Читать книгу Die Frau im Schatten - Bodil Mårtensson - Страница 8

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Sahlman fühlte sich wie ein Idiot – weil es absolut idiotisch war, hier oben im Kärnan zu stehen und Erörterungen über das Geschlecht eines Gespenstes anzustellen.

»Und warum glauben Sie, dass es sich um einen... ihn handelt?«, wollte er wissen.

»Ich weiß nicht«, gab Linda Persson ein wenig unsicher zu, »aber es wäre uns einfach nicht in den Sinn gekommen, dass es sich nicht um einen Mann... ein männliches Wesen jedenfalls... handeln könnte.«

»Warum nicht?«

Der Direktor Bo Jernback stand ein wenig abseits und mischte sich nicht in ihre Diskussion ein. Es war nun einmal Lindas Idee, die Polizei zu holen, und dann soll sie das Ganze auch selbst ausbaden, dachte er schadenfroh.

»Tja... vielleicht das Rabiate?«, versuchte sie es vorsichtig. »Vielleicht das Schwerfällige, Dumpfe...«

Bo Jernback grinste dort hinten im Dunkeln leicht spöttisch. Freute sich diebisch, dass Linda genau wie er Probleme hatte, die richtigen Worte zu finden. Sag einfach, wie es ist!, dachte er. Klar wie Kloßbrühe. Das Gespenst hat die und die offenkundigen Eigenschaften... Aber denken Sie bitte nicht, ich sei verrückt! Sehr nett von Ihnen!

Jetzt konnte sie selbst sehen, wie leicht es war.

»...Äußeres. Sozusagen eine... Apparition«, schloss Linda, nachdem sie eine Weile nach dem Wort gesucht hatte.

»Apparition... also eine Erscheinung, meinen Sie?«, deutete Sahlman.

»Ja, natürlich.«

Sahlman notierte das Wort ›Apparition‹.

Es fühlte sich komisch auf der Zunge an, aber er ahnte, dass es ihm für seinen Bericht gelegen kommen würde. Denn um diesen Bericht würde er in keinem Fall herumkommen. Er ahnte bereits, dass er auf dem Präsidium ein richtiger Renner werden würde – Sahlmans berühmter Gespensterbericht, ihr wisst schon! Einer, den man bei Weihnachtsfeiern hervorholen und aus dem man vorlesen würde. Innerlich hörte er schon die Lachsalven in den Korridoren des Präsidiums widerhallen.

Verdammter Mandén, dass er gerade ihm diesen Mist aufladen musste!

»Ja, genau«, setzte sie hinzu. »Er hat etwas Derbes, eine entschieden unweibliche, grobe Art, sich zu gebärden.«

»Wie genau... grob?«, wollte Knut wissen und fragte sich unterdessen, ob nicht alles nur ein ausgesprochen plumper Scherz sei. Und zwar auf seine Kosten. Der gute Sahlman tendierte dazu, vieles allzu persönlich zu nehmen.

»Das Gegröle, das Lachen... ja, das Geknatter beispielsweise.«

»Das Geknatter?«

Er klang verwundert, und sie hatte den Eindruck, sich gerade vollkommen lächerlich zu machen, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ.

»Ja, ich weiß nicht genau, was es war, aber es war schauerlich. Ganz einfach grob«, beharrte sie.

Sahlman konnte sich ein Grinsen nicht länger verkneifen, obgleich er hoffte, dass man es nicht sehen würde. »Sie haben also dieses... Gespenst gehört, meinen Sie?«

»Ich habe es tatsächlich sowohl gehört als auch gesehen!«

Linda machte einige schnelle Handbewegungen, als malte sie etwas in die Luft.

»Was genau haben Sie gesehen?«, fragte er kleinlich weiter.

»Eine Lichtgestalt... eine Art weißes... wallendes Wesen.«

Sie klang frustriert, und ihre Hände gestikulierten umso eifriger. Verstand er denn nicht?

Bo Jernback schmunzelte in seiner Ecke, während Sahlman sich, ohne näher nachzufragen, Notizen machte. Linda Persson wurde es langsam unangenehm. Sie fühlte sich mehr und mehr in die Ecke gedrängt. Glaubte er ihr nicht – dieser arrogante, snobistische Kripofritze?

»Und nicht allein ich habe es gehört«, fiel ihr plötzlich ein, als hätte sie einen rettenden Anker in der Brandung gesichtet, »sondern Anna ebenso. Öfter. Im ersten und im zweiten Stockwerk.«

»Anna?«

»Ja, Anna Stråhed, unsere zweite Kassiererin.«

»Unsere ehemalige zweite Kassiererin!«, warf Bo Jernback ein. »Sie hat sich vor einer halben Stunde krankgemeldet – in Erwartung ihrer vorzeitigen Pensionierung.«

»Aus diesem Grund?«, wollte Sahlman jetzt noch ungläubiger wissen.

»Ja, warum sonst?«, antwortete der Direktor.

Sahlman nickte und schrieb. Wenn nun dieses Phänomen die Mitarbeiter so sehr verunsicherte, dass sie sich krankschreiben ließen, so würde er doch ebenfalls mit seinem Bericht besser dastehen, oder?

»Ist sie besonders sensibel?«, wollte er gerne wissen. »Ich meine, Ihre ehemalige Kassiererin.«

Vielleicht ist ja eine allzu starke weibliche Empfindsamkeit die Erklärung für diese merkwürdige Geschichte, dachte er matt. Er hoffte es inständig.

»Nein, vielleicht eher besonders vernünftig«, zischte Linda, als sie einsehen musste, dass der aufschneiderische Polizist das Ausmaß ihrer Besorgnis nicht im Geringsten erfasst hatte!

»Was genau hat Sie gerade heute veranlasst, Anzeige zu erstatten?«, lenkte Sahlman das Gespräch schnell auf ein weniger heikles Thema. »Wenn ich recht verstehe, plagt Sie... dieses Phänomen... schon eine ganze Weile?«

»Ja, seit fast zwei Wochen! Wir trauen uns schon nicht mehr, Touristen nach oben in die Säle zu lassen. Wir lügen sie an und erfinden Renovierungsarbeiten, denn für ihre Sicherheit können wir ja bis auf weiteres nicht garantieren.«

Sie blickte wütend und auffordernd zu Jernback hinüber, der etwas zerstreut zustimmend nickte. Er musste ihr beipflichten, denn er persönlich trug letztendlich die gesamte Verantwortung.

»Solange es sich nur um Stimmen handelte«, fuhr Linda unverdrossen fort, »und um zuschlagende Türen und Windstöße... und diese Lichtgestalt..., ja, solange hielten wir es aus. Aber als er dann direkt zum Angriff überging, da wurde es richtig unheimlich!«

»... Angriff«, notierte Sahlman in seinem Heft, schaute sie jedoch sofort wieder an. »Wie, zum Angriff?«, fragte er zweifelnd.

»Mit Putz, Steinen... Gesteinsbrocken«, erklärte sie. »Erst dachten wir natürlich, dass Stücke aus dem Gewölbe oder Mauerwerk zu verfallen begannen und dringend restauriert werden müssten. Aber als Backstein und Schotter horizontal geflogen kamen, wurde es uns wirklich zu viel!«

»Und Sie haben in diesem Zusammenhang nie eine reale Person gesehen? Keinen Hinweis darauf, dass sich dort oben jemand verstecken und sich einen Scherz erlauben könnte?«

»Scherz!«, platzte es schrill aus ihr heraus. »Nennen Sie ein Messer, das auf Sie zugeflogen kommt und weniger als fünf Zentimeter neben Ihnen im Gebälk einschlägt, einen Scherz?!«

Sahlman hob abwehrend die Hände gegenüber der Frau im schicken Hosenrock und designergestrickten Wollpullover, die wie eine rasende Furie vor ihm stand. Ein ähnlich instinktives Signal von entwaffnender Untergebenheit, wie ein Hund, der den Kopf senkt.

»Ja, ja, immer mit der Ruhe«, beschwichtigte er sie. »Ich muss Ihnen leider diese Fragen stellen. Es ist meine Pflicht, vollständig Bericht zu erstatten. Auf welcher Etage war das passiert, sagten Sie?«

Linda hatte gar nichts gesagt, aber entschied sich, seine Intervention als Friedensangebot aufzufassen. »Also«, brummelte sie noch ein wenig missgestimmt, »in der zweiten. Über der Küchenetage.«

Sahlman notierte. »Man hat ein Messer nach Ihnen geworfen«, rekapitulierte er. »Befindet es sich noch immer im Holz da oben?«

»Wie soll ich das wissen? Ich gehe nicht noch einmal freiwillig da hoch, bis das ein für alle Mal geklärt ist!«

Sahlman suchte nach der moralischen Unterstützung des Direktors, doch dieser hatte plötzlich etwas ganz Wichtiges am Nagelbett seines linken Ringfingers zu untersuchen.

»Okay, dann schaue ich mich mal um. Gibt es da oben Licht?«, fragte Sahlman.

»Ja, im ersten Stockwerk, in der so genannten Küche«, sagte der Direktor unvermittelt, als sei er plötzlich aus seinen intensiven Nagelbetrachtungen erwacht, »da gibt es eine Zeitschaltuhr. Weiter oben, in der zweiten und dritten, gibt es nicht viel mehr als Tageslicht. Hier haben Sie eine gute Taschenlampe.«

Keiner von ihnen erbot sich, ihn nach oben zu begleiten. So machte sich Sahlman allein auf den Weg über die geschwungene, schmale Turmtreppe – zu den prunkvollen Gemächern früherer Könige und Königinnen.

Es war ihm ein wenig peinlich, doch als er ein Stück die Treppe hochgestiegen war und sie ihn nicht mehr sehen konnten, tastete er unmittelbar nach seiner Dienstwaffe im Achselhalfter. Man konnte ja nie wissen...

Die Waffe, eine Sig-Sauer, vom Kaliber 9 mm, war Polizeistandard. Seine hatte jedoch einen individuell angefertigten Ledergriff. Zur Sicherheit nahm er sie aus dem Halfter und klemmte die Taschenlampe einen kurzen Augenblick zwischen die Knie, während er sie entsicherte. Dann nahm er die Pistole in die rechte Hand, die Lampe in die linke und setzte seinen Weg durch das backsteingemauerte Turmtreppenhaus entschiedenen, aber behutsamen Schrittes fort.

Die schlichte Tatsache, sich zu dieser Tageszeit allein hier oben in den nasskalten Sälen des Kärnan zu befinden, ließ ihn erschauern.

Sahlman hatte den Eindruck, in ein Heiligtum vorzudringen, fast so, als verschaffte er sich in dieser gehetzten, modernen Zeit Zutritt in die geheiligte Nische einer höheren Instanz.

Selbstverständlich war er schon einmal hier gewesen, damals jedoch während der gängigen Öffnungszeiten. Das war einige Jahre her, denn man besuchte doch eher selten die touristischen Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt. Aber er konnte sich noch gut an den sommerlichen und hellen Tag erinnern. Unermüdlich war er die steilen Stufen bis zur Dachterrasse hinaufgetrabt, denn er wollte die Aussicht genießen, genau wie die meisten anderen. Er hatte sich von der grandiosen Szenerie eines glitzernden Öresund – und der Küstenlinie Dänemarks bis hin zum offenen Meer des Kattegat – faszinieren und von den wohl bekannten Klängen der Hafenstadt verlocken lassen.

Die Großfähren hatten sich damals schon wie heute mit den streitlustigen Sundbussen auf dem Wasser gedrängelt. Die Züge waren durch die unterirdischen Tunnel unter Knutpunkten hin- und hergedonnert – diesem Triumphbau, dem es gelungen war, Helsingborg über Nacht auf die Wunschlisten aller Globetrotter zu setzen.

Vom Hubschrauberlandeplatz im Südhafen wurden die Passagiere mit diesem unverkennbar großspurigen Geknatter, das die Prominenz der VIP-Gesellschaft ankündigte, zum Großflugplatz Kastrup hin- und wieder zurückgeflogen. Und in einem nicht abreißenden Strom waren die Lastwagenkarawanen an die Abfertigungsschalter des Fährterminals und weiter in die jeweiligen Wartespuren gerollt.

Genau wie immer.

An diesem Tag war es sonnig und warm gewesen.

Ganz anders als jetzt.

Und trotzdem hatten die leeren, kalten Säle, um die Wahrheit zu sagen, keinen allzu intensiven Eindruck bei ihm hinterlassen. Schöne Gewölbe, imponierende Deckenhöhen und Mauertechnik – sicherlich!

Aber es hatte ihn nicht angesprochen.

Nicht so wie jetzt.

Denn augenblicklich drängten sich ihm Visionen darüber auf, wie das Leben hier ausgesehen haben müsste und wie die Menschen vergangener Zeiten in den Mauern des Kernturmes gelebt haben könnten.

In seiner Fantasie hörte er Stimmen. Sie lachten, schimpften und befahlen und hallten vom Mauerwerk wider, das von flackerndem Licht mit geheimnisvoller Rußschrift versehen war.

Sie erwachten zu neuem Leben.

Verführerische, würzige Düfte aus der Küche verströmten sich nach oben in die Reichrats- und Gästesäle.

Zogen weiter nach ganz oben zum König und seinem Gefolge.

Doch sie waren keine Gespenster und diese Vorstellungen in keinster Weise bedrohlich. Nein, sie entsprangen stattdessen den unfreiwilligen Pirouetten seiner Fantasie. Visionen im Rauschen des Flügelschlags der Vergangenheit. Sahlman ließ sich mit einem Gefühl tiefer Ehrfurcht vor dem Lauf der Geschichte erfüllen.

Die Küche im ersten Stockwerk war im Übrigen leer, also beschloss er, der Fährte nach oben zu folgen.

Die Treppe war lang, und er spürte die ungewohnte Steighöhe in den Knien und Rückenwirbeln. Er keuchte zwar nicht gerade, atmete aber schon angestrengter als normal, als er endlich über die Schwelle zum Reichsratssaal stieg.

Da steckte kein Messer in der Tür.

Und er fand auch keine Spur einer Messerspitze, soweit er es in dem Dämmerlicht beurteilen konnte.

Er schwenkte den Lichtkegel über die Wände, in die Winkel und Alkoven hinein und weiter nach oben, wo er hoch über sich die Querbalken des Deckengewölbes erhellte.

Das Licht tanzte weiter bis unter die Kuppeln und ließ die Türöffnungen zu den leeren Zwischenstockwerken wie stumme staunende, schwarze Riesenaugen an den Wänden erscheinen.

Er hörte etwas zuschlagen.

Es rauschte, kratzte und heulte.

Er lenkte unwillkürlich den Lichtkegel in Richtung des Geräusches, verlagerte das Körpergewicht und zog seine Sig-Sauer.

»Hallo? Ist da jemand – hallo?«, rief Sahlman, doch er erhielt keine Antwort.

Er griff die Pistole fester, blinzelte ins Halbdunkel und hoffte, dass ihm Fortuna selbst zur Seite stehen würde.

Schreiend flüchtete ein verstörter Vogel von seinem Nistplatz in einem der vielen Schießscharten der Fassade.

»Verdammt!« Sahlman fand keinen geeigneteren Ausdruck der Erleichterung darüber, dass er nur eine ganz gewöhnliche Taube aufgeschreckt hatte.

Der Vogel stürzte sich in Todesverachtung nach draußen und fiel an der Fassade entlang zu Boden. Doch die plumpen Flügel verliehen ihm schließlich so viel Tragkraft, dass er seine Flucht hinunter zur grandiosen Blutbuche im Park von Slottshagen unter aufgebrachtem Geschrei fortsetzen konnte.

Hier würde er in jedem Fall in Ruhe schlafen können!

Sahlman schob den Stetsonhut ein wenig zurück und wischte sich mit dem Mantelärmel einige Schweißperlen aus der Stirn.

Er wusste nicht, wer sich eigentlich mehr erschrocken hatte: der Vogel oder er selbst.

Ansonsten war der prachtvolle Saal des Reichsrates wieder genauso öde und leer wie die Küche. Also setzte er seine Fahndung fort.

Stieg hinauf, ging zügig in den Gästesaal hinein und weiter bis zum Zwischengeschoss, das von der dritten Etage zur Dachterrasse führte.

Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es hier Gästetoiletten gab. Keine mittelalterlichen Aborterker außen an der Nordseite und mit freier Fallhöhe, sondern neuzeitliche, unter sanitären Gesichtspunkten vollkommen akzeptable Wasserklosetts.

Da er nicht an Gespenster glaubte und Vögel keine Steine werfen konnten, musste derjenige, der das Personal in diesem ehrenwerten alten Gebäude plagte, nach der Ausschlussmethode menschlicher Natur sein, resümierte er. Und Menschen hatten, im Gegensatz zu Geistwesen, natürliche Bedürfnisse.

Es spielte keine Rolle, womit sie sich beschäftigten, aber auf die Dauer konnte keiner von ihnen umhin, aufs Klo zu müssen. Und dort hinterließen sie eventuell unfreiwillig die eine oder andere Spur, erhoffte sich Sahlman.

Aber als er dort oben ankam, war die Tür verschlossen.

Er fluchte irritiert, wie bestimmt viele Touristen vor ihm, die sich ebenfalls mühsam hier hochgekämpft hatten, um sich zu erleichtern.

Die Frage war nur, was es hier eigentlich zu verschließen gab. Einige abgenutzte Kloschüsseln und ein paar gesprungene Handwaschbecken!

Jetzt spürte er die Anstrengung dieser zweifellos ansehnlichen, vertikalen Kletterpartie deutlich. Sein Herz pochte unangenehm, und er war außer Atem.

Aber er musste weiter, denn sein Berufsethos verbat ihm, die Dachterrasse von seinen Untersuchungen auszuschließen. Er konnte ja kaum in seinem Bericht schreiben: »Räumlichkeiten nicht vollständig in Augenschein genommen. Der Unterzeichnende hat es nicht bis ganz nach oben geschafft.«

Er spürte einen eisigen Wind von oben durch das Turmtreppenhaus ziehen.

Die Tür zum Dach stand weit offen, und in dieser Höhe war es merklich kühler als unten in den Straßen.

Da draußen pfiff ein scharfer, jammernder Wind über den Rand der Mauerkrone – ein Wind, der unbarmherzig die drei Minusgrade am Boden verdreifachte oder schätzungsweise sogar vervierfachte.

Er hatte wahrlich keinerlei Ambitionen, auf die Terrasse hinauszutreten, würde aber wohl kaum darum herumkommen.

Völlig unvermutet rüttelte es an der Tür direkt über ihm, und ein trostloses Knarren durchschnitt die einsame Stille. Er hielt inne.

Horchte, strengte seine Augen in dem unzureichenden Licht bis zum Äußersten an und nahm wie ein aufgeregter Jagdhund Witterung in der nasskalten Luft auf.

Bereit, beim geringsten bedrohlichen Anlass anzugreifen.

Die Tür knarrte erneut.

Sahlman atmete erleichtert aus. Der Wind hatte an ihr gerissen und gezogen, an ihrer theatralischen Gefangenschaft gerüttelt, doch sie verblieb gefesselt in ihrer schmiedeeisernen Angel, die ihr keinerlei Aussicht auf Befreiung bot.

Er steckte die Lampe in die Tasche, da die nächtliche Beleuchtung der Stadt die Turmkrone sicher genügend von außen erhellen würde. Umfasste die Sig-Sauer fest mit beiden Händen, hielt sie hoch und stieg auf die Dachterrasse hinaus.

Sowohl die Scheinwerfer als auch die Fassadenbeleuchtung leisteten effektive Arbeit und strahlten bis zum Dach hinauf. Das Licht spielte in enthüllender Weise mit den Turmzinnen, obgleich es so schien, als gäbe es absolut nichts zu exponieren.

Begreiflicherweise war es leer hier oben, aber er hatte die Pflicht, einmal die Runde um die Krone zu machen, um sich seiner Sache sicher sein zu können.

»Zum Teufel auch!«, fluchte er, als er auf dem vereisten Boden ausglitt und für einen kurzen Moment die Balance verlor.

Was für ein verkorkster Abend, dachte er. Doch nun war auch dieser undankbare Auftrag endlich überstanden. Es blieb ihm nur, festzustellen, dass es nichts mehr zu tun gab. Die Tür musste von selbst aufgeweht sein, denn außer ihm selbst befand sich keine Seele hier oben – weder lebendig noch tot.

Sie müssten wohl morgen ein paar Jungs von der Streife für einen abschließenden Überblick herschicken. Oder Mädels, ja warum nicht?! Die mögen doch dieses Okkulte, Mystische und solche Gefühlsduseleien, dachte er mit einem leicht verfrorenen Grinsen.

Er schwang sich schnell die Turmtreppe wieder hinab, erbarmte sich der traurig knarrenden Tür und schloss sie sorgfältig hinter sich.

Dankbar stellte Sahlman fest, dass es bedeutend leichter war, hinunter- als heraufzusteigen. Aber die schmalen, steilen Stufen zogen an den Gelenken und Bändern, die umgehend mit anhaltendem Schmerz reagierten. Vielleicht fordert das Alter doch langsam sein Recht? Er sollte jetzt schnellstens nach Hause gehen und sich ein wärmendes Bad gönnen.

Inzwischen schien die schlimmste, nahezu unerträgliche Kälte, die er auf dem Dach verspürt hatte, etwas nachzulassen, und er begann sich wieder wie ein Mensch zu fühlen.

Er dachte nach und fragte sich, ob es nicht eigentlich ein ziemlich langweiliger Job war, da unten an der Rezeption, besonders in den Wintermonaten. Es waren ja wohl nicht allzu viele, die zu dieser Zeit die Burg besteigen wollten? Und sicher noch weniger, die beabsichtigten, einen Rundgang durch die kahlen, frostigen Großmachtsäle zu machen.

Vielleicht war den Damen vom Personal, die dort an der Kartenausgabe saßen und auf die seltenen Besucher warteten, sogar derart langweilig, dass die Fantasie am Ende mit ihnen durchging?

Sozusagen ohne weiteres Zutun.

Genauso intensiv, wie er es selbst gerade erlebt hatte.

Die Bilder vergangener Zeiten waren so wirklich gewesen. Er hatte vor seinem inneren Auge förmlich die Zeremonien der vornehmen Gesellschaft ablaufen sehen, obwohl er ohne jeden Zweifel wusste, dass sie nicht echt, sondern nur seiner ungewöhnlich starken Vorstellungskraft entsprungen waren.

Wenn nun die Damen da unten... also, man stelle sich einfach vor, sie hätten Schwierigkeiten, genau diese Grenze auszuloten? Er meinte natürlich nicht, dass sie sich bewusst täuschen ließen, nein, so dachte er wirklich nicht! Aber vielleicht täuschten sie sich selbst?

Wieder passierte er die Toilettenetage, beeilte sich diesmal jedoch, weiter ins dritte Stockwerk zu kommen.

Da war es bestimmt genauso leer wie vor einer Weile, und etwas anderes erwartete er auch nicht. Nein, er wollte am liebsten auch den Gästesaal links liegen lassen, dem Eingang zustreben und dieser peinlichen Farce ein würdiges Ende bereiten.

Doch er kannte seine Pflicht. Und mehr um der lieben Routine willen riskierte er einen zusätzlichen Blick in den Saal.

Er war tatsächlich noch immer leer. Aber zu seiner vollkommenen Überraschung ergriff ihn eine Eiseskälte.

Sie umhüllte ihn wie ein weißer Nebel und berührte sein Gesicht schamlos mit einer todesähnlichen, frostklammen Liebkosung. Drückte seine Schultern wie in einem Eispanzer nach unten, lähmte seine Glieder und schickte einen unwirklichen Schauder durch seinen gesamten Körper.

Er schaffte es nicht, die Hände zu heben.

Konnte nicht...

Die Pistole hing nutzlos in seiner schlaffen Hand, irgendwo auf Höhe des Oberschenkels.

Das Licht war gleißend blau.

Schmerzhaft blendende Strahlen drangen in seine Augen und weiter bis in die Hirnrinde, wo sie mit ungeahnter Kraft die Vernunft lahm legten. Sie kamen irgendwo aus der Mitte des Raumes und waren so stark, dass er sie unmöglich fokussieren, geschweige denn überhaupt irgendetwas erkennen konnte.

Doch er hörte etwas.

Hörte ein klagendes Wimmern.

Konnte den trauervollen Klang auf seinem Weg über Gewölbebögen, backsteinerne Kuppeln und Alkoven verfolgen.

Diesmal handelte es sich nicht um ein aufgeschrecktes Tier. Da war er ganz sicher. Es hörte sich wie eine menschliche Stimme an, und in dem verzerrten, dumpfen Rauschen vernahm er Worte, die sich zu einer Furcht erregenden Botschaft formten.

Sahlman war plötzlich wie gelähmt. Willenlos stand er da, wie ein Verurteilter, ein wehrloses Opfer vor dem Urteilsspruch, der aus unwirklich fernen Sphären zu ihm drang.

Er hatte Schwierigkeiten, etwas zu verstehen. Den Sinn der Worte zu erfassen, deren Bedeutung durch das intensive blaue Licht nicht zu ihm durchdringen konnten.

Schließlich gelang es ihm, den Arm schützend vor die Augen zu halten, und er glaubte, die Lichtquelle ausmachen zu können. Aber vor allem hörte er die klagende Stimme. Sie jagte an den Wänden entlang, verstärkte sich und wurde dann wieder gedämpfter, als käme sie aus einer anderen Dimension.

Dann verstummte sie.

Hing irgendwo direkt über ihm – und auf einmal verstand er die unheimliche Bedeutung der Worte.

»Will... will...«

Was wollte sie?

»Willll... ohhh...«

Sie driftete zwischen Sehnsucht und Verzweiflung – er selbst zwischen Einsicht und Vernunft.

»Mmmm... wiillll...«

Er hatte gedacht, so etwas existierte nur in der Fantasie oder in einem billigen Roman, doch jetzt brach ihm spürbar der kalte Schweiß aus, und er bekam unweigerlich eine Gänsehaut, die ihm die Haare zu Berge stehen ließ.

Sahlman würde es nie auch nur irgendwem erzählen. Niemals. Auch wenn sich ihm in dieser Lage die Nackenhaare bereits so gesträubt hatten, dass sie nahe dran waren, das Schweißleder seines Hutes zu erreichen.

Es hätte durchaus die Eiseskälte sein können, die ihm übel mitspielte, doch ihm war nur allzu schmerzlich bewusst, dass er hier das blanke Entsetzen erlebte.

Ein fürchterlicher Lärm löste die Stimme ab. Ein hohler, merkwürdiger Missklang, den Sahlman zuerst überhaupt nicht einordnen konnte. Er vermischte sich mit dem lauter werdenden Gejammer, wie um es zu übertönen oder zu ersticken.

Die Stimme grölte, quälte sich bis zum Wahnsinn, um endlich ihren Willen in einem rasenden Crescendo kundzutun.

»... Leben!!!«

Etwas Scharfkantiges flog Sahlman an den Kopf.

Obwohl der Stetsonhut das Gröbste abfing, tat es doch ziemlich weh. Gleichzeitig weckte ihn der Schmerz aus seiner alptraumhaften Trance.

Er begriff, dass um ihn herum noch mehr von der Decke fiel, und stürzte in reinem Selbsterhaltungstrieb der Türöffnung entgegen.

Er erreichte die Turmtreppe mit ein paar schnellen Sprüngen, blickte sich nicht um und preschte, so schnell er konnte, die schräg abgetretenen Treppenstufen abwärts.

Er konnte sich definitiv nicht mehr um eine weitere Inspektion des Rittersaales oder der Küchenetage kümmern. Erst als er den Lichtschein von unten wahrnahm, hielt er inne und versuchte, sich ein wenig zu beruhigen.

Er lehnte sich erschöpft gegen das Gemäuer des Treppenhauses, während die Atmung in seinen Lungen rasselte und der Puls wie Urwaldgetrommel in seinen Schläfen hämmerte.

Zu seiner Verwunderung merkte er, dass er sowohl die Pistole als auch die Taschenlampe noch immer bei sich hatte. In einem verzweifelten Versuch, die Kontrolle über sein Denkvermögen zurückzugewinnen, schüttelte er heftig den Kopf.

Was zum Teufel war dort oben eigentlich geschehen?

Er hatte keine vernünftige oder zumindest annehmbare Erklärung.

Jetzt drangen Stimmen die gewundene Treppe hinauf, und im Stillen war er dankbar, dass es nur die der Museumsangestellten und des Direktors waren.

»Wir sollten vielleicht...«, meinte der Direktor halbherzig vom Foyer aus.

»Nie im Leben – ich gehe nicht eher da hoch, bis das hier geklärt ist!«

Linda Persson klang noch immer äußerst bestimmt, und trotzdem war Sahlman innerlich froh, sie da unten sprechen zu hören.

Er atmete mehrmals tief durch und räusperte sich, um zu kontrollieren, ob seine Stimme noch funktionierte. Dann rief er so selbstsicher wie möglich:

»Es ist alles in Ordnung, ich bin jetzt auf dem Weg ins Erdgeschoss. Sie können sich beruhigen.«

Die Worte galten ehrlicherweise ebenso gut ihm selbst. Er merkte tatsächlich, dass ihn seine Beine wieder sicherer trugen; also richtete er seinen Kamelhaarmantel und ging mit einstudierter Ruhe die letzten Stufen zum Eingangsbereich hinunter.

»Da war nichts Merkwürdiges«, versicherte er, wurde aber gleichzeitig den Eindruck nicht los, dass ihre Blicke ihn durchschauten und seine hochtrabenden Lügen bloßstellten.

Linda faltete die Arme über der Brust. »Nichts? Und was ist mit Ihrem Hut passiert?«, fragte sie.

»Mit meinem Hut?« Er nahm den teuren Hut ab. Sah, dass er total ruiniert war und Blut am Schweißband klebte.

»Sie bluten ja!«, stellte sie mit einem andeutungsvollen Unterton fest.

»Äh... ich bin nur ausgerutscht und habe mich oben auf dem Dach gestoßen«, log er schwach. Er bürstete sich den Staub vom Mantel und schaltete wieder seine normale Beamtenstimme ein. »Wir werden morgen eine Streife schicken. Es schadet ja nichts, noch einmal bei Tageslicht zu gucken, aber, wie gesagt, ich habe nichts Merkwürdiges entdeckt.«

Linda sah ihn sowohl ungläubig als auch enttäuscht an. »Na ja, aber hier ist ein Pflaster, für alle Fälle. Soll ich Ihnen helfen, es draufzukleben?«

»Danke, das geht schon«, antwortete er und räusperte sich erneut ein wenig verlegen.

Er vermied, ihrem Blick zu begegnen, und nahm das Pflaster dankend an. Vorsichtig betastete er die Stirn und drückte es auf eine unschön blutende Wunde. Die Stelle begann bereits ordentlich anzuschwellen, und er würde vermutlich genau auf Höhe des Hutbandes eine richtig reizvolle Beule davontragen.

»Können wir denn jetzt schließen?«, fragte Bo Jernback.

In seiner Stimme schwang Erwartung mit, und er war bereits dabei, die obersten Knöpfe seiner hellen Nappalederjacke zu schließen.

Auch er wollte nach Hause.

»Sicher, sicher!«, beeilte sich Sahlman zu antworten. »Doch es wäre vielleicht klug, die Touristen weiterhin zurückzuhalten, bis wir diese Sicherheitskontrolle hinter uns gebracht haben.«

»Ach so«, sagte Linda und schaute den Kommissar jetzt noch ungläubiger an – warum eine Sicherheitskontrolle, wenn nichts gewesen war?

»Ja, wie gesagt«, setzte Sahlman hinzu, »dann gute Nacht! Wir lassen morgen wieder von uns hören.«

Draußen auf der Holztreppe sog er dankbar die feuchtkalte Abendluft ein und stieg vorsichtig die frostglatten Stufen herab. Hinter sich hörte er den Direktor und die Kassiererin, wie sie die Tür ins Schloss fallen ließen und ihre Schritte ihm die steile Treppe hinab folgten.

Aber er wartete nicht. Wollte die Diskussion nicht unbedingt fortsetzen und damit eventuell riskieren, seine Lüge zu offenbaren.

Es war spät geworden. Viel später, als Sahlman gedacht hatte, und es war unerträglich kalt draußen. Ja, selbst der Kamelhaarulster reichte kaum aus, um die Minusgrade abzuhalten.

Er ließ die Festung und ihren Turm hinter sich. Ging eilends und fröstelnd die monumentalen Oscars trappor hinunter in Richtung Stortorget und überlegte, ob Utposten wohl heute Abend geöffnet hatte.

Er brauchte wirklich dringend einen Drink.

Nicht so sehr aufgrund der Kälte, sondern eher der beruhigenden Wirkung des Alkohols und wünschenswert netter Gesellschaft am Tresen wegen.

Es wird doch wohl irgendwen geben, mit dem man ein bisschen Smalltalk halten konnte.

Worüber? – das war ihm vollkommen gleichgültig. Über den Staatsminister und seine letzten Heldentaten vielleicht? Die Krise in der Altersfürsorge, die Vor- und Nachteile der vernetzten Gesellschaft und der Breitbandtechnik. Es war ihm völlig egal.

Heute Abend war er willens, über alles zu sprechen. Nur nicht über Gespenster!

Die Feuchtigkeit, die üblicherweise vom Sund herüberdriftete, nahm an diesem Abend bereits am Fähranleger Anlauf, glitt sachte hinauf über die Plätze, Straßen und Häuser und legte sich in Form von funkelnden Eiskristallen über alles, was ihr in den Weg kam.

Mit einem mächtigen Gruß hüllte Väterchen Frost den winterkahlen Buchenwald von Pålsjö in ein wunderlich weißes Kleid, bevor er weiter zu den Industrie- und Wohngebieten in Richtung Osten zog.

Er verzauberte alles, was seine nächtliche Route kreuzte.

Wie mit einem magischen Zauberstab verwandelte er das mondäne Tågaborg, die Hochhaussiedlungen Drottninghög und Dahlhem ebenso wie die Industrieflächen von Berga in schöne Fantasielandschaften, die bei allen Kindern Entzücken auslösen würden, wenn sie sie am Morgen erblickten.

Mietshäuser, Tankstellen, bunt erleuchtete Einkaufszentren und idyllische Einfamilienhäuser wurden der Reihe nach mit Frost überzogen und mit einem kristallenen Glitzern versehen. Schließlich legte sich selbiger in einer lebensgefährlichen Glasur auf den schwarzen Asphalt der Autobahnen E4 und E6 östlich der Stadt.

Die Streufahrzeuge arbeiteten fieberhaft, um die Glatteisgefahr zu reduzieren, doch die ersten Wagen waren bereits von der Straße abgekommen, und unvorbereitete Autofahrer riefen in der lähmenden Kälte nach Hilfe.

Sie hätten ebenfalls einen Drink nötig gehabt.

Doch Sahlman benötigte mehr als einen. Er war schnell bei seinem dritten Gin Tonic im Kellerlokal Utposten. Bei der Bestellung Nummer drei hob der Barmann leicht die Augenbrauen, doch Sahlman selbst betrachtete seinen Alkoholkonsum in diesem Fall als unverzichtbare Gesundheitspflege.

Rein logisch gesehen war das, was er erlebt hatte, völlig unerklärlich gewesen. Geradezu unwahrscheinlich – ja, um nicht zu sagen unmöglich.

Rein theoretisch konnte also gar nichts passiert sein. Er war einem Hirngespinst aufgesessen, ganz einfach – genau so war es!

Doch wenn dort oben in der mittelalterlichen Burg nun tatsächlich nichts Besonderes vorgefallen war – warum hatte er dann diese gehörige Stärkung nötig?

Sahlman konnte sich auf Dauer natürlich nicht selbst belügen. Er konnte versuchen, anderen etwas vorzumachen, aber kaum sich selber. Dort oben im Gästesaal hatte sich etwas ereignet, das ihn tief ins Mark getroffen und vermutlich für immer verändert hatte.

Als wäre das Leben plötzlich umgeleitet worden – auf ein Nebengleis, von dem aus es in eine unbekannte Richtung unter unklaren Bedingungen und mit völlig widersprüchlichen Vorstellungen weiterging.

Er war zutiefst in seiner Seele erschüttert.

Zum ersten Mal in seinem Leben bedauerte er es, niemanden zu Hause zu haben, der auf ihn wartete und mit dem er die Verwirrung hätte teilen können. Jemand, der sich seine idiotische Geschichte angehört hätte, damit er die unwahrscheinlichen Worte laut hätte aussprechen können.

»Ich habe ein Gespenst gesehen!«

Aber es wartete leider niemand, außer natürlich seinem geliebten Goldfisch Wanda mit den goldenen Schleiern, doch mit ihm konnte man nicht sprechen! Nein, außer ihm war da nur seine aufgeräumte, aber einsame Junggesellenwohnung, die ihn an einem Abend wie diesem kaum locken konnte.

»Lädst du mich auf ein Bier ein..., compadre?«, hörte er eine schleppende Stimme sagen. Er fühlte eine schwere Faust auf seiner Schulter. Die robuste Begrüßung eines unbekannten Saufkumpanen.

An jedem anderen Tag hätte sich Sahlman zu seiner vollen Größe aufgerichtet und den Betreffenden gebeten, sich einen Platz weiter weg zu suchen, am besten am anderen Ende der Stadt. Doch in diesem Fall erschien ihm die aufdringliche Anfrage als außerordentlich willkommene Unterbrechung seiner wirren Gedanken, und Sahlman nahm den Vorschlag bedingungslos an.

»Klar! Sure, setz dich«, sagte er ebenfalls ein wenig träge. »Welche Sorte Gift bevorzugst du?«

»Ich werd verrückt, geben Sie wirklich einen aus? Das war das Letzte, was ich von Ihnen erwartet hätte, Schutzmann!«

Schutzmann?

Was sollte denn diese idiotische Anrede?

Sahlman wurde munter, wandte sich um und starrte auf seinen selbst ernannten Gast.

Der Terminator. Der Mann mit dem eisernen Willen und dem Zeug zum Geschäftsmann, der die Motorradclique Gangsters in Lönnarp anführte. Ein Mann, mit dem sich keiner, der auch nur ein bisschen gescheit im Kopf war, absichtlich anlegen würde. Der allerdings im Augenblick äußerst jovial wirkte.

Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck stand er schräg hinter Sahlman und zwirbelte seinen rothaarigen Schnurrbart. »Okay, wenn Sie es sagen«, grinste er verschmitzt, schwang ein Bein über den Barhocker neben Sahlman und machte es sich bequem.

Er roch nach Leder und Öl wie nicht anders zu erwarten war.

Sahlman blieb stumm. Was sollte er auch sagen?

»Na?«, fragte der Terminator. »Was ist denn mit Ihnen los? Sie sehen ja völlig fertig aus, verdammt. Sind Sie vom Personalabbau im Corps betroffen, oder haben Sie sich nur den Mantel versaut?«

Sahlmans Vorliebe für peinlich korrekte Kleidung war demnach sogar außerhalb der Mauern des Polizeigebäudes Gegenstand der allgemeinen Erheiterung, was ihm nicht besonders gefiel, vor allem nicht jetzt.

»Hören Sie mal, immer ganz sachte«, brauste er auf. »Wenn Sie nützliche Informationen anzubieten haben, bleche ich für Ihr Bier. Ansonsten rate ich Ihnen, sich unauffällig zu verziehen.«

»Hoppla, hoppla!«, sagte der Terminator verwundert. »Das war ernst gemeint. Sagen Sie mir, womit kann ich Ihnen helfen?«

Er war heute Abend wirklich gut drauf – gutmütig, neugierig und... beharrlich. Wie auch Gårdeman besaß er die Fähigkeit, Leute dazu zu bewegen, sich ihm anzuvertrauen.

»Tja«, meinte Sahlman griesgrämig, »Sie könnten ja Richtlinien für einen dauerhaften Waffenstillstand zwischen den Gangstern und den Outlaws erstellen. Das würde sicher verdammt gut helfen.«

»Shit, ich meine... etwas, das innerhalb der annehmbaren Grenzen liegt!«

»Ach, vergessen Sie’s und sagen Sie einfach, was Sie trinken wollen«, entgegnete Sahlman und tat den Rest der Diskussion mit einer irritierten Handbewegung ab.

»Sie sind doch nicht verkabelt oder so?«

»Was soll ich sein?«

»Wanze, Mikrofon...«

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich Sie hier treffen würde. Außerdem habe ich heute Abend frei – endlich.«

Der Terminator schaute ihn misstrauisch an.

»Ich habe es heute nicht auf Sie abgesehen«, versicherte Sahlman.

»Also dann... dann nehme ich Norrlands Guld.«

Das Bier kam – mit Schaumkrone und gut gekühlt – in einem großen Seidel, und der Terminator leerte das halbe Glas in einem einzigen Zug. Den im Bart hängen gebliebenen Schaum leckte er so sorgfältig und wollüstig ab, als wäre es die Sahne auf dem Neujahrswindbeutel.

Dann stieß er einen unvermeidlichen Rülpser aus und wandte sich Sahlman erneut aufmerksam zu. »Na, über welchen Problemen brüten Sie? Schießen Sie los! Meinen Lohn fürs Zuhören habe ich ja schon bekommen.«

Sahlman schaute ihn kurz an, zuckte mit den Achseln und beschloss, dass es egal war, wem er sein Herz ausschüttete. War schon möglich, dass der Chef der Motorradgang sogar besser geeignet war als seine eigenen Kollegen, die sich eher das Maul darüber zerreißen würden. Denn dieser Rocker hatte vermutlich selbst schon das eine oder andere Erlebnis dieser Art gehabt.

Er starrte in seinen Gin Tonic. Als er den Alkohol ins Blut steigen merkte, verlor er seine Hemmungen, räusperte sich und kam schließlich zur Sache.

»Haben Sie jemals etwas... Übersinnliches erlebt?«

»Tja, nicht dass ich wüsste. Wenn, dann das eine Mal in Skövde, als ich auf einen dienstbeflissenen Bullen traf.«

»Haha, Scherz beiseite, haben Sie oder nicht?«

Der Terminator dachte ernsthaft nach. Das Gold aus Norrland half ihm dabei, so gut es ging.

»Nein.«

Sahlman seufzte enttäuscht. »Aber angenommen, Sie würden es erleben, wie würden Sie reagieren? Was würden Sie tun?

Nun seufzte der Terminator. »Tja, eine schwierige Frage. Was zum Teufel würde man dann eigentlich machen?«

Sie betrachteten ihre Gläser und genehmigten sich, wie auf verabredetes Signal, jeder erneut einen Schluck.

»Welche Art... übersinnlicher Erscheinungen meinen Sie denn genau?«, wollte der Terminator wissen.

»Gespenster.«

»Gespenster?«

Der Ganganführer schaute seinen zufälligen Trinkbruder erstaunt an, lachte aber nicht.

Er schien das Thema wirklich ernst zu nehmen, wofür Sahlman aufrichtig dankbar war.

»Nee, ein Gespenst hab ich noch nie gesehen«, gab der Terminator zu. »Einige Bräute können ja wie solche aussehen, klar..., aber kein richtiges Gespenst, nein. Und Sie?«

»Ja. Nein. Ich weiß nicht.«

Sahlman klang ebenso wirr, wie er sich fühlte. Doch der Terminator wollte ihm wirklich entgegenkommen, auch wenn sein flüssiger Lohn fürs Zuhören bereits fast ausgetrunken war.

»Jetzt erzählen Sie schon!«, forderte er ihn auf. »Fangen Sie ganz am Anfang an – immer schön der Reihe nach. Und dann werden wir sehen, was am Ende herauskommt.«

Es kostete Sahlman noch zwei Biere und einen weiteren doppelten Gin, bis die ganze Geschichte erzählt war. Unterdessen starrte der Terminator mit hellseherischem Blick auf die Flaschen in den verspiegelten Regalen hinter dem Tresen. Aber er hörte offenbar zu.

»Oh, verdammt«, sagte er, als Sahlman seinen Bericht schloss. »Das klingt gewaltig. Wenn das stimmt, ist es wirklich ziemlich heftig.«

»Natürlich stimmt es! Glauben Sie, man könnte so etwas Wahnsinniges erfinden?«, antwortete Sahlman gereizt.

Er merkte, wie er sauer wurde, doch der Terminator machte mit seinen schwieligen Fäusten eine wegwerfende Handbewegung.

»Nein, nein«, versicherte er, »ich meine nicht, dass Sie es erfunden haben könnten. Stellen Sie sich vor, es wäre gefaked? Wie auch immer, aber rein theoretisch wäre das doch möglich.«

Sahlman hatte nicht gewusst, dass der Terminator sich so stilvoll ausdrücken konnte. Rein theoretisch also.

»Meine ich jedenfalls«, fuhr der Terminator fort und trank den letzten Rest seines dritten Bieres. »Wissen Sie, was die heutzutage alles draufhaben, Filmtechniker und Stunts und so? Gehen Sie nie ins Kino? Das ist vollkommen unglaublich. Ich zieh mir total gern solche ›Making-Of‹-Reportagen über neue Horrorfilme rein. Die haben Trickeffekte, die einen an den Teufel selbst glauben lassen!«

An dem, was der Motorradboss sagte, war zweifellos etwas dran. Sahlman selbst war vermutlich einfach viel zu sehr involviert gewesen, um das Ganze rational betrachten zu können.

Wollte man wirklich jemanden irreführen, hatte man mit der neuesten Technik ungeahnte Möglichkeiten, das formvollendet zu tun. Audiovisuelle Ausrüstungen waren durch modernste Technologie nahezu perfekt geworden und wurden in den unterschiedlichsten Bereichen angewandt, von denen Unterricht und Theater nur einige Möglichkeiten waren.

Das Handy in Sahlmans Manteltasche klingelte.

Er verwünschte den Klang, der seine umherirrenden Gedanken störte. Erstmals an diesem Abend wollten sie sich zu einem relativ schlüssigen Gebilde formen.

Es war Mandén vom Präsidium. »Sahlman? Wo zum Teufel steckst du?«, fragte er leicht säuerlich. »Du hast noch keinen Bericht abgegeben.«

Sahlman räusperte sich, und es gelang ihm erstaunlich gut, eine nüchterne Person vorzutäuschen.

»Da gab es nicht so viel zu berichten«, antwortete er ausweichend. »Ich muss sowieso morgen noch eine Kontrolle durchführen. Ich denke, da macht es keinen großen Sinn, vorher einen Bericht zu verfassen.«

»Okay, soll ich dich also ausstechen?«

»Ja, könntest du so nett sein? Ich war fertig vor... einer Stunde.«

»Da hattest du aber Glück«, hob Mandén hervor. »Hill und Gårdeman sind immer noch im Dienst. Sie haben sich zu einem mysteriösen Todesfall draußen nach Råå begeben.«

Wenn du nur ahntest, in welchen mysteriösen Fall ich mich begeben habe, dachte Sahlman, sagte aber klugerweise nichts davon.

»Wieso mysteriös?«, fragte er stattdessen.

»Eine junge Frau ist offenbar an Zyanid gestorben.«

»Zyanid?«, fragte Sahlman. »In Råå? Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Doch, die Obduktion wird es zwar noch beweisen müssen, aber im Moment deutet alles darauf hin.«

»Das ist ja unglaublich – Mord oder Selbstmord?«

Sahlman bemerkte nicht, wie der Terminator unvermittelt und missmutig die Augenbrauen zusammenkniff. Dachte überhaupt kaum daran, dass er direkt neben ihm an der Bar saß. Und ahnte nicht die Tragweite seiner Erkenntnis, die den guten alten Terminator – diesen abweisenden, geheimnisvollen Kriegsfürsten – gerade in die Wirklichkeit zurückrief.

»Das bleibt abzuwarten«, antwortete Mandén und klang ein wenig gestresst. »Okay, dann sehen wir uns morgen.«

Er unterbrach die Verbindung und widmete sich einem neu hereinkommenden Alarm. Wieder würde man die Blaulichter wie unselige Plagegeister über den südlichen Zubringer schweben sehen, wo sie das Kunstwerk, das man im Volksmund Oscars Missgeburt nannte, umrundeten und sich weiter in Richtung Außenbezirke bewegten. In Gebiete, in denen akute Einsätze so selbstverständlich an der Tagesordnung waren wie die Angst ums eigene Leben, hervorgerufen durch die Anonymität der Architektur.

»Tut mir Leid, ich muss weiter«, sagte der Terminator überraschend und glitt geschmeidig vom Barhocker.

Sie hatten sich doch gerade erst warm geredet, wunderte sich Sahlman, oder nicht? Er war doch ein richtig... richtig angenehmer Typ. Man konnte sogar mit ihm plaudern, mit diesem rotbärtigen Motorradfreak. Warum hatte er es denn bloß so eilig?

»Noch ein Bier?«, versuchte Sahlman ihn zu locken.

»Nein, wirklich nicht!«, wehrte der Terminator ab.

»Ach kommen Sie schon... ich lad Sie ein...«

»Danke, nein, ich muss los«, sagte der andere. »Bis dann.«

Er war bereits auf dem Weg nach draußen, zog den Reißverschluss seiner Fransenlederjacke zu und nahm die Treppe zur Gasse hoch mit ein paar unerwartet nüchternen, raschen Schritten. Er war genauso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.

»Ja, ja«, murmelte Sahlman enttäuscht. Wieder allein, drängten sich ihm sofort ungute Erinnerungen auf. Er rang mit seinem Gewissen, ob er sich noch einen weiteren Drink genehmigen oder lieber nach Hause gehen und sich ins Bett legen sollte. Schließlich siegte die ruhespendende Matratze über weinselige Versuchungen.

Sahlman kletterte widerwillig vom warmen Barhocker und wanderte durch die spektakulär mit Raureif überzogenen Straßen nach Hause zu seiner geliebten Wanda.

Sie mussten zusehen, dass sie heute Nacht genug Schlaf bekämen, er und der Goldfisch.

Denn morgen würde es wieder Zeit für Gespensterjagd werden!

Die Frau im Schatten

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