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Die Verführung

1976 Das Discofieber beherrscht die Charts. Penny McLean lässt mit ihrem Hit Lady Bump die Hüften beben und erzeugt so manchen blauen Fleck.

Elton John und Kiki Dee wünschen sich Don't go breaking my heart und Jonny Wakelin widmet einem legendären Boxkampf seinen Song In Zaire.

Einen Ohrwurm der besonderen Art kreiert derweil Jürgen Drews, indem er sich und einer unbekannten Schönen ein Bett im Kornfeld baut. Mit diesem Lied avanciert er viele Jahre später zum König von Mallorca.

Mamma Mia! ABBA landen einen Hit nach dem anderen und performen ihre Dancing Queen erstmals anlässlich einer Märchenhochzeit: Eine deutsche Hostess der Olympischen Sommerspiele von 1972, die 28-jährige Silvia Sommerlath, wird Frau des schwedischen Königs Carl XVI. Gustav. – Wir sind Königin!

Montreal ist in diesem Jahr Austragungsort der Olympischen Spiele. Doch die Erinnerung an die schwarzen Tage von München '72 wiegt noch schwer in den Herzen der Welt.

Nach der gewonnenen Fußballweltmeisterschaft von 1974 denkt sich Uli Hoeneß: Was genug ist, ist genug. Er semmelt einen Elfmeter über das tschechische Tor und schießt damit Deutschland zum Vizeeuropameister.

In der Formel 1 entkommt Niki Lauda auf dem Nürburgring nur knapp und mit schwersten Verbrennungen der Hölle seines brennenden Boliden.

Nicht Lauda, aber Laura. Laura Ingalls ist es nämlich, die mit fliegenden Zöpfen, dem Ruf der Schulglocke folgend, von der kleinen Farm ihrer Eltern nach Walnut Grove läuft. Im Fernsehen zieht sie damit Groß und Klein in ihren Bann.

* * *

Stephans Familie hatte inzwischen die kleine ländliche Einöde verlassen und wohnte seit Kurzem einige Kilometer entfernt in einer großen Gemeinde mit Kirchen, Schulen, Gastwirtschaften und Geschäften. Stephans Vater hatte es endlich geschafft und sich den Traum vom Eigenheim verwirklichen können.

In Lindlar fand Stephan nun nicht nur endlich Ruhe in seinem eigenen Zimmer, sondern auch schnell neue Freunde. Die Nachbarschaft wimmelte nur so von fußballbegeisterten Kindern. Und während sich Oscar zu Hause dem Sammeln und Lesen von Comics widmete, zog es Stephan nach draußen.

Ganz in der Nähe, etwas abgelegen in einem Wald, befand sich die Lindlarer Jugendherberge, zu der auch ein geteerter Bolzplatz mit zwei Toren gehörte. Hier trafen sich die Kinder, um Fußball zu spielen.

In den Sommerferien ging es wie jedes Jahr auch diesmal wieder nach Baltrum. Dort, auf der kleinsten ostfriesischen Insel, besaß Stephans Oma ein Haus, in dem sie mit ihrem 96-jährigem Vater den Sommer verbrachte.

Trotz seines hohen Alters war Uropa noch gut unterwegs. Täglich unternahm er seinen gewohnten Abendspaziergang. Leicht nach vorn gebeugt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schlurfte er mit kurzen Schritten voran, während er gleichzeitig eine dicke Zigarre paffte. Irgendwie erinnerte er Stephan dabei an eine kleine Dampflokomotive. In ein paar Jahren würde er seinen Uropa als Beweis anführen, wenn es darum ging, die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens zu relativieren. Merkwürdigerweise fand sich in jeder Familie, in der geraucht wurde, so ein Beispiel dafür, dass man trotz Rauchens steinalt werden konnte.

Doch noch war Uropa für die beiden Jungs lediglich Zeitzeuge und wandelnde Geschichte in einem. Wenn er damit begann, aus seinem Leben zu erzählen, herrschte regelmäßig gespannte Stille.

Bereits mit sechsunddreißig Jahren diente er im Ersten Weltkrieg bei der Kavallerie. Für Stephan war das fast schon ein biblisches Alter, immerhin war ihr Vater auch so alt.

Die Kavallerie kannte Stephan nur aus den Western im Fernsehen: Gerade noch rechtzeitig, wenn man es vor Spannung kaum noch aushalten konnte und grundsätzlich in letzter Minute, ertönte das erlösende Trompetensignal. Die Blauröcke kamen angaloppiert, die Indianer gaben Fersengeld und die eingekreisten Siedler verschossen jubelnd ihre letzte Munition. Zu Hause verwahrte Stephan noch viele kleine Plastikfiguren in seiner Spielkiste, mit denen er früher diese dramatischen Szenen nachgespielt hatte.

Uropa war aufrecht aus dem Ersten Weltkrieg geritten und überlebte sowohl den letzten deutschen Kaiser als auch die erste deutsche Republik.

Bereits im Rentenalter erlebte er, wie sich ein offensichtlich wahnsinniger Österreicher mit seiner angetrauten Eva in Berlin in Rauch auflöste und die Welt endlich wieder aufatmen konnte. Zu dieser Zeit blickte Uropa auf ein Leben zurück, das von epochalen Entwicklungen nur so wimmelte: Licht war jetzt elektrisch, Häuser besaßen fließendes Wasser, Pferdefuhrwerke waren nach und nach durch Autos ersetzt worden und der Traum vom Fliegen hatte sich erfüllt. Tagesaktuell gab es nun Nachrichten aus einem eckigen Kasten, der Radio hieß und in der Medizin wurden mit der Entdeckung von Röntgenstrahlen und Antibiotika Meilensteine gesetzt.

Dem Radio folgte das Fernsehen und in dem konnte Uropa dann sogar live noch gleich das nächste Jahrhundertereignis mitverfolgen: Der erste Mensch betrat den Mond!

Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit!

Die Menschheit in Deutschland kämpfte zwischenzeitlich mit einem Hitzesommer, der erst siebenundzwanzig Jahre später getoppt werden sollte. Für die vier Urlauber aus Lindlar hätte es nicht besser kommen können und so genoss man die Zeit am heißen Nordseestrand. Sogar Oscar hatte für diese Zeit sein Stubenhockerdasein unterbrochen und suchte ebenfalls die erfrischenden Abkühlungen im Meer.

Nach drei Wochen hatte aber auch dieser Traumurlaub ein Ende. Und auch wenn für Stephans Eltern der Urlaub nun vorüber war, hatte er noch einen großen Teil der Ferien vor sich. Kaum zu Hause angekommen gab es für ihn dann auch kein Halten mehr. Noch bevor seine Eltern den ersten Koffer ausgepackt hatten und Oscar in seinem Zimmer verschwunden war, hatte Stephan sich bereits auf dem Weg zu seinem besten Freund Bernd gemacht. Er musste unbedingt wissen, was sich während seiner dreiwöchigen Abwesenheit in Lindlar ereignet hatte.

Stephan rannte den Berg hinab, und als er in die Straße einbog, in der sein Freund wohnte, sah er Bernd, als dieser gerade das Haus verließ.

»Hallo, Bernd!«, rief Stephan.

»Hey, ihr seid ja wieder da!«, sagte Bernd und sah ihn freudestrahlend an. »Das passt ja prima.«

Er klopfte auf den Schlafsack unter seinem Arm. »Michael und ich wollen die nächsten Tage zelten.«

Bernd wies in Richtung der Wiese auf der anderen Straßenseite, wo bereits ein großes gelbes Viermannzelt fertig aufgebaut stand.

»Willst du nicht mitmachen?«

»Natürlich, wenn ihr noch Platz habt!«

»Hallo! – Ist das vielleicht ein Viermannzelt?!«

»Okay, ich bin dabei«, sagte Stephan mit einem breiten Grinsen. Genau so konnten die Ferien weitergehen.

»Michael und Bernd wollen zelten«, rief Stephan, noch bevor er ganz durch die Haustür war. »Darf ich auch?«

Restlos außer Atem stand er vor seiner Mutter und sah sie mit dem treuen Hundeblick eines fast vierzehnjährigen Teenagers an.

»Aber Kind, wir sind doch gerade erst zurückgekommen! Meinst du nicht ...«

»Ach bitte, Mutti! Es ist doch so schönes Wetter und wir haben schließlich noch Ferien.«

Stephans Mutter lächelte milde.

»Also gut«, sagte sie. »Meinetwegen. Aber macht keinen Unsinn!«

Den letzten Satz hörte Stephan schon nicht mehr. Längst war er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufgesprungen und in seinem Zimmer verschwunden. Dort packte er eilig ein paar Sachen zusammen und stopfte sie in seine Sporttasche. Er fegte die Treppe hinunter, warf seiner Mutter im Vorbeigehen noch ein kurzes »Tschüss, Mutti!« zu, bevor die Haustür auch schon hinter ihm zuschlug.

Gut, dass das Zelt schon steht, dachte er auf dem Weg zu Bernd. Ein Viermannzelt hatte zur damaligen Zeit wirklich enorme Ausmaße und war mit Innen- und Außenzelt alles andere als schnell und leicht aufzustellen. Dazu benötigte man neben einer gewissen Erfahrung auch eine Vielzahl von helfenden Händen. Ansonsten konnte es leicht passieren, dass der Aufbau eines so großen Zeltes zu einer ebenso großen Herausforderung wurde. Hiervon legte auch das HB-Männchen im Fernsehen regelmäßig Zeugnis ab.

In ihrem kleinen Ferienlager hatten sich die drei schnell eingerichtet. Jetzt hockten sie gemütlich im Eingangsbereich des Zeltes, in dem sich der angenehm warme Abendwind fing. Sie bequatschten gerade aufgeregt ihre bisherigen Ferienerlebnisse, als Bernd ganz beiläufig, als sei es das Normalste von der Welt, einen Tabakbeutel aus der Hosentasche zog.

Stephan war platt. – Seit wann rauchte Bernd?

»Möchtest du auch?«, fragte dieser und hielt ihm den geöffneten Beutel entgegen.

Bei Stephan klingelten plötzlich alle Alarmglocken.

»Lass das bloß sein!«, rief eine innere Stimme aus irgendeiner Ecke seines Unterbewusstseins, wo offenbar noch seine ersten Raucherfahrungen gespeichert waren.

»Nein, danke, lieber nicht!«, sagte er und schob den Tabaksbeutel mit einer abwehrenden Geste zurück.

»Du traust dich wohl nicht?«

Michael sah ihn mit einem breiten Grinsen an, während er mit einer wichtigen Geste die Zigarette nahm, die Bernd ihm hinhielt.

»Natürlich traue ich mich«, sagte Stephan. »Schließlich habe ich schon mal geraucht!«

Mit festem Blick sah er dabei Michael in die Augen und war insgeheim froh, dass Zelte keine Balken hatten.

Bernd drehte bereits die nächste Zigarette und Stephan staunte, wie behände er aus einem Stück Papier und etwas Tabak eine Zigarette rollen konnte. Das Blättchen zwischen dem linken Daumen, Zeige- und Mittelfinger haltend, portionierte er mit der anderen Hand den Tabak im Beutel, bevor er ihn auf das Blättchen legte. Dort verteilte er ihn gleichmäßig mit den Zeigefingern und rollte anschließend das Blättchen ein paar Mal hin und her. Zum Schluss fuhr Bernds Zunge über den gummierten Streifen, dann rollte er die Zigarette zu Ende und schob sie sich lässig in den Mundwinkel.

Was war nur in den drei Wochen, in denen er auf Baltrum war, alles passiert? Vor seiner Abfahrt war Rauchen jedenfalls kein Thema für sie gewesen und jetzt beherrschte sein Freund das Zigarettendrehen, als ob er noch nie etwas anderes gemacht hätte.

»Na, was ist nun?«, fragte Michael, während er seine Zigarette anzündete. »Ich denke, du hast schon mal geraucht?«

»Natürlich«, sagte Stephan und fügte mit dem Brustton der Überzeugung an: »Ich dreh' mir meine aber selber.«

»Na dann, hier«, sagte Bernd und hielt Stephan seinen Tabaksbeutel hin. Zögernd nahm er den Beutel und blickte nun doch leicht verunsichert in die Runde, schließlich hatte er ja noch nie eine Zigarette gedreht. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Stephan zupfte ein Blättchen aus der Packung, portionierte den Tabak, wie er es eben bei Bernd gesehen hatte, und verteilte den Tabak auf dem Blättchen.

Klappt doch prima, dachte er und rollte die Zigarette zwischen den Fingern. Dabei schielte er gelegentlich zu Michael und stellte mit Genugtuung fest, dass dieser ihn staunend beobachtete. Voller Zuversicht begab sich Stephan nun daran, das Blättchen einzurollen, doch so sehr er sich auch bemühte, es wollte einfach nicht klappen. Schließlich passierte das Unvermeidliche: Das Blättchen zerriss in der Mitte.

Bernd lachte, und Michael lachte auch.

Warum lacht eigentlich Michael?, dachte Stephan ärgerlich. Der hat doch seine Zigarette auch nicht selbst gedreht. Bestimmt konnte er das auch gar nicht.

»Ist mir auch am Anfang passiert«, sagte Bernd und klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. »Probier es noch mal!«

Stephan nickte unsicher. Doch ein Blick zu Michael, der ihn von oben herab angrinste, weckte all seinen Ehrgeiz. Und mit leichten Hilfestellungen von Bernd schaffte er es tatsächlich, seine erste Zigarette zu drehen. Stolz betrachtete er sie von allen Seiten und war mit dem Ergebnis durchaus zufrieden.

»Jetzt musst du sie aber auch rauchen!«, rief Michael sofort.

Stephan zögerte. Wieder war da die mahnende Stimme in seinem Kopf.

»Los!«, rief Michael und hielt ihm Bernds Feuerzeug hin. »Oder hast du Angst, in die Hose zu machen?«

Stephan schluckte. Natürlich hatte er Angst. Plötzlich erinnerte er sich wieder, wie er damals auf der Toilette dem Rauchen abgeschworen hatte.

»Blödsinn« war allerdings dann das, was über seine Lippen kam. Irgendwie musste er das jetzt überstehen und Michael beweisen, dass er nicht gelogen hatte. Und so beugte sich Stephan der Verführung. Langsam hob er das Feuerzeug und zündete sich die Zigarette an. Tunlichst darauf bedacht, ja keinen Rauch in seine Lungen kommen zu lassen, paffte er die ersten Züge schnell hintereinander weg. - Lebenserfahrung zahlt sich eben aus.

»Was ist das denn?«, fragte Michael und sah ihn ungläubig an. »Du rauchst ja wie ein Mädchen! Du musst auf Lunge! So, hier!« Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und blies den Rauch anschließend demonstrativ langsam wieder aus.

Wie ein Mädchen?, dachte Stephan. Lauf doch mal eben zu meiner Mutter, die zeigt dir dann, wie ein Mädchen raucht. Er blickte Hilfe suchend zu Bernd, doch von dort erhielt er keine Unterstützung. Ganz im Gegenteil, wie eben sein Cousin, nahm auch Bernd jetzt einen tiefen Lungenzug, hielt die Luft an, ganz ohne Froschbacken zu machen, und blies sie anschließend mit einem genüsslichen Seufzer aus.

Bernd war ein Jahr älter als Stephan und kam nach den Ferien schon in die Untertertia. Das verlieh ihm genau die Art natürlicher Autorität, der Stephan in diesem Moment hilflos ausgeliefert war, wollte er nicht als Weichei vor Michael dastehen. Er gab sich einen Ruck und nahm den zweiten Lungenzug seines Lebens. Zu seiner Überraschung blieb der erwartete Hustenanfall aus. Verwundert betrachte Stephan die Zigarette und zog erneut daran. Dabei bemerkte er, wie schwer es war, überhaupt Rauch in die Lungen zu bekommen. Irgendwie hatte er das von seinem ersten Rauchversuch anders in Erinnerung. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass durch seine ungeschickten Drehversuche der Tabak derart fest zusammengedrückt worden war, dass nur wenig Luft durch die Zigarette gesogen werden konnte.

Stephan fühlte sich cool und auf einmal so richtig schön erwachsen. Stolz blickt er abwechselnd von Michael zu Bernd, bis sich auf einmal ein Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete, dass er noch zu gut in Erinnerung hatte. Zum Glück war Bernds Elternhaus ganz in der Nähe und sie hatten einen Haustürschlüssel bekommen für den Fall, dass noch jemand auf die Toilette musste.

Und Stephan musste!

An diesem Abend gab es noch viel zu erzählen. Stephans kurzer Ausflug ins Haus war zu seiner Erleichterung kommentarlos geblieben. Nachdem er zurückgekommen war, hatte er auch gleich den Schlüssel an Michael übergeben, der sie daraufhin mit einer merkwürdigen Eile in Richtung Haus verließ. Offenbar war Michael doch nicht so raucherfahren, wie er eben noch getan hatte.

Von jenem Abend an wurde die Zigarette zum ständigen Begleiter der drei Jungs. Auch nachdem die Ferien zu Ende waren, änderte sich daran nichts. Bernd und Stephan stießen in der Schule zu den kleinen Rauchergruppen, die sich regelmäßig in den Pausen heimlich in den Toilettenräumen oder hinter der Sporthalle trafen.

Bis kurz vor Ferienende hatte Stephan seine Zigaretten immer bei Bernd geschnorrt. Doch dann war ihm die Frage »Darf ich mir auch eine drehen?« so unangenehm geworden, dass er kurzerhand sein Taschengeld zusammengekratzt und sich seinen ersten eigenen Tabak gekauft hatte.

Damit war nach dem Rauchen auf Lunge der zweite wichtige Schritt auf seinem Weg zum Raucher getan.

Endstation Sylt

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