Читать книгу Endstation Sylt - Bodo Manstein - Страница 10
ОглавлениеDer Karrierebeginn
1977 Ein Feuerwerk der Popmusik wird abgebrannt. Smokie und Howard Carpendale leben, jeder in seiner Sprache, Tür an Tür mit Alice.
Fleetwood Mac sind der Meinung Go your own way, was Peter Gabriel möglicherweise offenbar dazu veranlasst, Genesis zu verlassen.
In das Buch der Ewigkeit gravieren Queen ihre Hymne We are the Champions und in Memphis tritt der King of Rock 'n' Roll seine letzte Reise an. - Farewell Elvis.
Kate 'Ma' Barker, eine Verbrecherin aus der amerikanischen Staatsfeinde-Ära, inspiriert Frank Farian für den Hit Ma Baker, mit dem er seine Gruppe Boney M. in die Charts jagt.
Deutschland steht seit Jahren mit seinen eigenen Staatsfeinden im Kampf. Doch bevor sich in diesem Jahr die erste Führungsgeneration der RAF in Stuttgart-Stammheim das Leben nimmt, mussten viele unschuldige Menschen im Kugelhagel der Terroristen sterben.
Im Sportbereich feiert Niki Lauda nach seiner Genesung ein fulminantes Comeback und wird mit Ferrari Formel-1-Weltmeister.
Borussia Mönchengladbach wird zum fünften Mal seit 1970 Deutscher Fußballmeister.
Im Fernsehen sorgt die Tatort-Folge Reifezeugnis für Aufsehen. Dies liegt nicht alleine an dem Tabuthema eines Lehrer-Schülerin-Verhältnisses, das in dieser Folge behandelt wird. Vielmehr ist es Nastassja Kinski, die sich splitternackt in ihrer ersten Fernsehrolle zeigt, die die Fernsehnation spaltet.
* * *
Die nackte Nasti, wie Stephan und seine Freunde die Kinski 'liebevoll' nannten, war natürlich auch das Thema in der BRAVO. Diese heimliche Pflichtlektüre kauften sich die beiden 'Männer' selbstverständlich nicht selbst. Saskia, Bernds jüngere Schwester, teilte jedoch gerne ihre Hefte mit ihnen, schließlich durfte sie dafür, quasi als Gegenleistung, in deren Bundesliga-Tippklub mitmachen.
Saskia war Stephans erste Freundin gewesen, wobei ihre Beziehung nur sehr kurz währte. Schon nach wenigen Tagen hatte er mit ihr Schluss gemacht. Es war ihm irgendwie peinlich gewesen, eine Freundin zu haben. Doch schon kurze Zeit später hatte er diese Entscheidung, die seinem unreifen Jungencharakter entsprungen war, verflucht. Nachfolgende Versuche, Saskia wieder für sich zu gewinnen, blieben zu seinem Bedauern erfolglos. Letztlich fügte er sich in sein selbst verschuldetes Schicksal und pflegte dafür die tiefe Freundschaft, die zwischen ihnen entstanden war. Saskia war für ihn eine Schwester im Geiste, mit der man durch dick und dünn gehen konnte. Und so sollte es auch noch viele Jahre bleiben.
Wenn Stephan und Bernd ausnahmsweise mal nicht Fußball spielten, hockten sie regelmäßig bei Bernd zusammen und hörten Musik.
Bernd hatte ein separates Zimmer im ersten Stock seines Elternhauses, das direkt von der Haustür aus über das Treppenhaus zu erreichen war. So konnte er jederzeit Freunde empfangen, ohne dass seine Eltern Wind davon bekamen. Dieser Weg entwickelte sich schnell zum idealen Schmuggelpfad für Mädchen und Alkohol.
Stephans Musikgeschmack war breit gefächert, er hörte alles, was ihm gefiel. Bei Bernd war das schon anders. Für ihn gab es nur Hardrock und Heavy Metal, sonst nichts. Das galt insbesondere für die aktuelle Popmusik. Äußerte Stephan zum Beispiel beim Durchblättern von Saskias BRAVO, dass Jeans on doch irgendwie ein toller Song sei, erntete er dafür sofort ein spöttisches Grinsen. Ihren gemeinsamen musikalischen Konsens fanden sie aber bei Gruppen wie Queen, AC/DC und natürlich den Scorpions. Und lag erst das aktuelle Livealbum von Rainbow auf dem Plattenteller, gab es keinerlei Diskussion mehr. Mit geschlossenen Augen lauschten die beiden in absoluter Ruhe und Harmonie der Stimme von Ronnie James Dio.
In Lindlar veranstaltete die Katholische Junge Gemeinde (KJG) im Jugendheim regelmäßig eine Diskothek, die von ihren Mitgliedern organisiert und durchgeführt wurde. Auch Stephan und Bernd zählten zu dem Helferkreis.
Im Vorfeld so eines Diskotheken-Wochenendes, das einmal im Monat stattfand, gab es jede Menge vorzubereiten. Der Saal musste bestuhlt und dekoriert, die Musik- und Lichtanlage aufgebaut und die Getränkeausgabe bestückt werden. Am Veranstaltungsabend stellten dann alle Helfer im stündlichen Wechsel das Personal für Abendkasse und Getränkeverkauf. Lediglich der Posten des Discjockeys wurde nicht gewechselt. Hierfür eignete sich nur jemand, der auch in einer ehrenamtlich betriebenen Dorfdisco wusste, wie man auflegte und moderierte. Schließlich war er der Garant für ein volles Haus. Und auch wenn der Gewinn der Veranstaltungen ausschließlich in die Gemeindearbeit floss, fielen letztlich auch die Jugend- und Freizeitveranstaltungen hierunter, zu denen neben der Disco auch der Klubraum zählte.
Stephan eignete sich nicht besonders zur Rampensau und bei Bernd schloss schon sein Musikgeschmack den Einsatz als DJ aus. Daher beschränkten die beiden sich auf die Erledigung der vielen anderen Jobs. Besonders begehrt war natürlich die Arbeit hinter der Theke, wo man quasi direkt an der Quelle war. Der regelmäßige Wechsel hatte außerdem den Vorteil, dass man sich außerhalb der Schichten unter die Gäste mischen und ebenfalls abrocken konnte.
Um allen Altersgruppen gerecht zu werden, erstreckte sich das Disco-Wochenende über zwei Tage. Am Samstag fand die sogenannte 'Große Disco' statt und sonntags folgte die kleine. Der Unterschied zwischen beiden lag darin, dass es samstags Party bis 24 Uhr gab. Außerdem durfte Alkohol getrunken und geraucht werden, also eher etwas für die Großen.
Alle Jugendlichen unter sechzehn Jahre gingen hingegen am Sonntag zum Feiern. Dann trank man Cola und Limonade und war spätestens um 22 Uhr auf dem Heimweg.
Da die Kleinen ja noch nicht offiziell rauchen durften, war Rauchen am Sonntag in der Disco natürlich auch verboten. Aus diesem Grund standen dann viele kleine Rauchergrüppchen bei Wind und Wetter mit ihren Zigaretten vor der Tür des Jugendheims und rauchten, was das Zeug hielt.
Dreißig Jahre später würde man sich an diese Regelung erinnern und auch Erwachsene zum Rauchen vor die Tür schicken. Wer weiß, vielleicht sitzt ja einer der wenigen Nichtraucher von damals heute auf der Regierungsbank.
Für Stephan und Bernd galt diese Regelung nur sehr, sehr eingeschränkt. Aufgrund ihres Helferstatus durften sie natürlich auch schon in die 'Große Disco', wo sich niemand darum scherte, ob sie rauchten oder Alkohol tranken.
Stephan stand jetzt schon immer häufiger am Kiosk und verlangte: »Einmal Drum mit Blättchen!«
Den Tabaksbeutel trug er normalerweise lässig in der Gesäßtasche seiner Jeans. Sobald er jedoch in die Nähe seiner Erziehungsberechtigten kam, verschwand die Packung sofort in ihrem bewährten Transportversteck. Erst in der Sicherheitszone seines Zimmers zog Stephan sie dann wieder aus dem Strumpf hervor und versteckte sie im Deckel seines Mikroskopierkoffers hinter einem Styroporeinsatz.
Die Anzahl der Zigaretten, die Stephan täglich rauchte, stand in direkter Abhängigkeit zur Höhe seines Taschengeldes. Dies unterlag wiederum vielen weiteren Einflussfaktoren. Zunächst war dort die Bundesliga-Tippkasse, in die er dummerweise immer mehr einzahlte, als er am Ende rausholte. Außerdem trank man in Stephans Clique natürlich auch ab und zu mal ein 'Gläschen'. Neben Bier hatte sich Sangria aus Kostengründen zu einem beliebten Standardgetränk entwickelt. Bei Sangria schätzten die Jungs ganz besonders die hervorragenden Recyclingmöglichkeiten. Selbst kleinste Reste ließen sich zusammenschütten und mit ein paar Früchten zu einer wirkungsvollen Bowle aufpeppen. Doch auch die ausgeklügeltsten Recyclingverfahren waren irgendwann erschöpft und schließlich musste auch Stephan seinen Obolus in die Getränkekasse entrichten.
Doch trotz permanenter Ebbe im Portemonnaie kam er irgendwie immer über die Runden. Erst am Tag seiner Konfirmation verbesserte sich seine finanzielle Situation erheblich. Es war das erste Mal, dass er seinen Namen mit dem Begriff Reichtum verband.
Im Gegensatz zur Vielzahl seiner Freunde, die wöchentlich in die Kirche mussten, war Religion nie ein beherrschendes Thema in ihrer Familie gewesen. Trotzdem oder gerade deswegen hatte sich Stephans Einstellung zur Kirche und zum christlichen Glauben relativ differenziert entwickelt. Von Kindheit an war er als Protestant in einer erzkatholischen Gegend aufgewachsen. Dieser Kontrast musste dazu geführt haben, dass er sich frühzeitig und völlig unbewusst den Gedanken der ökumenischen Bewegung zu eigen gemacht hatte. Schon als Grundschüler musste er regelmäßig an Messen der katholischen Kirche teilnehmen. Dies war die damals sehr häufig praktizierte Form des Religionsunterrichts in den kleinen Dorfschulen. Und Stephan hatte die Schule eines sehr kleinen Dorfes besucht. In seinem Elternhaus erlebte er die so viel freiere Form der evangelischen Kirche, die sich für ihn dadurch äußerte, das Religion so gut wie nicht thematisiert wurde. Zur Kirche gingen seine Eltern mit Oscar und ihm nur zu besonderen Familienanlässen. So hatte Stephan den Neid seiner katholischen Freunde genossen, wenn er noch spielen durfte, während sie selbst zum wöchentlichen Kirchgang oder zum Ablegen der Beichte genötigt wurden.
Für Stephan war Religion kein Zwang und seinen Glauben an Gott trug er jederzeit in sich, auch ohne regelmäßigen Kirchbesuch. Letztlich war es auch seine eigene und ganz persönliche Entscheidung, sich konfirmieren zu lassen. Dass er in aller Bescheidenheit auch die zu erwartenden Aufmerksamkeiten in seine Entscheidungsfindung hatte einfließen lassen, musste er ja nicht jedem auf die Nase binden.
Auf die Konfirmation folgte der Sommer. Wieder war ein Schuljahr geschafft und wieder ging es in den Ferien nach Baltrum. Dort stellte Stephan voller Freude fest, dass es dort nun auch einen Jugendklub gab.
Dieser neue In-Treffpunkt ähnelte sehr stark der Lindlarer Dorfdisco, wobei die Leitung hier nicht bei der Kirche lag, sondern beim Fremdenverkehrsverein. Doch wie in Lindlar, rekrutierte sich auch hier die Helferschar aus den Reihen der örtlichen Jugend. Im Baltrumer Jugendklub hatten die älteren Insulanerkinder das Ruder in der Hand, dementsprechend locker war auch hier die Aufsicht. Niemand musste zum Rauchen vor die Tür gehen.
Im Jugendklub war immer ordentlich was los. Die Insulaner, die ja sonst keine Disco hatten, nutzten die Saison und feierten mit den Touri-Teenies heiße Feten, die nicht selten in der einen oder anderen Strandparty endeten. Neben aktuellen Hits wie I feel love und Surfin' USA durften natürlich auch die langsameren Stücke nicht fehlen, bei denen sich so manche Urlaubsbekanntschaft zum romantischen Urlaubsflirt entwickelte. Wie bei den Klassenfeten zu Hause tanzten auch hier verliebte Paare eng umschlungen und mit geschlossenen Augen im schummrigen Licht der blinkenden Partylichter, während aus den Boxen, passend zu einem Urlaub am Meer, Rod Stewart sein I am sailing säuselte.
Stand eine Abreise bevor, wurde im Klub am letzten Abend noch einmal kräftig Abschied gefeiert. Nicht nur, weil die Sommerclique wieder ein Stückchen kleiner wurde, machte der Blues an diesen Abenden seinem Namen alle Ehre. Schön traurig und voller Herzschmerz schmusten die Urlaubspaare ein letztes Mal auf der Tanzfläche. Und weil If you leave me now genau das ausdrückte, was die Verliebten in diesem Moment empfanden, blitzte in dem einen oder anderen Auge auch nicht selten eine Träne.
Am nächsten Tag traf sich die gesamte Clique kurz vor der Abfahrt des Schiffes noch einmal im Hafen. So auch heute. Stephan stand mit den anderen etwas abseits und beobachtete das emsige Treiben auf dem Anleger. Dort hoben aufgeregte Familienoberhäupter schwitzend ihre Koffer in die bereitstehenden Gepäckcontainer, während die Mütter verzweifelt versuchten, ihre Kinder zusammenzuhalten. Diese versuchten wiederum genauso verzweifelt, ihren Eltern zu entkommen, um sich vor der bevorstehenden Fahrt noch etwas auszutoben.
Am Rande des Trubels tauschten manche in der schrumpfenden Sommerclique noch schnell ein paar Adressen aus, während die Verliebten, solange es noch ging, verstohlen Händchen hielten.
»Fahrgäste nach Neßmersiel, bitte einsteigen! Fahrgäste nach Neßmersiel, bitte einsteigen!«
Unbarmherzig riss sie dann irgendwann die Aufforderung des Kapitäns auseinander, nun war die Trennung nicht mehr aufzuhalten. Die letzten der Abreisenden betraten das Schiff, die Gangway wurde eingezogen und alle Leinen losgeworfen, bevor das weiße Fährschiff langsam ablegte. Dabei schallte aus den Schiffslautsprechern blechern die immer gleiche Abschiedsmelodie: »Wein doch nicht, Liebgesicht! Wisch' die Tränen ab ...«
Genau der richtige Song für zerbrechende Teenagerherzen.
Winkend und mit letzten gebrüllten Liebesschwüren folgte die Clique dem auslaufenden Schiff noch bis zum Ende der Mole. Erst als es an der Ostspitze von Norderney nach Backbord drehte, um dem Fahrwasser Richtung Neßmersiel zu folgen, gingen sie zurück.
Auf dem Rückweg wurde nicht viel gesprochen, dafür ging eine Zigarette nach der anderen an. Aber auch das besinnlichste Schweigen, das die Solidarität zu den nun getrennten Liebespaaren bekunden sollte, endete irgendwann einmal, schließlich musste das Leben weitergehen.
»Was machen wir heute Abend?«
»Treffen wir uns im Klub?«
Ein sich überschlagendes Stimmengewirr, das sich um diese Frage aller Fragen erhob, machte dann auch regelmäßig spätestens nach Verlassen des Hafens dem Trübsal ein Ende. Nur die unglücklich Verliebten trotteten weiter mit gesenktem Kopf hinter den anderen her und zogen bedrückt an ihren Zigaretten.
Auch für Stephan war irgendwann der Tag des Abschiedes gekommen. Die gepackten Koffer standen bereits auf der Wippe, wie die zweirädrigen Handwagen hier genannt wurden. Von der Straße aus winkte Stephan noch einmal zum Haus hinauf, wo sein Uropa hinter dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer stand. Für ihn, die gute alte 'Dampflok', war der Weg zum Hafen mittlerweile zu beschwerlich und weit.
»Tschüss, Opa!«, rief er ihm noch einmal zu und spürte in diesem Moment eine seltsame Endgültigkeit dieses Abschiedes. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er seinen Uropa nicht mehr wiedersehen würde.
Stephans Uropa starb noch im gleichen Herbst, nachdem er abends noch den gewohnten Spaziergang mit Zigarre gemacht hatte und ins Bett gegangen war. Als Stephans Oma ihn am nächsten Morgen wecken wollte, war der Kessel der kleinen 'Dampflok' für immer erloschen.