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EIN TOTER

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„Behalten Sie Ihre Jacke gleich an, Benno“, sagte Kriminalhauptkommissar Felix Heckert, fünfundfünfzig Jahre alt, mittelgroß, gepflegte Erscheinung, etwas untersetzt, kurzes graumeliertes Haar, intelligente graue Augen.

„Wir müssen nach Eichenwalde. Dort hat man den Chef der Polizeiwache umgebracht. Man hat uns um Hilfe gebeten. Unser Team ist bereits dort. Sie fahren.“

Das war für den morgens eher wortkargen Hauptkommissar Heckert eine ungewöhnlich lange Rede.

„Hoffentlich ist das diesmal ein einfacherer Fall als die letzten Male“, wünschte Kommissar Benno Schuster.

„Ja, Benno, das hoffe ich auch“, erwiderte Heckert. Er zog seine Jacke an und ging zur Tür.

„Ich kenne Eichenwalde recht gut“, sagte Kommissar Schuster auf der Fahrt. „Eine hübsche kleine Stadt, mit urigen Fachwerkhäusern und im Grünen gelegen. Man sollte meinen, dass in solchen Gegenden keine Gewaltverbrechen begangen werden.“

„Und doch ist es leider so. Heute ist kein Ort und keine Stadt mehr davor sicher. In den Großstädten ist es schon aufgrund der vielen Menschen weitaus schlimmer, aber die Gewalt nimmt überall zu. Es ist ein Teufelskreis“, erwiderte Kommissar Heckert.

Benno Schuster nickte ernst.

„Das ist wirklich eine schöne Gegend, Benno“, sagte Heckert, als sie an den Wiesen, Weiden und kleinen Wäldern vorbeifuhren. „Wirklich kaum zu fassen, dass sogar hier Polizisten umgebracht werden.“

Als sie wenig später vor der Polizeistation eintrafen, empfing sie außer den Kollegen eine kleine Menge von etwa zwanzig Personen, die sich heftig miteinander diskutierend nicht weit entfernt von der Wache eingefunden hatten.

Die beiden Kommissare gingen wortlos an ihnen vorbei. Sie waren mittlerweile an Neugierige gewöhnt und hatten gelernt, sie nicht zu beachten.

Aber besonders Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte hatten unter den sensationslüsternen Mitbürgern immer stärker zu leiden. Wurden sie von den Neugierigen behindert, konnte das sogar Leben kosten.

Sie wiesen sich bei dem vor der Eingangstür stehenden Polizisten aus und betraten die Wache, nachdem sie sich dünne Handschuhe übergestreift hatten. Der Rechtsmediziner Dr. Eugen Roth empfing sie schon an der Tür und begrüßte sie.

„Woran ist er gestorben?“, fragte Heckert in seiner direkten Art.

„Sie werden es kaum glauben, Felix, aber der Mann ist ertrunken“, erwiderte der Arzt.

„Ertrunken? Und wie ertrinkt man am Schreibtisch? Das ist ja mal ganz was Neues“, sagte Heckert verblüfft.

Der Mediziner lachte. „Ganz so war es natürlich nicht“, erwiderte er. „Aber ich denke, unser Spurensicherungsgenie wird es Ihnen weitaus besser erklären können als ich.“

„Danke für die Blumen, Doc“, sagte Olaf Breitner lässig, der nicht weit entfernt von ihnen wartete. Er trat näher an Heckert heran.

„Dr. Roth sagt, der Tote sei ertrunken. Was können Sie mir dazu sagen, Olaf?“, ging Kommissar Heckert wie stets direkt und ohne Umschweife auf sein Ziel los.

„Also, das muss folgendermaßen abgelaufen sein, Chef. Der Täter und der Polizist Theo Neumann standen wohl am Tresen und unterhielten sich. Dann muss der Täter Neumann plötzlich angegriffen und einen Elektroschocker auf die Hand gepresst haben. Die Brandspuren sind deutlich zu erkennen.

Neumann ging zu Boden.

Der Täter schleifte sein bewusstloses Opfer an den Füßen zum Waschraum. Hier betäubte er ihn ein zweites Mal mit dem Schocker, diesmal am Hals. Dann richtete er den Bewusstlosen oder Erstarrten oder in welchem Zustand er sich auch befunden haben mag so weit auf, dass er dessen Gesicht in das Wasser pressen konnte, welches er vorher hatte ins Becken laufen lassen.

Der Getötete hatte keine Chance.

Er ertrank.

Danach machte sich der Täter die Mühe und schleifte den Toten wieder zurück in den Wachraum, setzte ihn auf den Stuhl vor dessen Schreibtisch und fixierte seinen Oberkörper mit einer Schnur, damit er nicht herunterfiel.

Und das war’s.

Danach verließ er die Polizeistation und verschwand“, beendete Olaf Breitner seine Ausführungen.

„Danke, Olaf. Habt ihr sonst noch irgendetwas gefunden, was uns weiterhelfen könnte?“, fragte Heckert.

„Ja, Chef, das haben wir. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“

Die beiden Kommissare folgten Breitner neugierig. Dieser führte sie zu dem Schreibtisch, wo der Tote gesessen hatte, bis er abgeholt und in die Gerichtsmedizin gebracht worden war.

„Dieser Zettel lag zusammengefaltet unter dem kleinen Telefon.“

„Für die Polizei“, las Heckert laut.

„Wir haben beides noch nicht angerührt“, erklärte Olaf Breitner, ein ganz außergewöhnlich talentierter junger Spurensicherungsspezialist.

„Und wer hat den Toten gefunden?“, wollte Heckert wissen.

„Der Polizist Kurt Lehmann. Er fand ihn aber erst heute Morgen, obwohl er gestern von zweiundzwanzig Uhr bis sechs Uhr morgens eigentlich Dienst gehabt hätte.

Er sagt, das Replikat sei ein genaues Abbild des Telefons, das jahrelang auf Neumanns Schreibtisch und davor auf dem seines Vaters stand. Es wurde vor einiger Zeit gestohlen.“

„Schon seltsam. Wer klaut denn heute noch ein so altes, antiquiertes Telefon?“, fragte Benno Schuster kopfschüttelnd.

„Wieso erschien dieser Lehmann nicht zum Dienst, Olaf?“, wollte Heckert wissen.

„Er war in einen Unfall verwickelt und verbrachte die Nacht im Krankenhaus, das hat er jedenfalls gesagt.“

„Dann war die Wache praktisch die ganze Nacht über unbewacht und stand für jeden offen.“

„Das ist richtig“, erwiderte Olaf Breitner. „Allerdings muss es von außen so ausgesehen haben, als säße ein Wachhabender an seinem Schreibtisch.“

„Und was steht auf dem Zettel?“

„Lesen Sie selbst, Chef. Wir wollten Ihnen da nicht vorgreifen“, erwiderte Breitner und reichte ihm das Blatt Papier.

Kommissar Heckert faltete es auseinander und las:

Das kleine Telefon soll an ein Verbrechen erinnern, das vor fünf Jahren in Eichenwalde begangen und bis heute nicht gesühnt wurde.

„Na, das fängt ja gut an“, seufzte Heckert. „Jetzt haben wir schon gleich am Anfang einen Mord in der Gegenwart, der wegen eines Verbrechens in der Vergangenheit begangen wurde.

Wie Sie unterwegs schon sagten, Benno. Es wäre schön, endlich mal wieder einen ganz normalen, simplen Mordfall aufzuklären.“

„Möchten Sie die Wachmannschaft noch sprechen, Chef?“, wollte Benno Schuster wissen.

„Ja, wo sind sie?“

„Sie warten im Vernehmungszimmer darauf, ihre Arbeit anzutreten“, erwiderte Benno.

„Haben Sie eine Ahnung, in welchem Krankenhaus dieser Kurt Lehmann war?“

„Ja, Chef.“

„Gut, dann rufen Sie bitte an. Ich möchte wissen, ob er wirklich die ganze Nacht dort zugebracht hat und aus welchem Grund. Sehen Sie zu, dass Sie jemanden zum Sprechen bringen“, bat Heckert.

Benno nickte.

„Ich spreche jetzt erstmal mit den vier Polizisten“, sagte Heckert und machte sich auf den Weg.

Als Heckert das Zimmer betrat in dem die Polizisten warteten, verstummte die vorher angeregte Unterhaltung auf einen Schlag. Vier Augenpaare musterten den Hauptkommissar gespannt.

Nachdem dieser sich bekannt gemacht und sein Bedauern über den Tod ihres Vorgesetzten ausgedrückt hatte, setzte er für die Übergangszeit den Polizisten Wolfgang Klein als Leiter der Polizeiwache ein.

Diese Maßnahme war für die weitere reibungslose Arbeit der Polizeiwache außerordentlich wichtig. Einer musste die Verantwortung übernehmen und Wolfgang Klein war seiner Personalakte nach, der Geeignetste der vier Polizisten.

Nachdem die Ermittlungsteams wieder abgezogen waren und die Polizisten ihren üblichen Aufgaben nachgingen, machte sich Heckert auf die Suche nach Benno. Er fand ihn im Gespräch mit Bodo Krause, einem der vier sich im Dienst befindlichen Polizisten. Heckert verließ das Polizeirevier und wartete vor der Tür auf seinen Kollegen.

Kommissar Schuster ließ nicht lange auf sich warten. „Kurt Lehmann hat die Nacht tatsächlich im Krankenhaus verbracht“, berichtete er. „Es bestand der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung. Die Ärzte wollten sichergehen und behielten ihn vorsorglich über Nacht dort“, fügte Benno hinzu. „War nicht einfach, diese Auskunft am Telefon zu erhalten.“

Heckert lachte. „Das weiß ich doch. Aber Sie machen das schon, Benno. Da verlasse ich mich ganz auf Sie“, sagte er anerkennend.

Benno wirkte zwar ein wenig verlegen über das Lob, aber er freute sich darüber.

„Und wie geht es jetzt weiter, Chef? Fahren wir zurück?“

„Für heute ja. Ab morgen bleiben wir jedoch einige Tage in Eichenwalde. Wir hören uns dort erst mal um. Ich habe bereits zwei Zimmer im Hotel Sonnenhof reservieren lassen. Packen Sie also das Nötigste für ein paar Tage ein“, sagte Heckert.

„Sie meinen, wir finden vor Ort etwas heraus?“

„Aufgrund des Zettels hoffe ich es. Danach scheint der Mord an Theo Neumann ein Racheakt gewesen zu sein. Es sei denn, der Täter versucht uns auf eine falsche Spur zu locken. Aber wenn nicht, dann müsste meiner Meinung nach das Motiv für das Verbrechen in Eichenwalde zu finden sein“, erwiderte Heckert. „Und als erstes sollten wir uns intensiv mit Theo Neumanns Vergangenheit beschäftigen.“

„Sobald wir zurück in Hamburg sind, stelle ich alles zusammen, was ich über Theo Neumann finden kann“, versprach Benno.

„Tun Sie das, Benno. Ich hoffe nur, dass dieser Polizist Neumann eine saubere Weste hat und nicht in etwas Ungesetzliches verwickelt war, denn so etwas schadet dem Ansehen der Polizei immer ungemein.“

„Ja, Chef, das wäre ein gefundenes Fressen für die Presse.“

Späte Rache

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