Читать книгу Der Perlmuttbaum - Bärbel Junker - Страница 6
ОглавлениеDIE FALLE
Das Land war weit und eben und sie kamen gut voran. Gegen Mittag jedoch versperrte ihnen ein bedrohlich wirkendes Felsmassiv den Weg, dessen zerklüftete Ausläufer mit dürrem Gras und niedrigen, knorrigen Bäumen bewachsen waren. Zwischen hoch aufragenden Felswänden führte ein schmaler Pfad hindurch, der einzige Weg weit und breit. Sie ritten näher heran und sahen, dass der Boden an vielen Stellen so zerfurcht und ausgewaschen war, als fließe hier oft und viel Wasser hindurch.
„Irgendetwas stimmt hier nicht, Samiras“, warnte Danina.
„Das Gefühl habe ich auch. Trotzdem gibt es nur diesen einen Weg, falls wir nicht zurückreiten und einen günstigeren suchen wollen. Aber das kostet Zeit.“ Und die haben wir nicht, fügte sie im Stillen hinzu, denn sie hatte die Drohung, die ihr der Dämon aus seinem Tümpel in dem unterirdischen Gewölbe in Teufats Burg entgegengeschleudert hatte, nicht vergessen. Und wie schon so oft, klang sie auch jetzt wieder in ihren Ohren:
„Für heute hast du gewonnen. Doch das Böse lässt sich nicht auf ewig verbannen. Ich kehre stets wieder zurück, denn ich bin unsterblich, existiere schon so lange wie die Welt. Wir sehen uns wieder, Samiras, und dann gewinne ICH! Ich habe Zeit, so unendlich viel Zeit. Du hast den Zaubersamen gefunden, jedoch den Perlmuttbaum noch nicht zu neuem Leben erweckt. Sollte es dir nicht gelingen, kehre ich aus der Verbannung zurück und vernichte dich und alles, was dir lieb und wichtig ist.
Schaffst du es jedoch, dann sage ich dir: Vereinige dich ruhig mit dem Perlmuttbaum und erwecke ihn zu neuem Leben. Schenke der Welt ein schöneres Kleid. Welch ein Vergnügen wird es dann erst für mich sein zurückzukehren und alles wieder zu zerstören. Und glaube mir, ich werde es mit jeder Faser genießen!“, gellte seine abscheuliche, boshafte Stimme auch jetzt wieder in ihren Ohren.
Was mochte er wohl damit gemeint haben: Vereinige dich ruhig mit dem Perlmuttbaum? Niemand konnte eins werden mit einem Baum. Und doch hatte er es gesagt. Also musste es auch etwas bedeuten? Aber was? Sie wusste es nicht und würde es durch Grübeln auch sicherlich nicht erfahren.
Einen Steinwurf von ihnen entfernt landete der Rabe Lestopoktus auf einem knorrigen Ast und beobachtete sie.
Karon und Hetzel musterten argwöhnisch die hohen Felswände. Doch falls wirklich Gefahr bestand, zeigte sie sich nicht. Sie mussten sich entscheiden. Wollten sie das Wagnis einer möglichen Bedrohung eingehen oder lieber zurückreiten, um nach einem anderen Weg zu suchen?
Sie waren sich schnell einig. Ihr gefahrvoller Weg durch die Todeswüste hatte sie zu Freunden werden lassen, da bedurfte es nicht vieler Worte. Die Zeit drängte, also würden sie sie nicht vergeuden. Sie lenkten ihre Pferde auf den schmalen Pfad und ritten im Schritttempo hintereinander weiter. Alles blieb ruhig. Sie entspannten sich.
Da schnappte im letzten Drittel des Weges die Falle zu!
Von oben fiel ein Netz über sie, dem alleine Danina mit einem geschmeidigen Satz entkam. Sekunden später war sie verschwunden, Samiras und Hetzel, Ephlor und Karon jedoch mit ihren Pferden in dem Netz gefangen. Sie verloren keine Sekunde. Mit ihren Messern versuchten sie sich aus dem stabilen Maschenwerk zu befreien und hätten es vielleicht sogar geschafft. Aber natürlich ließen ihnen ihre noch unsichtbaren Angreifer nicht die dafür erforderliche Zeit.
„Wir bekommen Besuch“, knurrte Hetzel und griff nach seiner Axt, einer fürchterlichen Waffe in der Hand des Zwerges.
Und da stürmten auch schon johlend vor und hinter ihnen wüst aussehende, schwer bewaffnete Kerle herbei und umzingelten sie.
„Versteck dich“, raunte Samiras Mawi zu. „Danina ist entkommen und Lestopoktus beobachtet uns aus der Ferne. Du kannst uns sicher später noch helfen. Im Moment jedoch kannst du für uns nichts tun. Schnell jetzt! Verschwinde!“ Sie durchtrennte mit ihrem Dolch hastig einige Schnüre und das Mauswiesel huschte davon.
Gerade noch rechtzeitig!
„Legt die Waffen nieder und ergebt euch“, forderte eine unangenehme Stimme, kaum dass Mawi verschwunden war. „Ihr habt keine Chance. Wir sind in der Überzahl, kapiert?“
Er hatte recht. Im Moment konnten sie tatsächlich nichts anderes tun, als sich zu ergeben, so schwer es ihnen auch fiel. Zuerst einmal mussten sie das verdammte Netz loswerden. Danach würde man weitersehen. Sie legten ihre Waffen auf den Boden und hoben die Hände.
Sofort wurde das Netz in die Höhe gezogen und die Galgenvögel umringten sie. Sie banden ihnen die Hände auf den Rücken und stießen sie gegen die Felswand in ihrem Rücken. Ein brutal aussehender, vierschrötiger Kerl baute sich vor ihnen auf und starrte sie an.
Der Anführer dieser üblen Horde wie sich sogleich herausstellte. „Uns entkommt niemand“, sagte er höhnisch und trat so dicht an Samiras heran, dass sie seinen fauligen Atem roch. Angewidert senkte sie den Kopf. „Wo habt ihr die Pantherin und das kleine Monster gelassen?“, knurrte er. „Als ihr Okzaht verlassen habt, waren sie noch bei euch. Wir haben euch nämlich beobachtet.“
Sofort fiel Samiras der Schatten in der Häusernische ein. Also hatte sie sich doch nicht getäuscht. Aber das nützte ihnen jetzt auch nichts mehr.
„Die beiden haben sich von uns getrennt. Sie hatten ein anderes Ziel“, erwiderte sie.
„Hau ihr eine rein, Kurt, dann redet sie schon“, grölte ein hoch aufgeschossener, spindeldürrer Kerl.
„Bei so ´ner hübschen Braut hätte ich aber ´ne weitaus bessere Idee“, schrie ein anderer. Dröhnendes Gelächter und wüste Zurufe stimmten ihm begeistert zu.
„Du lügst, Süße“, knurrte Kurt gallig. „Aber wir bringen dich schon noch zum Sprechen. Wir haben da so unsere ganz speziellen Methoden.“ Die Kerle hauten sich vor Vergnügen auf die Schenkel.
Samiras liefen Eisschauer den Rücken runter, doch sie ließ sich ihre Angst nicht anmerken. Karon, Ephlor und Hetzel verhielten sich ruhig, um die Kerle nicht noch mehr zu reizen, aber ihre Augen sprühten vor Zorn.
Nachdem man ihnen außer ihrer Kleidung fast alles abgenommen und ihre Pferde zu einem Einschnitt zwischen den Felsen geführt und angepflockt hatte, wurden sie mit rüden Stößen zu einem breiten Spalt in der hoch aufragenden Wand getrieben, hinter dem sich der Zugang zu einer stillgelegten Mine verbarg. Ein Labyrinth aus Höhlen, Stollen und Schächten, aus dem es für Fremde kein Entkommen gab wie ihnen Kurt, der Anführer, höhnisch versicherte. „Besser ihr macht keine Sperenzchen“, warnte er grinsend.
Menschen, dachte Hetzel verächtlich. Was für ein überheblicher Dummkopf. Ich möchte den Zwerg sehen, der sich in solch einer mickrigen Mine verirrt. Er fühlte Karons Blick, der wohl gerade dasselbe dachte, und grinste. Erstaunlich, dieser Krieger. Wären alle Menschen wie er, könnte ich mich direkt an sie gewöhnen, dachte der Zwerg.
Anfangs versuchte Samiras sich den Weg zu merken. Jedoch anders als ein daran gewöhnter Zwerg, verlor sie in diesem Wirrwarr von Stollen und Höhlen die Orientierung und gab auf. Hetzel würde bestimmt einen Weg hinausfinden, dachte auch sie. Außerdem würde Danina sie ebenso wenig in Stich lassen wie Lestopoktus und Mawi. Kein Grund sich Sorgen zu machen, solange sie noch fest auf beiden Füßen standen.
Endlich blieb der Anführer stehen. „Jetzt geht´s dir gleich an den Kragen“, feixte er und gab ihr einen Stoß, der sie in eine feuchte Höhle taumeln ließ, in der es nach Unrat, Schimmel und Verfall stank. In der Mitte der Grotte brannte ein Feuer, dessen züngelnde Flammen tanzende Schatten auf eine hohe, in einen bodenlangen Umhang gehüllte Gestalt warf, die mit dem Rücken zu ihnen stand.
Einen schrecklichen Moment lang stockte Samiras der Atem. Sie glaubte Teufat vor sich zu haben. Doch dann beruhigte sie sich. Unsinn, rief sie sich zur Ordnung. Der Magier konnte es unmöglich sein. Die Zauberinnen Xzatra und Beruna hatten Teufat in die Zwischenwelt verbannt, wo er in Ruhe über seine Schandtaten nachdenken konnte, was er jedoch sicherlich nicht tun würde.
Eher würde er wohl nach einer Möglichkeit suchen zu entkommen, was jedoch ohne die Hilfe schwarzer Magie von außen nicht möglich war. Doch Teufat war skrupellos, durchtrieben und schlau. Xzatra würde ein sehr wachsames Auge auf ihn haben müssen.
Aber wer war der Mann am Feuer? Was wollte er von ihnen? Natürlich den Zaubersamen, den er für Edelsteine hielt, beantwortete sie die Frage selbst. Sie musste unbedingt wissen, was er vorhatte.
Vorsichtig streckte sie ihre geistigen Fühler aus und spürte einen schwachen Hauch von Magie. Doch das beeindruckte sie nicht. Nein, was sie erschreckte, war die Verdorbenheit und Gier, dieser Morast an Schlechtigkeit in diesem Wesen dort am Feuer.
Da drehte sich der Vermummte mit einem Ruck zu ihnen um. „Durchsucht sie“, befahl er.
„Das haben wir schon, Boss“, erwiderte Kurt. „Dem Mann, dem Zwerg und dem Elf haben wir alles abgenommen, und die Frau hat außer einer leeren Wasserflasche und einem ebenfalls leeren Vorratsbeutel auch nichts mehr bei sich.“
Nur gut, dachte Samiras, dass ich die Kapsel mit dem Zaubersamen Lestopoktus zur Aufbewahrung gegeben habe. Seit dem Kampf in der Schänke war damit zu rechnen gewesen, dass man versuchen würde, ihr die vermeintlichen Edelsteine abzunehmen. Die Gier in den Augen der Männer war allzu offensichtlich gewesen.
„Ich werd verrückt“, keuchte Karon neben ihr. „Wie kommt denn der hierher?!“
Auch Hetzel, Ephlor und Samiras starrten sprachlos vor Überraschung auf das Wesen, welches plötzlich aus dem Schatten des Vermummten auftauchte.
Das konnte doch nicht wahr sein!
Etwa einen Meter groß; dunkelgraue, ledrige Haut; kurze, stämmige Beine; hornige Füße und Hände die übergangslos in jeweils drei zangenartigen Gliedern endeten. Oh ja, sie kannten diese Kreatur, die sie aus glitzernden Facettenaugen höhnisch anstarrte.
Eingepackt in eine wattierte Jacke und Hose kam Iont, der Kriegsherr der Skorps, grinsend auf sie zu. Er zitterte vor Kälte, vielleicht aber auch vor Hass. Aber wieso war er hier? Was hatte ihn aus der Todeswüste hierher getrieben? Was wollte er hier?
„Sie sind es“, stieß der Skorp hasserfüllt hervor.
„Aber die Elfin, der goldene Drache und die schwarze Pantherin fehlen.“
Als der Anführer seine Kapuze zurückschob, warf flackernder Feuerschein Schatten auf sein pockennarbiges Gesicht, verzerrte es zu einer boshaften Fratze, die ihnen riet, ihn nicht zu unterschätzen. Er fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel und musterte sie abschätzend.
„Ich bin der Magier Kretox und Anführer dieser Männer. Sie stehen unter meinem Schutz. Hütet euch also vor meinem Zorn“, sagte er arrogant.
Ach, du meine Güte, dachte Samiras. Nur weil er vielleicht einen Hauch von Magie in sich spürt und ein paar Taschenspielertricks beherrscht, glaubt dieser Angeber, er sei ein begnadeter Magier. Was für ein Hohlkopf! Aber ungefährlich ist er nicht. Mal hören, was er uns zu sagen hat.
„Und jetzt zu uns beiden, Süße. Wo sind die Edelsteine?“, fragte Kretox und trat wie der Kerl vorhin so dicht an sie heran, dass sie seinen heißen Atem auf ihrer Haut spürte. Angewidert wich sie vor ihm zurück, bis die raue Felswand sie stoppte. Der selbst ernannte Magier wertete ihr Zurückweichen als Angst und grinste zufrieden.
„Also?“, knurrte er.
„Ich habe sie nicht mehr. Sie gehörten meinem Begleiter, der uns zusammen mit der Pantherin verließ.“
„Du lügst“, zischte Kretox. „Aber ich bringe die Wahrheit schon noch aus dir raus.“
„Und jetzt zu dir Elf.“ Er wandte sich Ephlor zu, der durch ihn hindurchsah, als sei er aus Luft. „Ich will den Elfenschatz, Gold, Juwelen, einfach alles. Jeder weiß, dass ihr Schätze besitzt. Du wirst mich und meine Männer ins Elfenland führen. Hast du mich verstanden?“
Ephlor sah mit steinernem Gesicht stumm an dem Kerl vorbei. Nur seine Sternenaugen funkelten kalt wie Eis. Menschen, dachte er verächtlich. Immer wieder bewahrheitet sich, was von Elfengeneration zu Elfengeneration über sie überliefert wird. Weshalb können sie nicht alle so anständig und ehrbar wie Karon sein?
Und was für ein Ansinnen! Kein Elf würde jemals einer solchen Aufforderung nachkommen, lieber würde er sterben. Menschen! Sie wissen nichts, aber auch gar nichts über uns.
„Bist du taub, Elf? Macht nichts. Dann wird die Frau es mir eben sagen. Bestimmt weiß sie es auch. Also?“
Samiras sah ihn groß an. „Ich habe überhaupt keine Ahnung wovon du sprichst. Was für ein Elfenland? Wo soll das sein? Ich habe noch nie davon gehört.“ Was dachte sich dieses primitive Individuum eigentlich? Von ihr würde er bestimmt nichts über die Elfenstadt Esdahl erfahren. Sie würde das Vertrauen der Elfen niemals missbrauchen, eher würde sie sich umbringen.
Kretox stieg die Zornesröte ins Gesicht, breitete sich aus und setzte seinen kahlen Schädel förmlich in Brand. Er schäumte fast vor Wut und sah aus, als würde er jeden Moment Funken sprühen.
Gleich trifft ihn der Schlag, dachte Hetzel. Schade wäre es um den Dreckskerl nicht.
„Sie wissen es! Sie wissen es bestimmt!“, keifte der Skorp. „Verdammt, Kretox, du musst es aus ihnen herausbringen. Wir brauchen den Schatz. Mein Volk hat dir schließlich nicht umsonst bei der Vernichtung Kaffras geholfen. Du hast uns dafür etwas versprochen und ich hoffe für dich, du hältst dich daran.“
Karon zuckte zusammen. Was sagte der Skorp da über Kaffra? Sie hatten es zerstört? Und was war mit den Menschen dort? Seine Kopfhaut zog sich vor Entsetzen zusammen als ihm plötzlich einfiel, dass die Skorps auch dem Kannibalismus frönten und selbst das Fleisch ihrer Verwandtschaft nicht verschmähten. Mein Gott, dachte er verstört, was ist aus meiner Familie geworden?
„Was ist los, Karon?“, fragte Ephlor leise. Doch sein Freund und Gefährte schüttelte nur den Kopf. Sprechen konnte er nicht, denn sein Hals war wie zugeschnürt. Er musste wissen, was mit seiner Familie passiert war, vorher würde er hier auf keinen Fall verschwinden!
Auch Samiras horchte auf, als der Name Kaffra fiel. Hatte ihr Karon nicht in der Todeswüste erzählt, er habe mit seinen Eltern, Bruder und Schwester in eben diesem Ort gelebt? Sie sah ihn an und wusste, dass ihre Erinnerung sie nicht trog. Gütiger Himmel! dachte auch sie; und die Erinnerung an die grausigen Essgewohnheiten der Skorps ließ sie frösteln.
„Reg dich ab, Iont“, zischte Kretox. „Sobald die Gefangenen unsere vielen lieben Freunde kennenlernen sprechen sie, das garantiere ich dir.“ Und an seine Leute gewandt: „Ab mit ihnen. Bringt sie zum See.“ Böse grinsend sah er ihnen hinterher.
Und noch tiefer ging es hinein in diesen Irrgarten aus Stollen, Korridoren und Höhlen.
„Ich habe ein ganz, ganz mulmiges Gefühl“, flüsterte Hetzel Samiras zu. „Ich hasse Wasser. Ich kann nämlich nicht schwimmen.“
„Wir sind da“, verkündete Kurt und blieb vor einer Öffnung in der Felswand stehen. „Nach dir, Süße“, grinste er und gab Samiras einen Schubs, der sie durch den niedrigen Durchgang taumeln ließ.
Penetrant modriger Gestank nach Altem, längst Vergangenem und nach etwas, dass sie nicht definieren konnten, schlug ihnen entgegen und drehte ihnen fast den Magen um.
Die Kerle stießen sie weiter, bis dicht an den Rand eines Sees, der die größte Fläche der riesigen Höhle einnahm. Mehrere Pfähle, zu denen schmale Holzstege führten, ragten aus dem spiegelglatten Wasser empor und sie fragten sich lieber erst gar nicht, was sie zu bedeuten hatten.
„Rein mit ihnen und bindet sie schön fest“, befahl Kretox, der zusammen mit dem Skorp eben die Höhle betrat. Grinsend sah er zu wie seine Spießgesellen Samiras und ihre Gefährten zu den Pfählen führten und sie zwangen, auf die daran angebrachten schmalen Plattformen zu steigen.
„Es ist ganz einfach, Süße“, feixte Kretox. „Da der Elf anscheinend die Sprache verloren hat, stelle ich dir eine Frage und wenn ich mit der Antwort nicht zufrieden bin, lässt Iont die Pfähle, die absenkbar sind, zusammen mit deinen Freunden jedes Mal ein Stückchen tiefer sinken, bis sie irgendwann fast unter der Wasseroberfläche verschwinden.
Ich sagte fast, denn meine ständig hungrigen Tierchen knabbern lieber an frischem, lebendigen Fleisch, als an Wasserleichen, verstehst du? Nein? Das kommt noch, wenn du meine hübschen Riesenkrabben und Krebse erst einmal siehst.
Aber ihr habt Glück. Ich habe nämlich noch etwas zu tun und gebe euch deshalb eine halbe Stunde, um euch mit meinen Lieblingen schon mal aus der Ferne anzufreunden. Danach komme ich zurück und wenn ihr dann noch immer nicht sprechen wollt ...“ Er machte eine Kunstpause und grinste sie an.
„Na ja, dann nimmt das Schicksal eben seinen Lauf. Meine Tierchen haben nämlich einen Riesenappetit. So, das war´s fürs Erste. Jetzt bist du dran, Iont.“
Der Skorp ging zu einem Felsblock, aus dem eine eiserne Kurbel ragte, legte seine Klauenhände darum und begann zu drehen. Zwei engmaschige Gitter stiegen vor dem See empor und rasteten knirschend in den dafür vorgesehenen Schienen ein. Als sie fest verankert waren ließ Iont die Kurbel los und ging zu einem roten Knopf, der sich wie ein dicker Blutstropfen von dem grauen Stein abhob.
„Und jetzt passt gut auf“, grinste Kretox.
Iont drückte auf den Kopf. Knarrend öffnete sich eine schwere Klappe im Felsgestein zwischen den Gittern und eine Flut von Krebstieren aller Art flutete unter- und übereinander in den etwa anderthalb Meter breiten Gang zwischen Wasser und Höhle. Riesige Hummer streckten ihre mächtigen Scheren den entsetzten Gefangenen entgegen, während nicht minder gefährliche Langusten versuchten durch das Gitter zum Wasser zu gelangen.
„Noch hält sie das Gitter von euch fern“, rief Kretox. „Doch sollten meine Fragen unbeantwortet bleiben ...“ Sein Schweigen sagte mehr als alle Worte. „Also dann. Eine halbe Stunde. Überlegt es euch gut.“
Er drehte sich um und verließ mit langen Schritten die Höhle. Seine Spießgesellen und der Skorp folgten ihm. Ihre Schritte entfernten sich schnell und waren schon bald verklungen.
Still war es. Nur das an den Nerven zerrende Aneinanderreiben chitingepanzerter Körper unterbrach die Totenstille.
Karon und Hetzel starrten entsetzt auf das Gewimmel hinter dem Gitter und die Furcht, das Getier könne zu ihnen gelangen, ließ sie wie von Sinnen an den Fesseln zerren, die tief in ihre Haut schnitten. Sie hatten sich niemals davor gefürchtet, in einem Kampf ihr Leben zu verlieren, doch die Vorstellung bei lebendigem Leib von diesen scheußlichen Viechern gefressen zu werden, raubte ihnen fast den Verstand.
Ephlor schien sich entweder nicht zu fürchten, was beim Anblick des Krebstiergewimmels ungewöhnlich gewesen wäre, oder sein Stolz ließ nicht zu, dass seine Gefährten es merkten. Er hing mit unbewegtem Gesicht in seinen Fesseln und sah Samiras aus seinen glänzenden Sternenaugen unverwandt an.
Diese beobachtete besorgt Hetzels und Karons fruchtlose Bemühungen sich zu befreien. Sie zogen sich nur unnötige Verletzungen zu und verloren kostbare Zeit, die sie dringend für ihre Flucht benötigten. Denn fliehen würden sie!
„Hört auf an euren Fesseln zu zerren, das bringt doch nichts“, rief sie. Und als die beiden nicht reagierten: „Verdammt noch mal, Karon! Hetzel! Wir müssen hier sofort raus!“
„Sag es ihnen, Samiras. Es wird ihre Einstellung zu dir gewiss nicht verändern“, sagte Ephlor leise.
„Du weißt?“
Er nickte. „Beruna hat es mir gesagt. Ihr bleibt kaum etwas verborgen. Sie hat es von Anfang an in dir gespürt.“
„Was soll sie uns sagen?“, fragte Karon.
„Dass ich uns befreien kann, indem ich mich in eine Schlange verwandle“, erwiderte sie leise.
Karon starrte sie mit offenem Mund sprachlos an. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“
„Mein voller Ernst.“
„Aber die Fesseln. Wie sollen wir die verdammten Fesseln loswerden?“, fragte Hetzel. „Schließlich haben Schlangen keine Hände, oder?“
„Aber manchmal Zungen mit ganz besonderen Eigenschaften“, lächelte Samiras. „So, und jetzt macht euch bereit.“ Sie konzentrierte sich, versank in sich, fand ihr anderes Ich und verwandelte sich ein weiteres Mal.
Ihr graziler Schlangenkörper wand sich mühelos aus den Fesseln und glitt geschmeidig auf ihre Gefährten zu. Unter ihrer gespaltenen Zunge zerfielen die Fesseln zu Staub. Ihre Gefährten waren frei. Sofort glitt sie zu einem der Holzstege. Als sie sich hinaufschwang, hatte sie ihre normale Gestalt bereits wieder angenommen.
Hetzel stapfte mit blassem Gesicht, in dem noch immer deutlich die Furcht vor dem Wasser geschrieben stand, auf sie zu. „Du bist die schönste Schlange der Welt“, flüsterte er und drückte dankbar ihre Hand.
„Das ist unglaublich“, sagte Karon verwirrt. „Doch ich bin ganz deiner Meinung, Hetzel. Sie ist als Schlange ebenso schön wie als Frau.“
Ephlor lächelte nur.
„Und wie kommen wir jetzt an den Mistviechern vorbei, ohne dass sie uns verspeisen?“, fragte Hetzel und schüttelte sich.
Da nahte wieder einmal Hilfe in Gestalt der Pantherin, die als dunkler Schatten im Eingang auftauchte.
„Sag ihnen, sie sollen zur Seite gehen, Samiras. Ich brenne euch den Weg frei“, befahl sie und ihre goldenen Augen begannen zu glühen.
Sie sprangen beiseite. Sekunden später war alles vorbei, und der Gestank nach verkohlten Krebstieren verpestete die Luft und nahm ihnen den Atem. Hastig kletterten sie über das Gitter.
„Wo ist Danina?“, fragte Samiras. Doch die Pantherin hatte die Höhle bereits wieder verlassen.
„Das habt ihr euch so gedacht“, sagte Kurt, der plötzlich im Eingang der Höhle auftauchte und mit der Armbrust auf sie zielte. „Dabei wollte ich nur mal nach der Süßen sehen“, grinste er dreckig.
„Wolltet also einfach so abhau´n. Gar nicht nett von euch. Das wird Kretox bestimmt nicht gefallen. Und dann habt ihr auch noch seine lieben Tierchen verschmort. Würde mich interessieren wie ihr das gemacht habt? Ach, ihr wollt es mir nicht sagen. Auch gut, dann eben nicht.“
Sie antworteten nicht. Aber Samiras schickte einen Hilferuf an Danina hinaus.
Und Karon starrte wie hypnotisiert auf die beiden Ringe, die an einem Lederband auf Kurts Brust hingen. Es waren zwei in sich verschlungene, ringförmige Gebilde mit einem Achat in der Mitte, in den ein herzförmiger Rubin eingearbeitet war. Ausgesprochen ungewöhnliche Schmuckstücke für so einen Halunken.
„Was glotzt du so blöde?“, pöbelte Kurt. Die Armbrust beschrieb einen Bogen und zielte jetzt auf Karons Brust.
„Woher hast du die Ringe?“, flüsterte Karon mit steinernem Gesicht.
Kurt grinste verschlagen. „Schöne Stücke nich´?“
„Woher hast du sie?“
„Ein Geschenk. Hat mir ´n nettes Ehepaar geschenkt.“
„In Kaffra?“
„Was? Woher weißt du ...“
Aus dem Stand heraus hechtete Karon auf ihn zu. Der Bolzenschuss, der sich noch aus der Armbrust löste, verfehlte ihn nur um Haaresbreite. In einem Wirbel aus Armen und Beinen stürzten die beiden Männer zu Boden, und die Armbrust flog im hohen Bogen davon. Karon rollte sich geschmeidig ab, sprang auf die Beine und stellte seinen Fuß auf Kurts Kehlkopf, der ihn aus hervorquellenden Augen entsetzt anstarrte.
„Antworte, Kerl, oder du hast einen Kehlkopf gehabt. Also: Woher hast du die Ringe?“
„Au...aus Ka...Kaffra“, stammelte Kurt kreidebleich vor Angst. Er konnte zwar austeilen, aber nicht einstecken, konnte es nicht ertragen, der Unterlegene zu sein. Dieser Mann da über ihm machte ihm Angst, flößte ihm Furcht ein wie noch niemals jemand zuvor. Und er meinte es ernst mit seiner Drohung, dass verriet der eisige Blick seiner gletscherblauen Augen.
„Vo...von Toten“, flüsterte er.
„Hast du sie ihnen gestohlen?“
Kurt nickte. „Sie – sie brauchten sie doch nicht mehr.“
Karon biss die Zähne so hart zusammen, dass sie knirschten. „Was ist in Kaffra passiert?“ Und als Kurt nicht gleich antwortete trat er ihm so hart in die Rippen, dass es knirschte.
„Also?“
„Karon, wir müssen hier verschwinden“, mahnte Hetzel.
Doch dieser wischte die Aufforderung mit einer knappen Handbewegung fort.
„Du hast mir die Rippen gebrochen“, stöhnte Kurt.
„Ich breche dir gleich noch was ganz anderes, wenn du nicht augenblicklich sprichst. Also?“
„Kretox hatte dort noch alte Rechnungen offen. Die Skorps und wir halfen ihm, sie zu begleichen.“
„Was ist aus den Menschen dort geworden?“
Kurt senkte furchtsam den Blick. „Sie sind alle tot“, flüsterte er. „Die – die Skorps haben ...“, er verstummte unter Karons mörderischem Blick.
„Tu es nicht, Karon. Er ist es nicht wert“, sagte Samiras und nahm seine Hand.
Er sah sie aus schmerzumflorten Augen an. „Meine Eltern, meine Schwester, mein Bruder“, flüsterte er.
„Ich weiß“, hauchte sie. „Komm.“
Er zog den Fuß von Kurts Gurgel zurück und bückte sich. Mit einem Ruck riss er ihm das Lederband vom Hals. Den größeren Ring schob er auf seinen Finger, den kleineren steckte er ein. Das Lederband warf er fort. Dann ließ er sich wie ein Kind von Samiras wegführen.
„Du Mistkerl“, kreischte Kurt hinter ihm und zog blitzschnell ein Messer aus dem Stiefelschaft. Seine Hand mit dem zum Wurf bereiten Messer fuhr hoch. Alles ging so schnell, dass Hetzel und Ephlor viel zu spät reagierten. Sie hätten den hinterhältigen Anschlag nicht verhindern können.
Da tauchte Danina im Eingang auf und erkannte die Karon drohende Gefahr. Mit explosionsartiger Wucht stieß sie sich aus dem Stand heraus mit den muskulösen Hinterbeinen ab. Ihre langen Reißzähne funkelten und ihre goldenen Augen glühten in dem keilförmigen, schwarzen Kopf, als sie wie ein Pfeil durch die Luft auf den hinterhältigen Attentäter zuflog. Ihre starken Kiefer schlossen sich um den Messerarm. Es knackte fürchterlich. Der heimtückische Mörder brach schreiend zusammen und umklammerte wimmernd seinen leeren Ärmel.
„Ich hasse das“, murrte Danina. „Auch so ein menschlicher Aberglaube, dass Raubkatzen Menschenfleisch mögen. Damit kann man sich ja glatt vergiften“, knurrte sie und wischte ihren Bart an seiner Hose ab, bevor sie die Höhle verließ.
„Lasst uns bloß endlich von hier abhauen“, drängte Hetzel und rannte der Pantherin hinterher, die ein höllisches Tempo vorlegte.
„Wo will sie hin?“, keuchte Ephlor völlig außer Atem.
„Sie weiß, wo unsere Waffen sind“, erwiderte Samiras.
Danina flitzte wie ein schwarzer Blitz durch Gänge und Höhlen und Samiras und ihre Freunde jagten ihr keuchend hinterher. Endlich sahen sie vor sich Licht. Der Ausgang! Lange hätten sie Daninas Tempo nicht mehr durchhalten können.
In einer Nische fanden sie ihre Waffen und anderen Sachen – und davor lagen zwei tote Wachposten.
„Musste das sein?“, fragte Samiras.
„Natürlich, sonst hätte ich es ja wohl nicht getan“, brummte Danina beleidigt und ließ sie stehen.
Sie hatten Glück. Neben dem Eingang zur Mine warteten noch immer ihre gesattelten Pferde und neben ihnen Lestopoktus in Gestalt eines stolzen Adlers gemeinsam mit Mawi. Sie saßen auf und ritten davon. In sicherer Entfernung zügelte Samiras ihr Pferd.
„Irgendwie kann ich es noch immer nicht fassen, was dieses zarte Persönchen so alles anstellt“, grummelte Hetzel.
Samiras richtete die geballte Kraft ihrer Gedanken auf den Felsen über dem Eingang und konzentrierte sich so vollkommen auf den Wunsch ihn zu zerstören, dass alles um sie herum versank. Und wie damals bei Mawis Rettung zersprang der Felsen in einer ohrenbetäubenden Explosion. Der Zugang zur Mine war versperrt, begraben unter tonnenschwerem Felsgestein.
„Die sind wir los“, sagte Danina. „Ihre Pferde habe ich nämlich in alle vier Himmelsrichtungen davongejagt.“