Читать книгу Die Frau im Schatten - Bodil Mårtensson - Страница 7

17:25:22

Оглавление

Råå – das einst so bedeutsame Fischerdorf, das in einer blutigen Schlacht nach der anderen den großen Dänen auf der anderen Seite des schmalen Sundes so beständig abgewehrt hatte – schien heute die Wiege von Harmonie und Ruhe zu sein.

Über die Jahrhunderte konnte man verfolgen, wie die wechselhafte Konjunktur, die vom Heringfang abhing, die Lebensbedingungen des Dorfes diktierte: von vornehmem Wohlstand bis hin zu äußerster Armut.

Heutzutage war der Ort wieder ausgesprochen wohlhabend, obgleich längst nicht mehr die Fischerei das Geld einbrachte. Das Gold der Yuppies und das Silber der Boutiquen waren verantwortlich für die gefüllten Kassen, und über die stolzen Einkünfte wurde schamlos im Verzeichnis der Steuerzahler höherer Einkommen Rechenschaft abgelegt.

Doch allen Modernisierungen zum Trotz lebte man hier immer noch ein bisschen wie zur Zeit der Jahrhundertwende. Umgeben von Strandpromenaden und kleinen Läden in überschaubaren Geschäftszeilen aus dunkelrotem oder hellgelbem Ziegel verband die Einwohner des Ortes eine altmodische Vertrautheit.

Ein Idyll – ohne jeden Zweifel. Aber die Frau, die an diesem Abend auf dem Fahrersitz im Auto draußen in Råå saß, hatte überhaupt nichts Idyllisches an sich. Ihr Oberkörper war in einem schiefen Winkel an den Beifahrersitz gelehnt, und ihr Kopf ruhte auf dessen Nackenstütze.

Sie starrte vor sich hin in eine unbekannte Ferne, und der offene Mund gab dem Gesicht einen merkwürdigen, leicht verwunderten Ausdruck.

Sie war tot.

Leider bestand daran nicht der geringste Zweifel. Außerdem musste alles ziemlich schnell gegangen sein, denn sie hatte es weder geschafft, aus dem Auto zu steigen, noch, die geringste Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Gewiss gab es nicht viele Leute, die sich an diesem nasskalten Abend hier in dem verschlafenen kleinen Vorort von Helsingborg auf der Straße aufhielten, aber irgendjemand hätte doch immerhin auf sie aufmerksam werden müssen, falls sie wider Erwarten die geringste Chance gehabt hätte, nach Hilfe zu rufen. Sollte man zumindest meinen.

Warum man den Vorfall überhaupt bemerkt hatte, lag einzig daran, dass ein Bewohner von Råå während des Abendspaziergangs mit seinem Hund dankenswerterweise auf sie aufmerksam geworden war, weil sie so verwundert zum funkelnden Sternenhimmel emporgeblickt hatte.

Seine Aussage war furchtbar umständlich formuliert.

Er hat sie wiedererkannt, sagte er, obwohl sie noch nicht besonders lange in Råå wohnte. Manchmal hatte er sie im Laden gesehen. Sie war sehr jung – sicher nicht älter als fünfundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre –, aber dennoch eine flotte junge Dame.

Auf so etwas achtete man eben.

Und träumen dürfte man doch wohl!

Sie hatte angeblich ein kleines Reihenhaus, glaubte er zu wissen, nicht weit von dort, wo das Auto jetzt am Bürgersteig geparkt war. Ein Reihenhaus, in das sie ziemlich genau vor einem Jahr eingezogen war.

Erst ging er einfach an dem Auto vorbei. Trottete den Bürgersteig entlang, ohne den glänzend gewachsten, mitternachtsblauen Mitsubishi näher zu beachten. Der Hund musste ja wohl oder übel sein Geschäft machen!

Erst auf dem Rückweg mit seinem Hund, da schwante ihm nichts Gutes.

Denn da saß sie noch immer, die hübsche, elegante junge Frau, die er meinte, schon einmal im Supermarkt gesehen zu haben. Hatte sich seit Minuten nicht bewegt. Nicht einmal mit der Wimper gezuckt, seitdem sie vorbeigegangen waren...

So, als ob sie da saß und direkt ins Paradies schaute.

Und eine andere Sache, die ihn stutzig machte, war, dass der Hund plötzlich den Schwanz einzog. Der alte schwarze Labradorrüde zog unruhig an der Leine und winselte, als würde er Prügel bekommen.

Da kapierte der Mann endlich.

Trotz seines hohen Alters lief er den ganzen Weg zum örtlichen Polizeirevier Söder am Landskronavägen.

Tja, was sollte man machen? Er besaß kein neumodisches Mobiltelefon – er war ja immerhin nur ein gewöhnlicher Frührentner!

Und dann rannte er, bis das Herz kaum noch mitmachte, um völlig außer Atem an der geschlossenen und verrammelten Wache anzukommen.

In diesen schnöden Sparzeiten konnte man sich nur minimale Öffnungszeiten von zehn bis dreizehn Uhr leisten und hoffen, dass sich alle Verbrecher danach richteten. Doch wie aus einer Laune des Schicksals heraus, hatte die Belegschaft des Reviers die restlichen Stunden des Tages auf eine interne Fortbildung im eigens vorhandenen Konferenzraum verwandt. Die Polizeibediensteten waren gerade dabei, die Mühsal des arbeitsreichen Tages zusammenzufassen, als der erschrockene und völlig erschöpfte Alte fordernd gegen Türen und Fenster hämmerte.

Die Hartnäckigkeit seiner Bemühungen führte schließlich dazu, dass einer der Polizisten die Glastür einen Spalt breit öffnete, um zu hören, worum es ging. Sobald er den Ernst der Lage erfasst hatte, leitete er den Alarm zu Mandén ins Polizeipräsidium weiter.

Und jetzt waren Hill und Gårdeman vor Ort.

Der Bereich um die kleine Steinbrücke am Lussebäcken, wo das Auto stand, war bereits abgesperrt und der Verkehr auf eine südlichere Route umgeleitet. Die Mannschaft hier draußen hatte zügig gearbeitet, und dennoch bildete sich außerhalb des blauweißen Absperrbandes rasch eine Menschenmenge, die so weit wie möglich nach vorne drängte, um einen Blick auf das, was sich in einiger Entfernung bei dem Auto abspielte, zu erhaschen.

Die Menschen fühlten sich angezogen, obwohl das Ganze etwas kolossal Abstoßendes an sich hatte.

Spannend und unheimlich zugleich, bot sich ihnen ein Schauspiel sondergleichen, und das auch noch in unmittelbarer Nachbarschaft. Hier ging etwas vor sich, dass das Fernsehen nicht bieten konnte.

Ein waschechtes, reales Abenteuer!

Hill dachte, dass sie sehr schön war.

Gårdeman dachte genau dasselbe.

Trotz einer unnatürlichen Verzerrtheit – das Signum des plötzlichen Schmerzes und des Todes – muss sie mit ihren unglaublich hübschen und reinen Zügen zweifellos sehr anziehend gewesen sein.

Das wohlgeformte Gesicht mit der geraden Nase und den sinnlichen Lippen war von fülligem, blondem Haar eingerahmt. Nicht, dass es ihren Tod mehr oder minder tragisch gemacht hätte, doch es war eine Tatsache. Die junge Dame war auf eine sonderbare Weise attraktiv gewesen. Nur zu jung, um einfach so zu sterben.

Hill merkte, wie dieses Gefühl ungewollt von ihm Besitz ergriff, als er sich vorsichtig ins Auto beugte, um sie näher zu betrachten. Er würde sich nie an den Tod gewöhnen. Ein ums andere Mal war er ihm erneut zuwider. Sicherlich ein Handikap in seinem Beruf, aber so war es nun einmal. Eine abgrundtiefe Trauer erfasste ihn, sobald er mit ihm konfrontiert wurde.

Was er sah, als er die Taschenlampe ins Coupé richtete, machte die Sache nicht leichter. Der Sicherheitsgurt hielt den Körper in einem festen, verkehrssicheren Griff – obgleich er kaum reichte.

Sie musste mindestens im achten Monat gewesen sein!

»Ulf, guck mal hier!«, entfuhr es ihm.

Gårdeman war schnell neben ihm, verstand aber nicht sofort, was Hill meinte, denn es war dämmrig im Coupé, und die Frau war in einen kostspieligen, dicken Pelz gehüllt.

Hill richtete die Taschenlampe besser aus, und auf einmal wurde die Wölbung ihres Bauches deutlich sichtbar.

»Oh, verdammt auch!«

Gårdemans hilfloses Fluchen vermischte sich mit dem Geräusch weiterer herannahender Sirenen, die durch die Dunkelheit des Winters drängten. Man sah bereits den Schein rotierender Blaulichter in der Ferne.

Neue Akteure waren auf dem Weg zur Bühne, und das Schauspiel entwickelte sich in eine immer fantastischere Richtung. Das Publikum hielt den Atem an, als Krankenwagen und Notarzt um die Kurve des Landskronavägen bogen. Die Wagen schienen von innen heraus zu leuchten, als sie in ihrem signalgelben Glanz heranglitten und auf die Absperrung zu rollten.

»Das Kind«, rief Hill in die Kälte, »vielleicht kann man das Kind retten! Hol den Arzt, schnell!«

Er wusste kaum, ob er das überhaupt selbst glaubte oder einfach nur hoffen wollte.

Irgendwo hatte er gehört, dass es funktionieren könnte... Wenn nicht allzu viel Zeit vergangen war...

Gårdeman lief zum Notarztwagen, rutschte auf einer gefrorenen Pfütze aus, fand die Balance wieder und erreichte den Arzt, der mit stoischer Ruhe seine Notarzttasche aus dem Auto nahm.

Der Tod hatte es nicht eilig.

Vielleicht das einzig Positive daran.

Dass er nicht den geringsten Stress kannte.

»Los, beeilen Sie sich!«, rief Gårdeman.

Der Arzt starrte ihn an, ohne zu verstehen.

»Sie hat ein Kind... einen Fötus, meine ich. Vielleicht kann man ihn retten!«

Der junge Notarzt wurde mit einem Mal ganz munter. »Die Trage!«, rief er dem Rettungspersonal zu, während er zu dem mitternachtsblauen Mitsubishi lief. »Schnell, schnell!«

Der Einsatz des Arztes war plötzlich dringend geworden, so wie er es sich immer gewünscht hatte. Genau deswegen hatte er seinen Beruf gewählt: nicht, um Totenscheine auszustellen und sich geschlagen zu geben, sondern der Möglichkeit wegen, Wunder zu vollbringen.

Zu Gårdemans Verwunderung traf der junge Arzt lange vor ihm am Auto ein. Das Krankenwagenpersonal wartete fröstelnd auf seine Anweisungen und hatte bereits mit professioneller Geschwindigkeit eine Trage ausgeklappt.

Hier ging es jetzt um verzweifelt kurze Sekunden. Innerhalb der Vorschriften selbstverständlich, geschriebene Gesetze und ethische Regeln durften nicht außer Acht gelassen werden.

Der Arzt war schon überzeugt, als er ihrer gewahr wurde. Die Frau im Auto schien keine, wie auch immer gearteten Lebensfunktionen aufzuweisen. Trotzdem sah er sich gezwungen, die übliche Routineuntersuchung durchzuführen.

Er ließ die Fingerspitzen über den Hals der Toten gleiten. Wie vermutet, fand er keinen Puls, kein Lebenszeichen. Nur eine Eiseskälte, die auf frappierende Weise die Nacht um sie herum widerspiegelte.

»Kein Puls«, sagte er mehr zu sich selbst. »Niedrige Körpertemperatur. Vermutlich unter 15°C.«

Hill war etwas zur Seite gegangen, um ihn in Ruhe seinen Job machen zu lassen, verfolgte die Prozedur aber aufmerksam, während er noch immer auf ein Wunder hoffte.

Der Arzt leuchtete mit einer starken Taschenlampe in die weit geöffneten Augen. »Die Hornhaut erweist sich eindeutig als trüb«, stellte er trocken fest.

Dieses Leben war also unwiederbringlich erloschen.

Dann steckte er die Stöpsel des Littmannstethoskops in die Ohren, zwang seine eiskalten Finger um die Membran und führte sie an den Körper der Frau.

Zwischen den Ösen des Pelzes fand er eine Öffnung, und er setzte sie direkt unter ihrer linken Brust auf.

Weder Hill noch Gårdeman wagten zu atmen.

Es war, als ob sie dem kleinen, ungeborenen Leben, das dort drinnen in seiner zunehmend ungastlichen Umgebung vielleicht immer noch zu überleben versuchte, Raum geben wollten – Raum zum Atmen.

Die Stimmung schien sich auf die wachsende Anzahl von Zuschauern zu übertragen. Obwohl die Menschen viel zu weit vom Auto entfernt standen, um mitzubekommen, was sich dort abspielte, warteten sie dennoch in atemloser Stille.

Das Rettungspersonal stand weiterhin in Bereitschaft neben der Trage. Die Decken waren schon ausgebreitet, bereit, zu umhüllen und zu wärmen. Selbst der Fahrer stand bereit – gewillt, mit Vollgas zurück in die Stadt zur Intensivstation und einem posthumen Kaiserschnitt zu fahren.

Der Wagen stand im Leerlauf hinter ihnen, und das Signal auf seinem Dach warf dramatisch sein blaues Licht in rotierenden Kaskaden auf die unschuldigen Gärten der umliegenden Villen.

Immer im Kreis herum tanzte es und sandte seinen unwirklichen Schein über die Szenerie, während der junge Arzt mitten in der Umklammerung des Todes nach Leben suchte. Er konnte nicht wissen, ob sich das Kind inzwischen gedreht hatte und bereits mit dem Kopf nach unten lag.

Das Herz konnte sich also überall befinden.

Eine Sekunde.

Nichts.

Eine weitere Sekunde – nichts.

Er bewegte die Membran weiter über den immer stärker auskühlenden Bauch der Frau. Systematisch und in geometrischen Mustern führte er sie Zentimeter für Zentimeter über den leblosen Leib.

Mit keiner Miene verriet er, was seine Hände fühlten. In dieser Hinsicht war er längst ein gewiefter Pokerspieler.

Hill war gezwungen zu atmen.

Gårdeman schaute ihn an, sah wieder eine Sekunde vorbeifliegen und wandte den Blick unmittelbar zurück zum Arzt.

Der beließ das Stethoskop auf einem bestimmten Punkt und horchte intensiv. Die Augen schienen jetzt ein wenig zu leuchten. In einem letzten Versuch, irgendein entscheidendes Nebengeräusch zu erhalten, drehte er den Kopf des Stethoskops von der Membran auf den Trichter. Mit sicherer Hand hielt er die doppelten Schläuche hoch und biss die Zähne fester als nötig zusammen.

Er horchte – rechnete.

Horchte wieder.

Bewegte das Instrument nicht.

Horchte nur.

Als ob er intensiv eine Antwort aus dem Inneren, das den ganzen Kosmos des Ungeborenen ausmachte, erhoffte.

Ein Meer, ein Heim – eine Unendlichkeit für das Kind da drinnen.

Horchte verzweifelt, obgleich er bereits verstand.

Hill wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück. Er wartete noch ein wenig. Geduldete sich noch eine unfassbar lange Sekunde.

Endlich nahm der Notarzt die Stöpsel aus den Ohren, wand sich vorsichtig rückwärts aus dem Coupé und konstatierte, was keiner hören wollte.

»Nein, leider – es gibt keine Lebenszeichen.«

»Aber... aber...«

Hill hätte die Wirklichkeit am liebsten verändert.

»Aber wenn Sie schnell ins Lazarett fahren...?«, versuchte er.

Der junge Mann schüttelte abwehrend den Kopf. Er fühlte sich ebenso machtlos, denn er hatte mindestens genauso intensiv gehofft wie der Polizist. Gehofft, dass das Leben wider Erwarten mitten in der Tragödie triumphieren würde. Doch was sollte er sagen? Er hatte es im Grunde ja schon gewusst, als er die Nase ins Auto steckte.

»Nein, das macht keinen Sinn. Es lohnt nicht, Ihre Fahndung für etwas, das ohnehin vollkommen sinnlos ist, zu vernachlässigen. Führen Sie Ihre Untersuchungen zu Ende, dann schicken wir einen Leichenwagen, der sich um den Leichnam kümmert.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Ja, lassen Sie die Kriminaltechniker sofort beginnen.«

Gårdeman setzte sich, noch bevor der Satz abgeschlossen war, über Funktelefon mit der Zentrale in Verbindung. Die Techniker waren unterwegs.

Hill folgte dem Arzt auf dem Weg zum Krankenwagen, merkte jedoch plötzlich, wie eine der Zuschauerinnen sich über das Absperrband beugte und die Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Es war auch eine junge Frau, aber Gott sei Dank ganz lebendig.

»Hallo, Kvällsposten«, stellte sie sich vor, das Tonbandgerät schwingend. »Darf ich einige Fragen stellen?«

»Nein, nicht jetzt«, murmelte Hill und beeilte sich, ihrer Jagd nach brandaktuellen Nachrichten zu entkommen und nicht ohne einen geplagten Seitenblick dem Arzt zu folgen.

»Leider gab es nicht die allergeringste Hoffnung«, setzte der junge Mann hinzu und stellte die schwere Arzttasche an den für sie vorgesehenen Platz im Auto zurück. »Das war offenkundig, sobald ich sie zu Gesicht bekam. Aber ich hatte natürlich die Pflicht, eine genaue Untersuchung vorzunehmen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Hill ungeduldig.

»Wie Sie ja wissen, muss das noch durch gerichtsmedizinische Analysen gestützt werden. Nur sollte es mich wirklich wundern, wenn ich Unrecht hätte.«

»Unrecht womit?«

»Dieser leichte ziegelrote Zug in ihrem Gesicht. Und der vage, aber unverkennbare Mandelduft.«

Gårdeman hatte ein kurzes und abwehrendes Gespräch mit der jungen Frau von Kvällsposten beendet und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Kollegen. Er verstand nicht, was sie sagten, aber es schien bedeutsam.

»Sicher können selbst junge Menschen schnell und unerwartet eines natürlichen Todes sterben«, hörte er den Arzt ausführen, »aber das hier war kein natürlicher Tod.«

Hill war bereits klar, welchen Schluss der jüngere Mann gezogen hatte, wollte ihm jedoch nicht zuvorkommen.

»Und Sie meinen...?«, sagte er.

»Ja, es muss Zyanid gewesen sein«, antwortete der Arzt müde. »Was sonst?«

An diesem Abend, der bereits zwei Leben gekostet hatte, war plötzlich nichts mehr von der vorher so ansteckenden Weihnachtsstimmung zu spüren.

Kriminaltechniker Anderberg und sein Team vom technischen Dezernat waren erstaunlich schnell zur Stelle. Als hätte die Spannung, die den herannahenden Feiertagen innewohnte, sie besonders hellhörig und wachsam gemacht.

In der Zwischenzeit hatte der Rettungsdienst einen neuen Alarm bekommen und sich zusammen mit dem Notarzt auf den Weg gemacht, denn die Lebenden brauchten die ohnehin viel zu knapp bemessenen Leistungen des Gesundheitswesens doch wohl am dringendsten. Um die magere Ausbeute wurde schon heftig genug gestritten, und hier gab es nicht die geringste Hoffnung auf Leben.

Hill beneidete sie, als sie in rasender Fahrt den Landskronavägen hinauffuhren und mit heulenden Sirenen scharf nach rechts in Richtung Rydebäck abbogen.

Sie hatten auf jeden Fall warme Füße da drinnen in ihren Autos, während seine eigenen Zehen sich zunehmend tiefgefroren anfühlten!

Ein Bestattungsunternehmen war bereits informiert, um die Leiche der Frau abzuholen, sobald die vorläufige technische Untersuchung des Autos abgeschlossen sein würde. Man würde den Körper für die Obduktion nach Lund überführen, denn in einem Fall wie diesem war es für die Polizeidienststelle selbstverständlich, eine eingehende gerichtsmedizinische Untersuchung zu beantragen.

Doch zuerst würden die Techniker alle zugänglichen Spuren sichern, denn jetzt galt es den Fall aufzuklären. Aufklären, was der toten Frau auf dem Fahrersitz ihres kostspieligen Autos passiert war.

Der kriminaltechnische Fotograf sandte aus allen erdenklichen Richtungen seine Blitze in das Auto, so als hätte er die Aufgabe übernommen, die stockfinstere Nacht zu erhellen, nachdem der Rettungsdienst weggefahren war.

Im klirrenden Frost schlichen alle so behutsam wie möglich um die Frau herum, fast übervorsichtig, als könnte man sie versehentlich wecken.

Was leider unmöglich war.

Die Männer von der Spurensicherung jagten den feinen Details nach. Sie nahmen unter die Lupe, pinselten emsig und setzten Klebestreifen, um alle erdenklichen Spuren zu sichern. Kleinste Zeichen und Hinweise – unbeabsichtigte Anhaltspunkte, die wie Klatschbasen den geringsten Fingerzeig in Richtung Wahrheit geben konnten.

Die Wahrheit darüber, warum diese hübsche, hochschwangere Frau tot in ihrem Auto gesessen und stumm in die Sternennacht hinaus gestarrt hatte.

»Merkwürdig«, murmelte Anderberg.

Halb in der Hocke sitzend stopfte er vorsichtig ein paar Haare in einen von der Reichspolizeidirektion gekennzeichneten Beweisbeutel.

»Was?«, fragte Hill, der in einem Notizbuch seine eigenen sorgfältigen Beobachtungen vor Ort aufzeichnete.

»Warum die Leute eigentlich so furchtbar widersprüchlich sind, meine ich.«

Hill blickte von seinen Notizen auf. Zyanid? stand dort unter anderem. Ziegelrote Hautfärbung, Mandelduft.

»An was genau denkst du?«, fragte er.

Hill hegte großen Respekt für Kriminaltechniker Anderberg und seine oftmals philosophischen Lebensbetrachtungen. Anderberg hatte bereits ganze sechsundzwanzig Jahre bei der Polizei in Helsingborg zugebracht. Zwar nicht die gesamte Zeit als Kriminaltechniker, denn er hatte als gewöhnlicher Streifenpolizist begonnen, bevor er zu seiner eigentlichen Berufung fand. Doch seine Erfahrung in Sachen menschlichem Verhalten war imponierend. Und mehr als einmal hatte sein Blick fürs Detail ihnen bedeutsame Hinweise für eine klügere, geschicktere Ausrichtung der Fahndungsarbeit geliefert. Deswegen spitzte Hill die Ohren wie ein eifriger Hund. Einer, der einen wichtigen Ruf hört – von weit, weit her.

»Ja, nimm die Dame hier zum Beispiel«, setzte Anderberg höflich hinzu, als ob sie seine Worte und sein Urteil hören konnte. »Superschickes Auto. Gewaschen, gewachst, einfach tipptopp.«

Anderberg schaute schräg zu ihr hinauf. Der Arzt hatte vermutlich Recht. Der Mandelduft sprach seine eigene Sprache. Seiner Ansicht nach war sie genau hier gestorben und nicht erst später hergebracht worden. Genaueres würde die Hypostaseanalyse zeigen, wenn die Gerichtsmediziner ihre Untersuchung abgeschlossen hatten.

Und dann sah er die Tote fast entschuldigend an, als schämte er sich der Charakterisierung, die er ausführen wollte.

»Sie war selbstverständlich äußerst adrett, gepflegt und ohne Zweifel wohlhabend.«

Hill hörte weiterhin zu.

»Aber Bonbonpapier im Auto auf den Boden werfen, das tat sie wie jede andere nachlässige Schlampe«, schloss Anderberg ein wenig puritanisch.

Hill kümmerte sich nicht um die abschließende Wertung, sondern hielt sich entschlossen an die Fakten. »Du hast also Bonbonpapier auf dem Boden gefunden?«, fragte er.

»So ist es. Ein paar sind offensichtlich alt, wurden festgetreten und in die Gummimatte gedrückt. Aber es sind auch ganz neue dabei. Welche, die gerade erst ausgewickelt und nicht zertreten aussehen.«

Hills Augen leuchteten mit einem Mal neugierig, obgleich sich seine Zehen zu diesem Zeitpunkt bereits schmerzhaft erfroren anfühlten. Genau in dem Moment knirschte es auf dem frostüberzogenen Bürgersteig hinter ihnen, und Ulf Gårdeman kam mit neuen Zeugenaussagen über die Tote zurück.

Erst hatte natürlich der Mann, der sie gefunden hatte, seine Geschichte noch einmal erzählt. Aber dann wurden es immer mehr Menschen, die glaubten, etwas berichten zu können. Wie abgeschirmt und zurückgezogen die Leute auch zu leben versuchten – es fand sich doch immer jemand in der Umgebung, der mehr über sie wusste, als sie selbst ahnten.

Für die Fahnder kam es nur darauf an, sie ausfindig zu machen.

Und sie zum Reden zu bringen.

Ein Fall für Gårdeman, der so etwas wie ein sprachliches Chamäleon war. Er liebte es, sich mit den Leuten zu unterhalten, und hatte vertrauliche Gespräche schon fast zu einer der schönen Künste erhoben. Konnte sich innerhalb von Sekunden in die jeweils vorherrschende Stimmung versetzen, Dialekt und Jargon anpassen, um unmittelbar Vertrauen zu gewinnen. Auf diese Weise öffnete er Türen, die andere mit Dynamit hätten sprengen müssen.

Nur dieses Mal hatte es leider keine erhellenden Hinweise gegeben. Gårdeman klappte den Notizblock zu, stopfte ihn zusammen mit dem Stift in die Innentasche und blies den warmen Atem auf seine vom Schreiben erstarrten Fingerspitzen.

»Sie war Single«, teilte er kurz mit.

»Single?«

»Ja. Single in der Stadt.«

»Aber einen Typen muss sie doch wohl gehabt haben?«, insistierte Hill. »Ich meine...«

Für ihn ging die Gleichung nicht ganz auf.

Eine attraktive, schwangere Frau...

»Ich verstehe, was du meinst«, versicherte Gårdeman. »Ich dachte dasselbe. Aber die Zeugen, mit denen ich gesprochen habe, stimmen überein. Sie wohnte da hinten, und sie wohnte allein.«

Er zeigte die idyllische kleine Vorortsstraße hinauf, die sich weiter durch den Ort bis hin zum Strandstreifen am Sund schlängelte.

»Hatte ein kleines Reihenhaus ganz für sich allein«, setzte er hinzu. »Keine Kinder außer dem, das sie erwartete.«

»Hmm«, schnaubte Hill verlegen, »aber einer muss doch in jedem Fall der Vater... dieses Kindes sein!«

»Wer weiß«, seufzte Gårdeman, »vielleicht John Blund, vielleicht ein nächtlicher Schatten...?«

Er schaute sie an, wie sie so vollkommen unberührt blieb von den Mutmaßungen über ihr Liebesieben. Sie starrte nur weiterhin in den unendlichen blauschwarzen Kosmos, als wäre sie ein ätherischer Teil von ihm.

Aber nicht einmal ihre vornehme Schönheit konnte ihn an eine Jungfrauenempfängnis glauben lassen. Hill hatte natürlich Recht, vollkommen Recht – der Schatten war ohne Zweifel aus Fleisch und Blut, und es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis sie ihn fänden.

»Wie heißt sie eigentlich?«, wechselte Hill das Thema.

»Das wussten sie nicht.«

»Und was arbeitete sie? Hast du das herausbekommen?«

Als er die Frage stellte, fiel ihm ein, dass sie vielleicht überhaupt keinen Beruf gehabt hatte. Sie schien viel zu wohlhabend dafür zu sein. War vielleicht eher mit einem silbernen Löffel im Mund geboren?

»Nein, nichts«, antwortete Gårdeman.

Hill bückte sich ein wenig und schaute sie fragend an. Als hoffte er, dass sie ihm selbst eine Antwort würde geben können.

Doch ihre Rätselhaftigkeit war vollkommen und auf ewig.

Der silbergraue Leichenwagen des Bestattungsunternehmens kam langsam die Straße hinaufgeschlichen. Er parkte unauffällig am Straßenrand und wartete auf seinen Einsatz.

»Okay, wir sind jetzt fertig«, teilte Anderberg mit und kletterte vorsichtig vom Rücksitz des Mitsubishi. »Ich glaube, wir haben alles gesichert, was in diesem Stadium möglich ist. Den Rest müssen wir morgen im Labor untersuchen. Du kannst jetzt ihre Tasche inspizieren, Hill.«

Es war eine zweifelhafte Ehre, die Kriminalkommissar Hill damit zugefallen war, und sie gefiel ihm gar nicht.

Als ob das Dämmerlicht des Irrealen die Tragödie nur verhüllte, so lange die nächtliche Ungewissheit noch vorherrschte. Als würde der Name des Opfers nicht zur Tatsache, bevor er nicht laut und deutlich ausgesprochen wäre.

Und er, Hill, war zur offiziellen Ausübung des Rituals ausersehen worden – derjenige, der ihr Schicksal besiegeln sollte, indem er ihre Identität preisgab.

Eine höchst zweifelhafte Ehre.

»Eines frag ich mich«, sagte Gårdeman halb zu sich selbst und lehnte sich mit dem Ellenbogen gegen die offene Autotür. »Was machte sie eigentlich an einem saukalten Abend wie diesem hier draußen...?«

»Was macht man an einem Abend wie diesem draußen?«, fragte Hill zurück.

»Ich meine, wenn sie schwanger war und so?«, setzte Gårdeman unberührt hinzu.

Hill fragte sich eigentlich dasselbe, doch er hatte keine passende Antwort.

War sie unterwegs gewesen, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen? Aber warum war sie dann hier sitzen geblieben?

Die Tasche lag noch auf dem Beifahrersitz, dicht neben der Toten und halb unter ihrer rechten Hüfte eingeklemmt. Die Techniker hatten sich damit begnügt, sie zu fotografieren.

Vorsichtig zog er sie hervor und nahm sie an sich. Echtes Kalbsleder, tippte er. Dunkles, teures Kalbsleder.

Die Tasche war schick und exklusiv, genau wie die Besitzerin selbst es gewesen war. Er öffnete sie und suchte in unzähligen Reißverschlussfächern, bis er endlich in einem seidengefütterten Fach die Brieftasche zusammen mit ihrem Filofax fand. Den würde er später durchgehen, doch die Brieftasche öffnete er sofort.

Auf dem Bild des Führerscheins war sie schmerzlich schön. Hübsch, lebendig und fröhlich. Er war vor sieben Jahren ausgestellt worden. In dieser Zeit hatte sie sich von einem vor Lebenslust sprühenden jungen Mädchen in eine sehr feminine Frau verwandelt. Der nächste Führerschein hätte ein anderes Bild der Inhaberin gezeigt, dachte er. Doch er würde nie erneuert werden.

Er studierte die Angaben auf dem Ausweis, bis es keinen stichhaltigen Grund mehr gab, seine traurige Pflicht länger hinauszuschieben. Keine richtig gute Ausrede, sie nicht – mithilfe der Angaben, die alle interessierten – auf die ewige Reise zu schicken.

»Anne Smitt«, sagte er müde und klappte die Brieftasche mit einem leisen Schnappen zu. »Ihr Name war Anne Smitt.«

Die Frau im Schatten

Подняться наверх