Читать книгу Der Perlmuttbaum - Bärbel Junker - Страница 9

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STURM IM GEBIRGE

Beim ersten Licht des neuen Tages erhob sich Samiras leise von ihrem Lager. Sie war froh, dass die anderen noch schliefen, denn sie wollte sich allein von dem alten Ginkgobaum verabschieden. Als sie dann unter seinen starken, dicht belaubten Zweigen stand, fühlte sie sich so sicher und beschützt, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb.

Sie lehnte sich gegen den mächtigen Stamm und streichelte sanft die rissige Borke, Zeichen seines hohen Alters und der Unwetter, die seit Jahrhunderten ihre Spuren hinterlassen hatten. „Pass gut auf dich auf, mein Freund“, sagte Samiras weich. „Ich werde dich niemals vergessen.“

Und der alte Baum erkannte sie und spürte ihre Zuneigung. Er wusste, dass sie es gewesen war, die ihn wiedererweckte. Er war ihr so dankbar und teilte es ihr auf seine Weise mit. Seine Zweige senkten sich zu ihr hernieder, umfingen sie zärtlich, wanden ein Meer aus Blättern um sie herum, einen grünen Umhang aus Rauschen und Wispern, die sanften Klänge einer zauberhaften Baummelodie. Nach einer Weile richteten sich die Zweige wieder auf und bewegten sich sacht im Takt einer leichten Brise.

Nimm ein Blatt von mir mit und jeder Wald wird sich vor dir öffnen“, wisperte es hinter ihrer Stirn. „Es ist mein Geschenk an dich „Frau zwischen den Zeiten“. „Hüte es gut. Es wird dir noch nützen.“

Ganz vorsichtig löste sie eines der fächerförmigen Blätter von dem Zweig, der sich ihr wie in einer Verbeugung zuwandte und steckte es ein. „Ich danke dir“, flüsterte sie, „Doch wieso nennst du mich „Frau zwischen den Zeiten“?

Weil es der Name ist, der alles Wissen um dich enthält. Bald wirst du verstehen. Doch jetzt geh und vergiss mich und meine Brüder nicht.“

Ein letztes Mal streichelte sie voller Zuneigung den einstmals versteinerten Ginkgo-Baum, dann drehte sie sich um und ging zurück zu ihren Gefährten, die bereits auf sie warteten. Nachdem sie gefrühstückt hatten, ritten sie dem Fluss folgend in nördlicher Richtung weiter.

Es war ein freundlicher Tag. Die Sonne sandte leuchtende Strahlen durch das Dach aus Laub, Ästen und Zweigen und malte filigrane Schatten auf Blätter und Büsche. Der Fluss murmelte leise vor sich hin. Wellen schwappten träge an das mit Blumen bewachsene Ufer. Sie ritten stumm und hingen ihren Gedanken nach.

Karon dachte mit einem unguten Gefühl an die Stadt Zophtarr, eine Handelsstadt, in der Korruption und Übergriffe auf die Bevölkerung an der Tagesordnung waren, seitdem der fette Bürgermeister Eric van Danken die Macht übernommen hatte. Der gesamte Stadtrat tanzte nach seiner Pfeife und bereicherte sich ebenso schamlos, wie ihr Chef es ihnen vorlebte. Sie würden sehr vorsichtig sein müssen, wollten sie heil aus diesem Sündenpfuhl wieder herauskommen.

Hetzel wäre lieber wieder durch die Todeswüste gestapft, als in eine Stadt voller Menschen zu reiten. Er wusste sich einig mit dem Elfenkönig, der sich bei dem Gedanken, was da in Zophtarr auf sie zukam, förmlich schüttelte. Ihm hatten Kretox und seine Kumpane gereicht.

Selbst aus dem großen Krieg hatte die Menschheit anscheinend nichts gelernt. Nicht umsonst hatte das Böse in ihrer gerade gesundenden Welt erneut Fuß fassen können. Es war wie von jeher: Das Elfenvolk könnte auf die Menschen wahrlich verzichten! Von ihnen kam nichts Gutes, das bewahrheitete sich immer wieder aufs Neue. Sie würden es nie lernen! Bis auf einige wenige wie Karon.

„Wir müssen den Wald bald verlassen“, sagte Karon in ihre Gedanken und Befürchtungen hinein. „Wir geraten sonst zu weit östlich.“

Nachmittags war es dann soweit. Langsam ritten sie auf die dichte Wand aus Bäumen und Büschen zu. Als sie dicht davor waren, strich ein Seufzen durch die Wipfel und pflanzte sich in Windeseile von Baum zu Baum fort. Äste und Zweige schwangen beiseite und eine Schneise tat sich vor ihnen auf, an deren Ende helles Tageslicht schimmerte. Der Wald öffnete sich wie vorhergesagt vor ihnen und ließ sie hindurch. Mit einem Gefühl des Bedauerns verließen sie ihn und setzten ihren Weg fort.

Bei Einbruch der Dämmerung machten sie Halt und suchten nach einem geschützten Platz für ihr Nachtlager. Sie fanden ihn unter einem Felsvorsprung, der sich wie ein natürliches Dach aus den Felsen des Lawar-Gebirgsmassivs schob, welches zwischen ihnen und der Stadt Zophtarr lag.

Karon würde sie sicher hindurchführen. Er kannte einen gut begehbaren Weg für Mensch und Tier, für den sie bei gutem Wetter nur einen Tagesmarsch brauchen würden.

„Drücken wir die Daumen, dass es trocken bleibt“, sagte er. Dann rollte er sich in seine Decke und war wenig später eingeschlafen.

Nach einer ruhigen und ungestörten Nacht, die ihnen neue Kraft schenkte, begrüßten sie frohen Mutes den neuen Tag.

„Was meint ihr. Ob uns Kretox und seine Leute wohl immer noch suchen?“, fragte Samiras, als sie die Pferde sattelten.

„Schon möglich“, meinte Hetzel. „Aber in den Wald kommen sie nicht hinein. Sie werden um ihn herumreiten müssen, und das kostet Zeit. Ich glaube nicht, dass wir ihnen noch mal begegnen werden.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, sagte Ephlor leise. „Die menschliche Gier ist eine unerhörte, nicht zu unterschätzende Triebfeder. So leicht geben die bestimmt nicht auf.“

Sie schoben die bösen Erinnerungen an ihre Gefangenschaft in der Mine beiseite und konzentrierten sich lieber auf das, was vor ihnen lag. Was würde ihnen die Zukunft bringen? Würden sie den Gnomen Urselik in Zophtarr finden? Sie mussten, denn sie hatten keine Wahl.

Er war im Besitz der Augen von Czolisade, der Schlangenstatue in Preleida, die sie für das Gelingen ihrer Mission brauchten, obwohl sie nicht verstanden, was daran wichtig sein sollte, dass die Statue ihre Augen zurückbekam.

Trotzdem mussten sie dafür sorgen, wenn sie nicht scheitern wollten. Niemand hatte ihnen das gesagt und trotzdem war es allen klar. Doch zuerst einmal mussten sie das Gebirge hinter sich bringen. Alles Weitere würde sich dann finden. Also saßen sie auf und ritten los.

Und der schiefergraue Sperber flog hoch über ihnen und wachte über sie. Lestopoktus würde sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Noch einmal würden sie nicht in eine Falle tappen. Der Vorfall in der Mine und die Angst um seine Schwester und die Gefährten würde ihm eine Lehre sein. Mit scharfen Augen spähend zog er beständig seine Kreise. Nichts entging ihm, nicht einmal die winzigste Maus.

Der Tag schritt voran, und der Weg begann sanft, aber stetig anzusteigen. Gegen Mittag machten sie Rast und gönnten sich und ihren Pferden eine Ruhepause. Danach ritten sie noch etwa eine Stunde weiter. Kurz darauf mussten sie absitzen und die Pferde am Halfter führen, weil sich der Pfad mehr und mehr verengte. Schließlich wurde er so eng, dass sie beim Gehen die Felswände rechts und links von ihnen streiften.

Und dann bezog sich auch noch der Himmel und es frischte auf.

„Das könnte verdammt übel werden“, sagte Karon besorgt. „Mit Gewittern in den Bergen ist nicht zu spaßen. Beeilt euch. Nicht weit von hier ist eine Höhle, in der wir Unterschlupf finden, bis das Unwetter vorüber ist.“

Samiras´ Augen suchten Danina. Doch von der Pantherin war nichts zu sehen. Bis sich der Pfad zu einem Schlauch verengt hatte, war sie neben ihr gegangen, doch seit einer Weile war sie verschwunden, um die Gegend zu erkunden. Und erst jetzt fiel Samiras auf, das keines der Pferde jemals scheute, wenn Danina in ihre Nähe kam. Sie musste die sensiblen Tiere davon überzeugt haben, dass ihnen durch sie keine Gefahr drohte.

„Beeil dich ein bisschen“, knurrte Hetzel hinter ihr. „Ich möchte im Trocknen sein, bevor es anfängt zu regnen. Ich finde, es ist schon jetzt ziemlich ungemütlich.“

Samiras trieb Akazie an. In ihre Gedanken versunken war sie immer langsamer geworden. Sie zog ihren Umhang enger um sich und die Kapuze tiefer ins Gesicht. Der Zwerg hatte recht. Mit dem immer stärker werdenden Wind war es empfindlich kühl geworden. Sie schaute besorgt zum grauen Himmel empor.

Doch von dem Sperber war nichts zu sehen. Hatte Lestopoktus sich in Sicherheit gebracht? Das hat er bestimmt, beruhigte sie sich. Schließlich geriet er nicht zum ersten Mal in einen Vogel verwandelt in ein Unwetter.

Und dann schafften sie es doch nicht mehr, die Höhle trocken zu erreichen. Von einer Minute auf die andere wurde es Nacht. Dichte Regenwände bauten sich vor ihnen auf. Ein eisiger Wind pfiff ihnen um die Ohren. Und dann prasselte die eisige Flüssigkeit erbarmungslos auf sie herab. Hätten sie nicht ihre von den Elfen gefertigten Umhänge gehabt, wären sie binnen Sekunden nass bis auf die Haut geworden.

Karon raffte seinen grauen Umhang fester um sich und dachte dankbar an die Zauberin Beruna, die ihm ihren eigenen beim Abschied in der Todeswüste geschenkt hatte. Er wusste, sie mussten so schnell wie möglich die Höhle erreichen. Nicht mehr lange, und der Weg würde so glatt wie Schmierseife sein. Eine Riesengefahr, besonders für die Pferde.

Sie stemmten sich mit aller Kraft gegen den Wind, der mittlerweile zum Sturm ausgeartet war. Regenböen peitschten ihnen ins Gesicht. Die wütenden Hiebe des Sturms machten ihnen das Vorankommen schwer.

Und dann tauchte endlich die Höhle vor ihnen auf. Und in ihrem Eingang warteten Danina und Lestopoktus auf sie.

„So ein verdammtes Sauwetter“, schimpfte Hetzel und schüttelte seinen Umhang aus, dass die Wassertropfen flogen.

Ephlor, der stets gelassene Elfenkönig, schüttelte lächelnd den Kopf und begann sein Pferd abzureiben. Er schätzte Hetzel sehr und tolerierte dessen raue Art, denn das Zwergen- und das Elfenvolk hatten sich von jeher gut verstanden und sich so manches Mal in der Vergangenheit gegen Feinde unterstützt.

Erst als ihre Pferde abgerieben und mit Wasser und Futter versorgt waren, wandten sie sich ihren eigenen Bedürfnissen zu. Nachdem sie in einer Ecke der geräumigen Höhle Reisig und dicke Holzscheite für ein Feuer gefunden hatten und jeder von ihnen einen Becher mit Hetzels Spezialkaffee in Händen hielt, sah das Leben schon wieder viel angenehmer aus. Mochte der Sturm draußen toben. Hier drinnen war es warm und das Feuer verbreitete anheimelndes Licht. Ihre Kleidung trocknete bereits wieder und gegessen hatten sie auch, was wollten sie mehr. Zufrieden hingen sie ihren Gedanken nach.

„Was sind das für weiße Zweige da drüben?“, fragte Samiras und zeigte auf einen kleinen Stapel, der ziemlich versteckt in einer Ecke aufgeschichtet lag und der bislang keinem von ihnen aufgefallen war. Doch Samiras´ scharfen Augen entging so leicht nichts. „Eigentlich erstaunlich, dass sie sich noch nicht verfärbt haben.“

Karon stand auf und ging zu der Ecke hinüber. Er bückte sich und nahm einen der Zweige in die Hand. „Verdammt!“, keuchte er und ließ ihn erschrocken fallen.

„Was ist damit?“

„Es sind Knochen, Menschenknochen!“

Sie sahen sich erschrocken an.

„Und wie kommen die hierher?“, fragte Hetzel. Er stand auf und ging zu Karon hinüber. „Was ist denn das?“, murmelte er. Er bückte sich und zog unter dem Knochenstapel eine abgerundete, polierte Holzplatte hervor. Es war die Hälfte eines Schilds mit einem Emblem in der linken Ecke.

„Das ist ein Ork-Schild mit einem Clan-Symbol darauf“, sagte Karon. „Die haben sich hier anscheinend an einigen Gefangenen gütlich getan.“

Ephlors Augenbrauen schnellten empor, sodass sie zwei steile Winkel bildeten. „Orks?“, fragte er und griff nach seinem Bogen aus Eschenholz. „Bist du sicher?“ Und als Karon nickte. „Ein übles Gesindel.“

„Du meinst, sie haben hier Menschen verspeist?“, fragte Samiras schockiert.

„Ja. Aber den Knochen nach zu urteilen, dürfte das wohl schon eine ganze Weile her sein“, beruhigte Karon sie. „Die sind schon lange über alle Berge. In dieser Gegend gibt es keine Orks.“

„Sie sollen sich südöstlich im Utama-Gebirge angesiedelt haben“, sagte Hetzel. „Weißt du mehr darüber, Ephlor?“

„Nein. Ich weiß nur, dass Orks nun wirklich das Allerletzte sind. Sie sind hässlich und schmutzig, stinken wie die Pest und fressen alles, was ihnen unter ihre widerlichen Schweineschnauzen kommt. Dazu noch ihr miserabler Charakter. Ich weiß wirklich nicht, warum es diese schreckliche Brut überhaupt gibt.“ Er schüttelte sich.

„Da wir ja wohl die Nacht hier verbringen müssen, schlage ich vor, wir schaffen zuerst einmal die Knochen hier raus“, sagte Samiras schaudernd und stand auf.

„Lass man, ich mach das schon“, sagte Karon, der ihr Unbehagen spürte. Hetzel packte mit an. Kurze Zeit später, war der Knochenhaufen verschwunden und Samiras atmete auf.

Eine Weile saßen sie noch zusammen, doch dann machten sich die Strapazen der vergangenen Stunden bemerkbar. Sie wickelten sich in ihre Decken und schliefen trotz des draußen tobenden Unwetters schon bald ein.

Der Perlmuttbaum

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