Читать книгу Mein Jakobsweg durch Israel – Wanderungen durch das Heilige Land - Bodo Scholz - Страница 12
Tel Aviv, 25.4.15
Оглавление4:10 Uhr. Es ist Schabbat – der wöchentliche jüdische Feiertag vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag, auch Sabbat genannt. Der Sonntag ist in Israel ein normaler Arbeitstag.
In den meisten Teilen Israels ist jetzt weitestgehende Stille. Die meisten Juden schlafen jetzt brav, ob sie nun gläubig sind oder säkular. Ein säkularer Jude ist ein Jude, der ohne Glauben lebt.
Hier im Zentrum Tel Avivs – dem säkularen Zentrum des Landes – ticken die Uhren anders. Einige Nachtschwärmer wandeln noch durch die City. Oft lachen sie und unterhalten sich laut. Ich bin bei McDonald’s am Rothschild-Boulevard unweit der Ecke zur Allenby Road eingekehrt und habe gerade einen Chicken-Mac mit Pommes verzehrt. Ein halber Becher Cola wartet noch auf seine Vernichtung. Ein Schwarzer räumt auf. Müll liegt auf dem Fußboden rum. Meinen Tisch in der Ecke habe ich mir zum Schreiben mit Servietten gereinigt. Er blitzt nicht vor Sauberkeit, jedoch okay, es klebt nichts. Von Cola-Resten zusammenklebende Tagebuchseiten würden mich wirklich belasten. Im Leben ist niemals alles perfekt und auf Reisen schon gar nicht. Meinen Reiseführer und die aktuellen Tagebuchseiten werde ich unterwegs gut zusammengepackt in einer Plastiktüte im Rucksack verstauen. Der Reiseführer gehört meinem Cousin – ein sehr korrekter Bauingenieur. Ob ihm das stinkt, dass ich den Reiseführer einfach mitgenommen habe?
Vieles habe ich in den wenigen Stunden seit meiner Landung 23:30 Uhr erlebt:
Kaum hatte ich das Flugzeug verlassen, passte mich eine Frau des Flughafensicherheitsdienstes ab. Die anderen Passagiere neben mir durften weiter gehen. Vielleicht hielt sie mich an, weil ich schon als einsamer Wanderer erkennbar war. Ich bin frisch rasiert, dennoch traf es mich.
Sie wollte meinen Pass sehen und fragte, was ich in Israel wolle.
Ich erwiderte. „Tourist.“
„Reisen Sie allein?“
„Ja.“
Sie durchblätterte die letzten Seiten meines Reisepasses. Der Pass ist erst ein reichliches Jahr alt. Es sind nur Stempel von Sotschi und Antalya vom letzten Jahr drin. Mit Stempeln aus dem arabischen Raum oder gar vom Erzfeind Iran wäre ich wohl terrorismusverdächtig? „Wo sind Sie untergebracht?“
„In einem Hostel in Tel Aviv.“
„Zeigen Sie mir die Buchung!“
„Okay.“ Ich holte die Buchung aus meinem Brustbeutel und gab sie ihr.
Sie gab mir den Reisepass zurück und schaute sich die Hostel-Buchung an.
Nun reichte es mir langsam. „Ich dachte ich wäre hier in einem freien Land, das mutet ja schon an wie …“
„Ja wie denn? Sagen Sie es!“
„Wissen Sie, ich komme aus Ostdeutschland und ich denke so ein bisschen an unseren alten Geheimdienst ›Stasi‹.“
Sie verzog keine Miene und drehte noch den Zettel um.
Da der Wald mir leid tut, nutze ich leere Papierrückseiten zum Ausdruck. Die Rückseite des Blattes war ein alter Gehaltsschein meiner Frau.
Ich zog oben an dem Formular und sagte dazu: „Das ist nur die Rückseite, die ist privat und ganz allein meine Sache.“
Sie ließ den Zettel los und ich ging grußlos von dannen. Im Buch „Guten Morgen, Tel Aviv!“ von Katharina Höftmann las ich bereits, dass man in Israel oft resolut auftreten muss, sonst geht man unter. Auch das wollte ich selbst erfahren.
Ich hatte schon Bedenken, dass die Sicherheitsbeamtin mich per Funk bei der regulären Passkontrolle als verdächtige Person meldet und ich näher untersucht werde. Dem war nicht so.
Wegen des momentanen Schabbat fuhren keine Busse und keine Sherut-Taxis nach Tel Aviv. Ich konnte nur mit einem normalen Taxi fahren, was natürlich teurer wäre. Ich als Wandersmann könnte doch gleich mit dem Wandern in dieser Nacht beginnen. Ein Sicherheitsmann sagte mir, dass ich dafür fünf Stunden bräuchte. Später stellte ich fest, dass ich es in der Hälfte der Zeit geschafft hätte. Zu meiner Sicherheit hätte ich aber auf das Morgengrauen gewartet, wäre dann erst losmarschiert und hätte nichts von der ungläubigen Schabbat-Nacht hier in Tel Aviv mitbekommen.
Mit einem schwedischen Paar teilte ich mir ein Taxi. Wir schwatzten ganz nett über Schweden, Deutschland und darüber, was wir vorhaben.
Belanglose Dinge will ich dir – Mein verehrter BV – nicht erzählen.
Irgendwann will ich auch nach Schweden, jetzt ist jedoch Israel mein Thema.
Der Taxifahrer sprach kein Englisch oder tat nur so. Das Navi sprach russisch. Mit meinen russischen Brocken bekam ich heraus, dass er vor 28 Jahren von Sewastopol nach Israel übersiedelte.
Die Schweden wurden zuerst raus gelassen und zahlten 2/3 des Preises laut Taxameter an mich. Der Taxifahrer fuhr dann noch etwas im Kreise und am Ende kam zu dem Taxameterpreis noch eine Steuer hinzu. So verlor ich etwas Geld zusätzlich.
Als ich mit dir, mein lieber Schatz, vor drei Jahren in Istanbul war, karrte uns der Taxifahrer auch erst mal ein bisschen quer durch die Istanbuler Nacht. Auf der Hotelbuchung war damals keine Telefonnummer, da konnte er sich nochmals dumm stellen. Nach einem kleinen Wutausbruch von mir kamen wir dann doch an. Offenbar sind das die gängigen internationalen Tricks der Taxifahrer, doofe Ausländer abzuzocken. Nun, so wohlhabend sind die Taxifahrer in der Regel nicht.
Vom Taxi aus sah ich schon, dass das mitternächtliche Leben in Tel Aviv floriert. Etwa 1:00 Uhr kam ich im Hostel an, zahlte, packte die wichtigsten Dinge in meinen kleinen faltbaren Tagesrucksack und ließ meinen großen Rucksack dort in der Ecke stehen. Das Hostel ist nur zwei Minuten vom Meer entfernt. Die Uferstraße ist gut beleuchtet und es waren noch einige harmlos anmutende Menschen unterwegs. Eigentlich wollte ich bis zum Morgengrauen auf dem Flughafen pennen. Für die wenigen Stunden wollte ich nicht den ganzen Tagespreis eines Quartiers bezahlen, dazu war ich zu geizig, zudem sollte die erste Wanderung vom Flughafen in das Quartier gleich mein erstes Ferienerlebnis werden. Früher in der Schule mussten wir Schüler immer nach den Sommerferien einen Aufsatz über unser schönstes Ferienerlebnis schreiben.
Nun, es ist anders gekommen und ich habe ein wenig den säkularen Tel Aviver Schabbat erlebt.
Die Uferstraße war gut beleuchtet. Am Rande des breiten uferseitigen Fußweges schliefen einige Penner, dahinter fing der Strand an. Der lag im Halbdunkel, dahin traute ich mich nicht. So ganz wohl fühlte ich mich in den ersten Stunden nicht, ganz allein mitten in der Nacht einer großen Stadt eines mir noch fremden Landes. Dass die Kriminalität nicht allzu hoch hier ist, wusste ich. Ein Londoner Hotelangestellter sagte mir vor Jahren, dass – egal, wo du bist auf dieser Welt – dein äußerliches Bild für deine Sicherheit das Wichtigste sei. Ein torkelnder, hilfloser Mensch lädt Kriminelle immer ein. Ein aufrecht marschierender athletischer Mann bietet weniger Angriffsfläche. Die absolute Sicherheit gibt es nirgends. Leben heißt auch etwas wagen.
Die Allenby Road ist unweit vom Quartier. Ich freute mich, dass das Hostel so nahe dem Strand und dem Zentrum ist. In der Allenby Road und im südlichen Rothschild Boulevard pulsierte das Leben. Junge Leute – um die 20 Jahre alt – grölten vor Lokalen, aus denen Musik schallte. Niemand war aggressiv. Hier fühlte ich mich sicher. Ich bummelte in der Allenby Road hin und her, trank an einem Imbiss draußen sitzend ein israelisches Bier. Ich ging auch in einige Nebenstraßen, nach wenigen Metern war jeweils Stille und ich fühlte mich weniger sicher, obwohl keine zwielichtigen Typen zu sehen waren. Es könnten jedoch plötzlich einige auftauchen und mir den Weg zum Zentrum abschneiden. An irgendwas muss man ja auch irgendwann sterben. Hier jedoch? – sehr unwahrscheinlich. Die Temperatur ist angenehm mild. Mit einer dünnen Jacke kann man gut draußen sitzen.
Ein Cafe am Rothschild-Boulevard machte einen angenehmen Eindruck. Junge leisere Menschen saßen draußen und drinnen, tranken Kaffee, Bier oder Mixgetränke, unterhielten sich und lachten häufig. Ich rauchte gerade, da fragte mich ein dunkelblonder, ungefähr 25jähriger Mann, ob ich ein Feuerzeug hätte. Ich gab ihm Feuer, er bedankte sich. Er saß mit einem Gleichaltrigen am Nachbartisch, wir kamen ins Gespräch. Er erklärte mir, dass hier am Rothschild-Boulevard in der Schabbat-Nacht das Leben pulsiert. Er kommt aus dem Süden Tel Avivs, da ist es jetzt ruhig, wie es sich normalerweise mitten in der Nacht für den Schabbat gehört.
Er fragte mich, woher ich sei.
Ich antwortete. „Aus der Schweiz.“
Das hatte ich mir zurechtgelegt. Ich weiß, dass von einigen israelischen Familien ein Großteil der Vorfahren von den Nazis vergast oder erschossen wurden. So lange ist das alles nicht her – nur 70 Jahre, viele Erinnerungen der Älteren sind noch frisch. Ich verstehe vollends, wenn solche Menschen nichts mit den Deutschen zu tun haben wollen. Sechs Millionen Juden ermordet, das sind so viele, wie jetzt in Israel leben. Welch grauenhafte Wahrheit.
Amos Oz boykottierte bis Ende der 60er Jahre alles Deutsche bis auf die deutsche Literatur. Mittlerweise ist er besuchsweise gern in Deutschland und hat deutsche Freunde. An den Abenden in Deutschland und Österreich kann er noch immer nicht einschlafen. In anderen Ländern geht es ihm nicht so.
So hatte ich mir also zurechtgelegt, dass ich aus der Schweiz, konkret aus Basel bin. Zu Basel hatte ich mich auch noch belesen. Mit dieser kleinen Notlüge wollte ich einfach schnelle vorurteilslose Gespräche mit Israelis gewährleisten. Ich wollte nicht an der Notlüge festhalten und mich beim näheren Gespräch natürlich als Deutscher outen. Der Leser mag jetzt denken, jetzt verleugnet er sein Deutschtum. Das mag sein. So viele Lügen und Halbwahrheiten begegnen uns Tag für Tag – in der Werbung, in den Medien, bei vielen Mitmenschen. So erlaubte ich mir eben auch diese kleine Notlüge für erste Begegnungen mit Israelis. Man möge die Umstände betrachten und mir verzeihen.
Ich las von einer Israelin, die gut Deutsch spricht und sich im Ausland immer als Österreicherin ausgibt, weil sie es leid ist, mit Wildfremden laufend über den Staat Israel zu diskutieren.
Der junge Mann ging auf meine falsche Identität ein und erwiderte, dass einige Israelis in der Schweiz Skiurlaub machen.
Später fragte ich die jungen Männer, ob sie Aschkenasim seien. Sie waren ganz überrascht, dass ich wusste, was Aschkenasim sind. Nein, sie seien beide Sephardim mit marokkanischen und irakischen Wurzeln.
Die Sephardim sind die Nachfahren der Juden aus Portugal, Spanien, Nordafrika, Jemen, Irak, Iran und anderen Länder dieser Gebiete. Sie sehen den Arabern sehr ähnlich, selbst Insider können sie äußerlich oft nicht von den Arabern unterscheiden.
Die Aschkenasim sind die Nachfahren der Juden aus Mittel- und Osteuropa mit heller Haut, mit dunkelblonden, teilweise hellblonden, rotblonden, schwarzen, aber fast nie pechschwarzen Haaren.
Viele Jahre dominierten die Aschkenasim die israelische Gesellschaft, die Sephardim hatten bei der Erlangung einflussreicher Positionen deutlich schlechtere Karten.
Diese beiden jungen Männer hatten als Sephardim nur einen leichten dunklen Hautteint und die Haare des anderen jungen Mannes waren dunkel, jedoch nicht pechschwarz. Die dunkelblonden Haare des ersteren kamen wohl von einer Tönung. Ihre Eltern beschäftigte die Dominanz der Aschkenasim über die Sephardim sehr. Mittlerweile seien sie aber alle eine große jüdische israelische Familie mit gleichen Chancen für alle.
Ich fragte: „Wenn in einem Krankenhaus ein neuer Chefarzt in irgendeiner Abteilung benötigt wird und es zwei Kandidaten für diese Position gibt, einen aschkenasischen und einen sephardischen Juden. Haben beide die gleichen Chancen heutzutage, den Chefarztposten zu erreichen?“
Sie überlegten kurz und nickten. Ob das immer so sei, sei dahingestellt. Offenbar kannten sie sich nicht im Krankenhaus-Milieu aus. Das war mir auch egal. Mit meiner Frage ging es mir lediglich um die Vergabe führender Posten, egal auf welchem Arbeitsgebiet. Mittlerweile sind die Chancen der Sephardim offenbar besser.
Ich fragte noch, wann denn die Sonne aufgehen wird.
„Ungefähr 6:00 Uhr morgens.“
Ich beschloss, etwas den Rothschild-Boulevard bei Nacht zu erkunden und mich dann einfach eine halbe Stunde an den Strand zu legen und die Augen eine halbe Stunde zuzumachen. Ich habe gute Erfahrungen mit solchen kurzen Regenerationspausen. Während der beiden Flüge schlief ich etwas, dennoch ist mein Biorhythmus leicht vergewaltigt und ganz frisch fühle ich mich nicht. Von den ärztlichen Bereitschaftsdiensten kenne ich das. Mit steigendem Alter habe ich ein zunehmendes Bedürfnis nach einem stabilen Tag-Nacht-Rhythmus. Zum Glück muss ich nicht regelmäßig ganze Nachtschichten schrubben.
Die Bauhausarchitektur des Rothschild-Boulevards bewunderte ich im Halbdunkeln, am Ende des Boulevards steht das Nationaltheater Habimah mit einem großen freien Platz davor. Die zwei jungen Männer traf ich nach einer Stunde nochmals. Die meisten Lokale waren nunmehr geschlossen. Irgendwie musste ich noch die wenigen Stunden bis zum Tagesanbruch vertrödeln. Ich suchte noch ein Lokal, wo ich gemütlich etwas essen und schreiben kann und so bin ich hier bei McDonald’s gelandet.
5:40 Uhr, ich habe eine reichliche Stunde intensiv geschrieben und kaum aus dem Fenster geschaut. Draußen kommt Tageslicht auf und ich sehe den Rothschild-Boulevard erstmalig bei Tageslicht.
Auf, auf zum berühmten Strand von Tel Aviv! Hoffentlich rauscht das Meer. Als Landei liebe ich das Meerrauschen. Ich war schon mehrmals an der Nord- und Ostsee, als das Meer mehrere Tage nicht rauschte – deprimierend. Da hätte ich mich auch an das Ufer einer Thüringer Kiesgrube setzen können.
11:20 Uhr: Ich sitze in einem Cafe unweit der Küste. An einem Tisch schreibt es sich eben doch am besten. Mit übergeschlagenen Beinen auf einer Bank ist es unbequemer.
Wieder ist vieles in den letzten Stunden passiert. Am Meer gegen 6:00 Uhr angekommen, freute ich mich, dass das Meer ein bisschen rauscht. Erstaunlich viele Menschen joggten schon an der Uferpromenade und auf dem vom Meer überspülten Sandstreifen.
Eigentlich mag ich das denglische Wort „joggen“ nicht. Nun, „dauerlaufen“ oder „waldlaufen“ sind aus der deutschsprachigen Mode gekommen. Für das englische Wort Pullover, gibt es kein deutsches Wort. Übersetzt bedeutet Pullover „Überzieher“, kein Mensch sagt Überzieher. Sprache verändert sich, hoffentlich wird die schöne deutsche Sprache nicht ganz abgeschafft.
Ich legte mich an den Strand mit meinem kleinen Rucksack unter dem Kopf, schloss eine Viertelstunde die Augen und war wieder halbwegs frisch.
Dann spazierte ich den Strand entlang. Hier gibt es jetzt Ende April schon viele kastanienbraune Menschen und sie aalen sich weiter in der Sonne. Haben die noch nichts vom Hautkrebs gehört? Na ja, ich rauche auch und habe auch schon vom Lungenkrebs gehört.
Ich schaute zwei Anglern zu und fragte, ob sie schon Fische gefangen hätten.
Der eine erwiderte scharf: „Not po russki“. Das war ein kurzer englisch-russischer Brocken, bedeutete „nicht auf Russisch“ und bedeutete hier eindeutig: Wir sprechen hier kein Russisch, verstehe das bloß, du Depp!!
Wie ich schon im Vorfeld erfahren habe, sind seit 1989 rund 1Million Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel eingewandert. Das sind immerhin etwa 13% der israelischen Bevölkerung – ein ziemlich großer Anteil. Ich las auch Publikationen, wo der Anteil noch höher beziffert wird. Teilweise ist deren jüdische Herkunft umstritten. Viele assimilieren sich nicht so richtig in die israelische Gesellschaft, sprechen vorwiegend russisch, lernen kaum hebräisch. Einige sehen Israel als Sprungbrett an, um im Weiteren in den USA oder in Deutschland zu leben. An deren Stelle wüsste ich auch nicht, warum ich da hebräisch lernen soll. Ein Teil der israelischen Bevölkerung mag diese Einwanderer nicht, was ich bei diesem Angler spürte.
Ich fragte nach dem Fischfang in Englisch. Durch das Meerrauschen hatte er mich missverstanden, dachte, ich spreche russisch.
Ich sagte ihm, dass ich in Englisch nach dem Fischfang gefragt habe.
Er verstand und sagte, dass sie noch keine Fische heute gefangen hätten. Dann unterhielten sich beide Angler hebräisch weiter. Vielleicht hielten sie mich immer noch für einen Russen.
Ich wandelte durch die Straßen Tel Avivs. Ich begegnete Männern mit Kippa und erstmalig einem Juden mit Schläfenlocken. Schläfenlocken trägt ein Großteil der ultraorthodoxen Juden. Ja, es ist Schabbat und irgendwo müssen doch da auch Synagogen sein, wo jetzt Gottesdienste stattfinden. Auf einem Spielplatz fragte ich zwei junge Frauen, die bei ihren spielenden Kindern saßen, nach einer Synagoge. Sie beschrieben mir den Weg zur nächsten Synagoge. Beide waren vor einigen Jahren aus den USA eingewandert.
Vor der Synagoge zog ich meine Jacke zur Bedeckung meiner Arme an, trat in den Vorraum, bedeckte mein Haupt mit einer ausliegenden Papp-Kippa und setzte mich gleich rechts in die Ecke des Saales. Ungefähr 30 Männer beteten gemeinsam. Schläfenlocken hatte hier keiner. Die Umrisse von etwa 10 sitzenden Frauen sah ich im linken Drittel des Saales, der durch eine Gardine abgetrennt war. Von einigen Männern wurde ich skeptisch gemustert.
Meine Papp-Kippa hielt nicht und fiel hinten runter. Oh Gott, habe ich jetzt das heilige Haus entweiht, dachte ich. Ich hob die Kippa auf und zog sie etwas nach vorn, auf dass sie dort wohl verweile.
Wie ich später mitbekam, fixieren einige ihre Kippa mit einer Haarspange und normale Stoff-Kippot (Mehrzahl von Kippa) saugen sich auch etwas am Hinterkopf fest.
Ein Mann kam herein und nickte mir freundlich zu.
Unter gemeinsamen Gesängen wurde die Torarolle durch die Synagoge getragen und auf dem Lesepult ausgerollt. Die Gläubigen hatten alle Gebetsbücher vor sich, machten ab und an Nickbewegungen zum Gebet oder liefen dabei kurz auf der Stelle. Zwischendurch standen sie auf. Ich als Besucher blieb sitzen, ich hoffte, das war okay.
Die wacklige Kippa fiel mir zum vierten Mal runter, ich ging in den Vorraum und wollte schauen, ob da vielleicht Haarklammern rumliegen. Ich fand nichts. Der Rabbi winkte mich von drinnen freundlich lächelnd zu sich, ich traute mich ohne Kopfbedeckung nicht in das Innere der Synagoge. Er kam mir entgegen und gab mir einen Gebetsschal.
Ich sagte ihm, dass mir die Kippa laufend runterfällt. Leider hätte er keine andere. Damit die Kippa nicht gleich wieder runterfällt, rückte ich sie weiter nach vorn auf meinem Haupt – etwas „unorthodox“, da ja die Kippa auf dem Hinterhaupt getragen wird.
Wie die anderen schlang ich mir den Gebetsschal um die Schultern. Als Kind legte ich mir die Bettdecke oft um die Schultern und lief so abends durch die Wohnung. Meine Mutter amüsierte sich immer darüber. Für mich hatte der Umhang, etwas von zu Hause sein – wohl für die Juden etwas von zu Hause sein bei ihrem Gott. Zur Verstärkung ziehen einige auch den Umhang über den Kopf beim Gebet.
Ein Mann betete sehr laut vor und die anderen beteten nach. Vielleicht hinkt der Vergleich aus jüdischer Sicht, nach meinem Gefühl bestand eine gewisse Ähnlichkeit zu einem schier brüllenden Muezzin.
Wohl weil er mitbekam, dass auch Ausländer im Saal sind, sprach der Rabbi einige Worte Englisch. Man solle sich zusammensetzen. Der Mann, der mir beim Hereinkommen freundlich zunickte, setzte sich zu einem anderen. Sie unterhielten sich ab und an in englischer Sprache. Wie ich mitbekam, ist dieser Mann aus den USA und in Tel Aviv nur besuchsweise.
Es kamen auch zwei Männer mit Basecap. Das Wichtigste ist, dass der Kopf bedeckt ist. Zur Not kann man in der Synagoge sein Haupt mit einem Bascap anstelle einer Kippa bedecken.
Bis dahin moderierte der Rabbi den Gottesdienst. Nun übernahm ein anderer Mann und rief mich nach vorn. Ich schaute verlegen, wollte schon ausholen und sagen, dass ich ein atheistischer Tourist sei.
„Sind Sie Jude?“, rief der Mann quer durch die Synagoge.
Ich: „Nein.“
Wortwörtlich er sofort darauf: „Aah.“
Er rief einen anderen vor. Sie hielten mich wohl alle für einen Juden. Nun war ich gar kein Jude. Waren Sie enttäuscht? Ein anderer wurde vor gerufen. Mir reichte es zunächst als erster Eindruck, ich ging. Im Vorraum saß ein anderer Mann mit Basecap, las in einem Buch – wahrscheinlich ein Gebetsbuch – und nickte mir freundlich zu.
Wie ich später herausfand, werden beim Samstagmorgen-Gottesdienst in vielen Gemeinden im Anschluss an die Tora-Lesung Anwesende aufgerufen und erhalten eine besondere Segnung – ein Mi Sheberach, in der neben ihrem Namen auch Familienangehöriger oder Kranker gedacht werden kann.
Ich erinnere mich an unsere Kalifornien-Reise vor vier Jahren, mein allerliebster Schatz. Außer einem beginnenden Muskelabbau an den Händen strotztest du vor Gesundheit. Die Diagnostik deiner Krankheit lief erst an. Wir dachten beide, dass sich die Sache klären wird und wir gemeinsam mit unserer herrlichen Affenliebe hornalt werden.
Wir besuchten im ländlichen Kalifornien den Sonntagsgottesdienst einer kleinen christlichen freien Gemeinde. Einzelne Gemeindemitglieder erzählten von Angehörigen, die krank oder bei der Armee im Auslandseinsatz waren. Am Ende gedachte die ganze Gemeinde derer und hoffte auf Gottes Hilfe. Das war also ähnlich.
Nun ist es 12:35 Uhr, ab geht’s ins Quartier zum Mittagsschläfchen. Ab 13:00 Uhr kann ich rein. Ich hoffe, ich finde nach ein bis zwei Stunden Ruhe wieder raus aus dem Bett, um abends zur normalen Schlafenszeit die nötige Bettschwere wieder zu haben.
Ich habe jetzt schon die Schnauze voll. Das Quartier hat mir den Rest gegeben. Ich klingelte an der Tür des Hostels. Ein sehr grimmig dreinschauender, dünner, ungefähr 60jähriger Jude mit Kippa öffnete mir mit einem wütenden Murren. Ich sagte, dass ich gebucht hätte, zeigte auf meinen Rucksack in der Ecke. Er fluchte nochmals hebräisch, deutete an, dass ich meinen Rucksack nehmen und abhauen solle und ging in ein Zimmer. Ich dachte, er wäre der Eigentümer des Hostels und ich hätte gerade die Schabbatruhe gestört. Der palästinensische Hotelangestellte, bei dem ich in der Nacht eincheckte war nicht da. Ich schnappte meinen Rucksack und öffnete mit dem mir bekannten Code 555 die andere Eingangstür des Hostels in der Hoffnung, Personal zu finden, das mir mein Bett zuweist. Drinnen bezog in einem Zimmer eine schwarze Putzfrau Betten. Sie sprach kein Englisch. Im ganzen Haus traf ich keinen anderen Menschen an.
Draußen setzte ich mich erst mal auf die Bank und rauchte eine. Schöne Scheiße, ich wollte endlich das Quartier beziehen, schlafen und jetzt das. Die Schabbatruhe des vermeintlichen jüdischen Besitzers wollte ich aber auch nicht stören. Trotzdem: die müssen doch eine Macke haben, schließlich habe ich bezahlt!
Entschlossen betrat ich das Hostel erneut, zeigte der schwarzen Putzfrau den Beleg, dass ich bezahlt habe und sagte ihr laut, dass sie jetzt jemand rufen solle, der englisch spricht. Ein Handy lag auf dem Tisch, das reichte ich ihr. Sie fluchte noch etwas in irgendeiner Sprache, ich fluchte zurück, dann erschien endlich der palästinensische Rezeptionist von der Nacht und zeigte mir mein Bett in einem kleinen Zimmer mit vier Doppelstockbetten. Ich könne eines der freien Betten nehmen, er gab mir noch ein frisches Handtuch. Haken zum Aufhängen von Klamotten gab es keine, zum Glück war der Platz an der Wand für meinen Rucksack frei. Ein russischer Mitbewohner kam aus der Dusche. Der sprach auch kein Englisch und schaute ernst drein.
Ich machte mich oberflächlich frisch, stopfte mein Portemonnaie in meinen Brustbeutel. Ich wollte mich nicht im Schlaf an meinem Brustbeutel strangulieren und legte den Brustbeutel heimlich unter das Kopfkissen. Wenn ich im Tiefschlaf bin, könnte das Ding doch jemand klauen. Vertrauenserweckend war mir das Quartier nicht. Obwohl ich genug Geld für ein Hotel hätte, buchte ich ein einfaches Hostel mit Acht-Mann-Schlafsaal. Alpenwanderer kennen das auch von den Wanderhütten. Ich zeltete in meinem Leben schon häufig. Im Urlaub brauche ich ein Bett, eine Dusche und halbwegs akzeptable hygienische Verhältnisse. Ich hatte auch die Hoffnung, dass ich mit Mitmenschen in einem Schlafsaal eher in das Gespräch komme, als wenn ich einsam in meinem teuren Hotelzimmer hocke. War mein Geiz doch falsch? Vielleicht ziehe ich morgen in ein Hotel und pfeife auf das gegebene Geld für die vier Nächte in dieser Herberge.
Der Russe wurschtelte an seinem Kram. Ich konnte nicht einschlafen. An mir klebte etwas Schweiß. Nicht das mein frisches Bett dann auch klebt. Ein bisschen Staub toleriere ich gut, klebriges Zeug ist mir ein Gräuel. Ich stand auf, duschte mich, wusch nebenbei die Socken und das Hemd, zog unterhalb des Bettes über mir zwei Wäscheleinen, hing meine Wäsche daran auf. Vier Wäscheklammern und eine Strippe hatte ich mitgebracht.
In einfachen Pensionen in Deutschland, Österreich, Holland, Großbritannien habe ich mich immer wohl gefühlt, was ich von diesem Hostel nicht sagen kann.