrichteten sie erwartungsvoll ihren Obulus an der Kasse und wanderten weiter durch den Treppenturm nach oben.
Bis vor fast zwei Wochen das Unheil seinen Lauf nahm...
»Wir müssen die Polizei rufen!«, sagte Linda.
Museumsdirektor Bo Jernback zögerte. Was zum Teufel sollte er der Polizei sagen?
Doch Linda Persson, die Museumsangestellte, ließ nicht locker. Sie insistierte, denn es waren ja in erster Linie – wie immer, meinte sie – sie selbst und Anna, die während der vergangenen Wochen mit all den Unannehmlichkeiten hier gesessen hatten.
Und jetzt war es wirklich genug!
»Ruf die Polizei!«, drängte sie nun etwas hartnäckiger. »Du musst jetzt sofort anrufen, Bosse, bevor noch jemand von uns zu Tode kommt!«
Aus einem alten DUX Transistorradio, das eingeklemmt auf einem der abgenutzten Regalbretter des Büroschranks stand, begann die Stimme des Nachrichtensprechers im selben Augenblick über aktuelle Erdbeben auf der anderen Seite des Erdballs zu informieren. Dann fuhr er fort, über den Erstickungstod Tausender von Menschen in den Ruinen ihrer, von schurkenhaften Baumeistern hochgezogenen Häuser zu berichten.
Das DUX war normalerweise an, um zur allgemeinen Erheiterung an der Kasse beizutragen, und gewöhnlich erfüllte es seine Aufgabe auch ziemlich gut. Linda hatte es in den Sechzigern von ihren Eltern bekommen, und es war ein Wunder, dass es immer noch funktionierte. Obwohl das Frequenzrädchen stark klemmte, war es ihr tatsächlich gelungen, auf der Wellenlänge 106 Radio Stella einzustellen. Deshalb fragte sie sich jetzt, wer diesen verflixten Nachrichtensender eingestellt hatte. Bessere Laune bekam man davon jedenfalls nicht gerade.
»Mach den Mist aus!«, fauchte der Direktor ungehalten, während ihm der Schweiß in seinen gestärkten Hemdkragen lief.
Nicht etwa, weil es hier im Eingangsbereich des Mittelaltermuseums Kärnan in Helsingborg übermäßig warm gewesen wäre – auch wenn hier unten ein weitaus besseres Klima herrschte als in den oberen Räumen des Gebäudes –, sondern weil das Ganze hier ausgesprochen unangenehm war.
Auch wenn Linda sich beeilte, das Radio abzustellen, hatte sie wahrhaftig nicht die Absicht, im entscheidenden Punkt nachzugeben.
»Ich habe Angst, Bosse!«, gestand sie mit einem verdächtigen Zittern in der Stimme.
Gleich würde sie anfangen zu weinen – das wusste er. Dies war wirklich ein grässlicher Nachmittag, und er hatte nicht die geringste Ahnung, was er dagegen unternehmen sollte.
Anna Stråhed, die andere Angestellte des Museums, stand ein wenig entfernt am Eingangstor und umfasste nervös ihre mageren Oberarme. Dann zog sie die selbst gestrickte Jacke so eng sie konnte um den Körper und starrte geradewegs ins Leere.
Die ganze Geschichte ängstigte sie furchtbar, und sie wollte nichts mehr damit zu tun haben. In all ihren langen Jahren im Fremdenverkehrsamt der Stadt war ihr so etwas noch nicht passiert.
Zum ersten Mal fand sie das Angebot der vorzeitigen Pensionierung richtig verlockend. Und das hatte in keiner Weise damit zu tun, dass sie sich hintergangen fühlte, obgleich sie sich schon manchmal ein wenig mehr Anerkennung gewünscht und erhofft hatte. Besonders damals vor sechs Jahren, als sie eine große Konferenz und einige Kurse über Tourismus organisiert hatte.
Sie hatte sogar schon ein Auge auf eine attraktive PR-Stelle in der Stadtverwaltung geworfen, für die es wirklich wert gewesen war, zu kämpfen. Aber die Stelle war natürlich an einen Mann gegangen – einen Politiker, der sich so unbeliebt gemacht hatte, dass man sich gezwungen sah, ihn weiterzubefördern.
Nein, sie war nicht verbittert – sie hatte sich mit der Welt, wie sie nun einmal war, versöhnt. Außerdem gefiel ihr ein Monatsgehalt besser als der vorzeitige Ruhestand, denn sie kam wirklich gern unter Leute.
Bis zum heutigen Tag.
Sie starrte mit leerem Blick auf das Torgewölbe, das nun seit einer guten Stunde geschlossen war. Als könnte sie mit ihrem Blick geradewegs durch die rustikale alte Eingangstür dringen und den Sund da draußen verführerisch in der Winterkälte glitzern sehen. Die großen weißen Fähren beobachten, die auf dem schwarzen Winterwasser einander geschickt passierten. Und die Stadt unterhalb der Festungsanlage in der ersten erwartungsvollen Weihnachtsstimmung pulsieren sehen.
Die aus der Jahrhundertwende stammenden, ziegelgedeckten Gebäude der Innenstadt schienen im eisigen Wind enger zusammenzurücken und sich über den Köpfen der Menschen Weihnachtsgeheimnisse zuzuraunen.
Selbst das Glockenspiel des Rathauses bekam in der unerwarteten Kälte mit ein wenig Fantasie einen anheimelnden, festlichen Klang und...
... sie standen hier oben – eingesperrt!
Weit entfernt von jeglicher menschlichen Gemeinschaft.
Eingesperrt mit etwas Furchtbarem – etwas vollkommen Verrücktem!
Dort oben in den Sälen der anderen Stockwerke wütete es und verhöhnte, bedrohte und terrorisierte das treue Museumspersonal.
Aber jetzt hatte jemand die Sache wirklich auf die Spitze getrieben – so konnte es definitiv nicht weitergehen!
Auch wenn man das Museum vor einer guten Stunde geschlossen hatte, wollte keiner nach Hause gehen, solange die Sache nicht geklärt war.
Oder wenigstens nicht, bevor die Polizei kam.
»Ruf an! Ruf jetzt sofort an, bevor er jemanden von uns tötet!«
Linda spürte, wie die Hysterie ihr die Kehle zuschnürte. Sie versuchte, dem Gedanken an das Messer auszuweichen, das geradewegs auf sie zugeflogen kam, als sie einige Stunden zuvor auf dem Weg in die zweite Etage gewesen war.
Doch so etwas vergisst man nicht so leicht.
Ehrlich gesagt hatte sie es kaum wahrgenommen. Sie hatte nur etwas aufblitzen sehen und diesen zischenden Laut gehört – so unangenehm nahe.
Dann war es unmittelbar neben ihr in der Tür eingeschlagen, und als sie das unheimliche Klirren hörte, dachte sie, dass es auf den Boden gefallen sei. Aber sie war sich nicht hundertprozentig sicher, denn sie war sofort in Panik die Wendeltreppe hinuntergeflüchtet.
Jetzt legte sie verzweifelt die Fingerspitzen an die bereits schmerzenden Schläfen und drückte fest zu, um nicht die Kontrolle über sich zu verlieren.
Bo Jernback begriff, dass er keinen einfachen Ausweg aus dem Dilemma finden würde. Dieses Mal würde es nicht so leicht wie sonst für ihn werden, den Kopf in den Sand zu stecken.
Er ging zur Kasse, zwängte sich hinter die schützenden Glaswände und nahm den Hörer ab.
Begann zu wählen – und hielt inne. »Aber was zum Teufel soll ich denn sagen?«, wollte er wissen.
Plötzlich war Linda wieder vollkommen ruhig und klar. Als ob der bloße Gedanke daran, endlich Hilfe zu bekommen, ihr neue Kräfte verlieh. »Sag, wie es ist, verdammt!«, fauchte sie.
»Wie es ist? Du spinnst doch!«
In diesem hitzigen Augenblick traf Anna Stråhed unvermittelt eine Entscheidung: Sie würde wirklich in Rente gehen!
Wollte sich plötzlich keine Sekunde länger als notwendig hier aufhalten. Gedachte wahrhaftig nicht zu bleiben und zu erleben, wie sich die Tragödie vollenden würde.
Es konnte ja jeden treffen, einen Touristen, Linda, Bosse – oder sogar sie selbst! Denn das hier würde in einem Unglück enden, davon war sie felsenfest überzeugt. Und sie dachte nicht daran, darauf zu warten!
Linda stampfte so erbost mit ihrem Stiefel auf den Holzfußboden im Eingangsbereich, dass es schicksalsträchtig im Gebälk krachte.
Das Echo hallte nach, wand sich über die ziegelgemauerte Wendeltreppe, die Könige und Königinnen früherer Jahrhunderte in ihre Gemächer getragen hatte, aufwärts. Stieß gegen die Rundungen der Wände und setzte sich in Richtung der nasskalten Schlosssäle in den oberen Etagen fort.
Hörte er sie?, dachte sie atemlos. Der da – in der Dunkelheit da oben?
»Sag einfach, wie es ist...«, forderte sie den Direktor auf, und ihre Stimme ging in ein schneidendes Falsett über, was Bo Jernback schließlich einsehen ließ, dass er keine andere Wahl hatte.
»...sag, dass es spukt!«