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Tel Aviv, 26.4.15

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Mein lieber BV,

über alle Belanglosigkeiten will ich dir nicht schreiben. Ich glaube, manchmal habe ich abartige Gedanken. Die kann ich dir ja mitteilen. Schließlich haben wir beide ja das Beichtgeheimnis vereinbart. Ich will das Tagebuch zumindest im Familien- und Bekanntenkreis später veröffentlichen. Alle Beichten werde ich in diese Version sicher nicht reinnehmen.

Ich denke, viele Menschen meinen, einige ihrer eigenen Gedanken seien abartig. „Die Gedanken sind frei“ heißt es in dem bekannten deutschen Volkslied. In den Gesprächsrunden der psychosomatischen Rehabilitation bekommen dann einige mit, dass ihre Gedanken gar nicht so abartig sind. Andere haben ähnliche Gedanken.

Ich bin heute wesentlich besser drauf als gestern Nachmittag. Gut ausgeschlafen und ein klarer Plan: den Stadtrundgang durch Tel Aviv nach Reiseführer werde ich heute zu Ende führen.

So übel ist das Quartier nicht. Es ist sauber. Wenn man sich schnellstens aufrafft und sein persönliches System in dieser Wirtschaft gefunden hat, geht es. Einige Hostelgäste grüßen mich nett. Es ist ein kleines Hostel mit ungefähr 20 Gästen.

Der palästinensische Rezeptionist erzählte mir, dass der fluchende Jude ein ganz normaler Gast aus Frankreich ist, er ist schon einen Monat hier. Und ich hielt ihn für den Besitzer dieses Hostels! Das Zimmer, in das er bei meiner Ankunft ging, nachdem er ausgeflucht hatte, war ein Klo des Hostels. Die Zimmertür ist hebräisch beschriftet, was ich nicht lesen kann.

Ich dachte, der religiöse jüdische Hostelbesitzer versuchte, seinen nun durch einen Deutschen halbversauten Schabbat weiter im Wohnzimmer zu genießen. Dabei musste der französische Gast nur mal zur Notdurft.

Vielleicht hat er wie andere Juden das zunehmend antisemitische Frankreich verlassen und will sich hier eine neue Existenz aufbauen. Vielleicht hat er gehört, dass der Rucksack in der Ecke einem Deutschen gehört, der im Laufe des Schabbat einziehen wird. Ich kann verstehen, dass dieser Mann in seiner möglichen Situation die Deutschen nicht mag.

Was ist denn seine mögliche Situation? Mit mir spricht er nicht, ich kann nur vermuten: Die Deutschen haben vielleicht gar alle seine Vorfahren umgebracht. Jetzt wird es mit dem Antisemitismus in Frankreich wieder schlimmer. Der Anschlag auf „Charlie Hebdo" war nur der Gipfel der Attacken. Dieser französische Jude entschied für sich, dass er seine geliebte französische Heimat verlassen muss. Wiederholt sich die ganze grausame Geschichte des Holocaust? Und da kommt dieser ungläubige Deutsche mitten in der Schabbatruhe daher! Nach diesen Gedanken kann ich den Mann besser verstehen.

Ich erinnere mich an das letzte Jahre meines Medizinstudiums. Angehende Ärzte arbeiten in ihrem letzten Studienjahr im Krankenhaus. Es ist ihr Praktisches Jahr (PJ). Die PJler agieren schon als halbe Ärzte, untersuchen Patienten, assistieren bei Operationen, legen Infusionen. Als ich PJler war, konnte eine gestandene Ärztin für Anästhesie mich offenbar nicht leiden. Sie stichelte laufend gegen mich, erwiderte kaum mein „Guten Morgen“. Warum ihr meine Nase nicht passte, wusste ich nicht. Ich erzählte meinem besten Studienfreund Thomas davon.

Er daraufhin: „Weißt du, ich denke, diese Frau hatte eine sehr große Liebe. Diese große Liebe ging dann leider zu Ende. Der Typ, der diese große Liebe war, sah dir sehr ähnlich. Wenn sie dich sieht, wird sie immer wieder daran erinnert.“

Plötzlich konnte ich diese Frau viel besser verstehen.

Solche, wenn auch konstruierten Geschichten helfen mir, unsympathische Mitmenschen zu verstehen und eine friedliche Koexistenz zu ermöglichen. Manchmal werden sich Intimfeinde gar sympathisch. Auch das erlebte ich schon in meinem 51jährigen Leben.

So versuche ich jetzt auch den französischen Juden zu verstehen, grüsse ihn mit „Schalom“, auch wenn er nicht zurückgrüßt.

Im Hostel sind noch zwei ungefähr 25jährige dunkelhaarige Kerle, die mich auch nicht grüßen. Ich weiß nicht, woher sie sind, sie könnten Juden oder Araber sein. Da ich beim Einchecken meinen Pass vorlegen musste, bin ich in diesem kleinen Hostel als Deutscher geoutet. Ich kann hier keinen auf Schweizer mimen. Nun ja, ich akzeptiere es und hoffe dennoch etwas Deutschfreundlichkeit in Israel zu finden.

In der Nacht knallte der Russe laut die Tür anstatt sie vorsichtig herunter zuklinken und möglichst leise heranzuziehen. Ich nahm meinen Brustbeutel und ging pinkeln. Als ich wieder kam, tappte der Russe noch von einem Bein auf das andere und mehrte an seinem Kram. Beim Wieder-Einschlafen tastete ich unter dem Kopfkissen nach meinem Brustbeutel und nach meiner Armbanduhr. Die Uhr war weg. Bleibe ruhig, sagte ich mir. Wenn ich den Russen darauf anspreche, wird er mich nicht verstehen und das Misstrauen spüren. Jemanden des Diebstahls zu bezichtigen, ist ein sehr schwerer Vorwurf.

Ist die Uhr halt weg, sie ist keine Rolex. Muss ich mir heute eine neue besorgen. Bei den jüdischen und arabischen Schacherern ist das vielleicht nicht einfach und ich bezahle das Doppelte.

Wie ich später mitbekam, stimmt das nicht. In den israelischen Städten gibt es Einkaufszentren mit normalen ausgeschilderten fairen Preisen. Mit entsprechenden Formularen kann man gar die Mehrwertsteuer (VAT) auf dem Flughafen bei der Ausreise zurückbekommen.

Als ich später wieder aufwachte, lag die Uhr unter dem Bett. Bei meiner Rumwälzerei im Schlaf rutschte sie vom Bett und fiel herunter. Sie war heil. Und ich wollte schon abreisen.

Landolf Scherzer machte seinen Brustbeutel gar am Oberschenkel fest, um nicht beklaut zu werden. Wie entspannt und sicher es doch da auf einem Kreuzfahrtschiff zugeht mit Sauna am Abend und täglich frischen Handtüchern. Dafür zahlt man eine ganze Menge mehr und verbringt die meisten Abende nicht mit Einheimischen sondern unter Touristen.

Mein Jakobsweg durch Israel – Wanderungen durch das Heilige Land

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