Читать книгу Späte Rache - Bärbel Junker - Страница 9
DUNKLE VERGANGENHEIT
ОглавлениеRebecca Mornay, Pfarrerin in Eichenwalde, musterte befremdet das kleine Telefon, welches morgens mit der Post gekommen war. Eine kleine Karte war beigefügt. Nur wenige Worte standen darauf:
ERINNERE DICH!
„Was soll der Unsinn?“, murmelte die Pfarrerin. „Woran soll mich wohl ein Telefon erinnern? Wer kommt denn auf eine so dumme Idee? Aber irgendeinen Grund muss dieser Schwachsinn ja wohl haben.“
Sie sah das kleine schwarze Telefon nachdenklich an.
Da schellte es an der Haustür und schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie ging zur Tür und öffnete.
„Was willst du denn hier? Müsstest du nicht in deiner Buchhandlung sein?“, fragte sie ihre blonde Besucherin überrascht.
Birgit Schramm umarmte ihre Freundin. „Ich freue mich auch dich zu sehen, Rebecca“, erwiderte sie ironisch. „Und nein, ich muss nicht ständig in meiner Buchhandlung anwesend sein, denn schließlich habe ich ja immerhin drei Angestellte die dafür bezahlt werden, dass sie sich um die Kunden bemühen.“
„Komm rein, Birgit. Entschuldige bitte die seltsame Begrüßung, aber ich bin im Moment ein wenig verwirrt“, erwiderte Rebecca. Sie strich sich verlegen über ihre schulterlangen kastanienbraunen Haare, die einen attraktiven Rahmen zu ihren grünen Augen bildeten. Die Pfarrerin war von durchschnittlicher Größe, mit einer harmonisch proportionierten Figur.
„Wieso? Ist was passiert?“, fragte Birgit neugierig.
„Sieh mal, dieses kleine Telefon kam zusammen mit dieser Karte heute Morgen mit der Post.“
Birgit las die kurze Nachricht. „Erinnere dich? Und an was sollst du dich erinnern?“, fragte sie verwundert.
„Keine Ahnung. Das ist ja das Seltsame daran“, erwiderte Rebecca ratlos.
Birgit nahm das kleine Telefon in die Hand und sah es nachdenklich an. „Hübsch“, sagte sie. „Stell es doch auf deinen Schreibtisch.“
„Ach, ich weiß nicht so recht“, erwiderte ihre Freundin unentschlossen.
Birgits Blick hing noch immer an dem kleinen Kunstwerk. Plötzlich verschönte ein strahlendes Lächeln ihr schmales Gesicht.
„Ich hab’s!“, rief sie. „Das ist ein ganz ausgezeichnetes Replikat von Theo Neumanns altem Telefon, das gestohlen wurde. Es kam mir gleich so bekannt vor.“
„Meinst du? Und warum schickt mir jemand ausgerechnet eine Nachbildung von Neumanns Telefon?“
„Keine Ahnung. Aber irgendeinen Grund muss es dafür ja wohl geben. Aber darüber solltest du dir keine unnötigen Gedanken machen, das wird sich schon irgendwie aufklären.
Im Moment gibt es weitaus Wichtigeres als dieses kleine Telefon.“
„Und was?“
„Na, das von Neumann. Hast du noch nichts davon gehört?“
„Von Theo Neumann? Was soll ich denn von dem gehört haben? Ich bin ihm schon lange nicht mehr begegnet. Außerdem war er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr in der Kirche“, erwiderte Rebecca mittlerweile im Wohnzimmer angekommen.
„Dann weißt du es also noch nicht“, stellte Birgit fest.
„Du sprichst in Rätseln, Birgit. Was soll ich nicht wissen?“
„Dass er tot ist, Rebecca. Theo Neumann wurde ermordet.“
„Was? Wieso denn das? Wer sollte ihn denn ermorden?“
„Das weiß ich doch nicht. Ich weiß nur, dass er die ganze Nacht tot hinter seinem Schreibtisch gesessen haben soll“, erzählte Birgit aufgeregt.
„Aber ermordet? Wie wurde er denn getötet?“
„Er wurde ertränkt.“
„Ertränkt? Wo?“
„Im Waschbecken. Wolfgang sagt, das ist alles sehr mysteriös. Ein Kriminalhauptkommissar von der Mordkommission Hamburg und dessen Kollege sollen den Mord an Neumann aufklären. Anscheinend soll das mit irgendeiner Sache vor fünf Jahren zusammenhängen. Aber mehr wusste Wolfgang auch nicht.“
Rebecca Mornay sank kreidebleich in einen Sessel.
„Was hast du, Rebecca? Du bist ja totenbleich. Geht es dir nicht gut?“
Wie eine aufgeregte Fledermaus flatterte Birgit um ihre Freundin herum.
„Einen Weinbrand. Schenk mir bitte einen Weinbrand ein, dann geht es mir gleich wieder besser“, flüsterte Rebecca tonlos.
Birgit eilte zu dem schmalen Beistelltisch auf dem einige Flaschen und Gläser standen. Sie nahm zwei Cognacschwenker und schenkte in jeden einen doppelten Metaxa ein, einen griechischen sieben Sterne Weinbrand, den sie beide gerne tranken.
Mit den beiden Gläsern ging sie zu ihrer Freundin und setzte sich ihr gegenüber auf die bequeme Couch. Sie schob Rebecca ein Glas hinüber. „Prost, Liebes“, sagte sie und nahm einen herzhaften Schluck. Genießerisch fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
Sie liebte diesen griechischen Weinbrand, der sie an ihren letzten Urlaub auf Kreta erinnerte, den sie dort zusammen mit Wolfgang Klein verbracht hatte. Sie war mit ihm seit einem Jahr eng befreundet und erhoffte sich ein Ende vor dem Traualtar. Doch war sie klug genug, ihren Freund nicht zu bedrängen.
Birgit musterte ihre Freundin besorgt. „Etwas Farbe hast du schon wieder bekommen“, sagte sie erleichtert. „Was hat dich eigentlich plötzlich so mitgenommen? Neumanns Tod kann es ja wohl nicht gewesen sein, denn den mochtest du doch auch nicht besonders, oder?“
„Ich bin Pfarrerin, Birgt. Ich muss alle Menschen achten und ihnen helfen“, erwiderte Rebecca.
„Aber Theo Neumann konntest du nicht leiden, da bin ich mir sicher. Ehrlich gesagt, konnte ich diesen schmierigen, fetten Typ von einem Polizisten auch nicht ausstehen. Kein Wunder, dass der nie eine Frau abbekommen hat. Der war doch das reinste Brechmittel“, sagte Birgit abfällig.
„Na ja, besonders sympathisch war er nicht“, stimmte Rebecca ihr zu.
„Er war ein Brechmittel, gib es ruhig zu. Ich glaube er war nicht nur stinkfaul, sondern außerdem auch noch korrupt. Vielleicht hat man ihn für irgendetwas geschmiert, von dem niemand etwas wissen durfte. Zuzutrauen wäre es ihm.
Wovon soll er sonst sein Haus und den teuren Mercedes bezahlt haben? Um sich solchen Luxus leisten zu können, verdient ein Polizist einfach nicht genug. Und gut gelebt hat er ja auch noch, was kaum zu übersehen war. Dem hing seine fette Wampe ja schon fast bis zu den Knien“, sagte Birgit angewidert und schüttelte sich.
„Es wird gemunkelt, er sei vor einigen Jahren hoch verschuldet gewesen. Aber wovon hat er die Schulden bezahlt? Ich finde das alles schon ziemlich seltsam, du etwa nicht?“, fragte Birgit.
Sie sah ihre Freundin an, als diese nichts darauf erwiderte.
„Mein Gott, Rebecca! Du bist ja schon wieder ganz blass. Was ist denn bloß mit dir los? Bist du krank?“, fragte Birgit erschrocken.
„Ich glaube, mir steckt was in den Knochen. Vielleicht brüte ich ja eine Erkältung aus. Ich leg mich besser wieder hin“, erwiderte Rebecca schwach. „Sei mir bitte nicht böse. Aber ich hab nachmittags Termine, da muss ich wieder einigermaßen bei Kräften sein.“
„Aber ich bin dir doch nicht böse. Du kannst doch nichts dafür, wenn es dir plötzlich schlecht geht. Leg dich wieder hin. Vielleicht solltest du vorsorglich eine Paracetamol einnehmen. Mir hat das bisher immer geholfen, wenn ich nicht so gut drauf war“, riet Birgit ihrer Freundin.
„Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Rebecca? Soll ich dir irgendwas besorgen?“
Rebecca schüttelte den Kopf. „Das ist lieb von dir, aber ich habe alles, was ich brauche. Ein wenig Ruhe wird mir wohl am besten helfen“, erwiderte sie müde.
Nachdem ihre Freundin gegangen war, nahm Rebecca das kleine Telefon in die Hand und sah es lange an.
Sie hatte sehr wohl den Sinn dieses Geschenks begriffen.
Es sollte sie an das erinnern, was damals geschehen war.
Und sie erinnerte sich daran.
Ein solches Telefon war es gewesen, über das ihre Planungen und Gespräche über den zeitlichen Ablauf ihres damaligen Vorhabens gelaufen waren.
Wie hatte sie nur glauben können, für ihre Komplizenschaft niemals zur Rechenschaft gezogen zu werden?
Wieso war sie so sicher gewesen ungeschoren davonzukommen?
Bei dieser Erkenntnis griff eine eisige Faust nach ihrem Herz und drückte es erbarmungslos zusammen.
Sie stöhnte voller Pein, rang krampfhaft nach Luft. Entsetzliche Furcht überflutete sie wie eine Woge. Sie zitterte am ganzen Körper, hätte sich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen.
Nervenstark war sie nie gewesen. Und jetzt meldete sich erstmals nach dieser langen Zeit auch noch unvermittelt ihr schlechtes Gewissen, das sich bisher noch nie gemeldet hatte, da sie es bis heute je nach Bedarf hatte zum Schweigen bringen können.
Auch jetzt war es nicht Reue, die sich meldete. Oh nein, es war pure Angst, die sie umtrieb. Und auch ihr Glaube meldete sich, wenn auch mit leiser Stimme. Schließlich hatte sie als Pfarrerin geschworen, ihrem Gott nach bestem Wissen und Gewissen zu dienen.
Eine Lüge, bei ihrer dunklen Vergangenheit.
Hatte sie versagt?
Was würde nach ihrem Tod auf sie warten?
Würde sie dereinst im Fegefeuer landen? Gab es eine Vorhölle, obwohl sie bei manchen Kirchenleuten und Gläubigen als abgeschafft galt?
Sie hatte gesündigt!
Hatte schlimme Dinge getan, ihre Menschlichkeit verleugnet und mit Füßen getreten. Doch das Schlimmste daran war sicherlich, dass sie sich niemals dessen geschämt hatte.
Würde sie zur Strafe in der Vorhölle ihre Sünden abbüßen müssen, bevor sie vielleicht in das Reich Gottes eingehen durfte?
Nahte jetzt die Vergeltung? Die Strafe? Musste man sich seinen Verfehlungen stets irgendwann stellen?
Ja, wenn sie so abscheulich sind wie die deinen! , wisperte eine Stimme hinter ihrer Stirn.
Das Klingeln des Telefons riss Rebecca aus ihrer erstaunlichen Selbsterkenntnis, die allerdings nur kurzfristig und einzig und alleine ihrer Furcht und keineswegs ihrer Reue entsprang.
Sie erhob sich so steif und mühsam von ihrem Stuhl, als sei sie eine uralte Frau. Bedrückt schlurfte sie zu dem modernen Telefon, das auf einem Sideboard stand.
„Ja, bitte. Was kann ich für Sie tun“, fragte sie trotz ihrer Niedergeschlagenheit freundlich.
„Spreche ich mit Rebecca Mornay?“
„Ja, am Apparat.“
„Du bist die Pfarrerin?“
„Ja, das bin ich.“
„Hast du mein Päckchen erhalten?“
„Sprechen Sie von dem kleinen Telefon?“
„So ist es.“
„Ja, ich habe es erhalten. Was soll ich damit?“
„Es soll dir helfen, dich zu erinnern.“
„Ich verstehe nicht. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Oh ja, das kannst du, Frau Pfarrerin. Du könntest mir erklären, wieso du dich noch im Spiegel anschauen kannst. Schämst du dich nicht, das Wort Gottes zu verkünden? Du, die so abgrundtief schlecht und so schuldig ist wie kaum ein anderer? Kannst du überhaupt noch ruhig schlafen?“
Aber wahrscheinlich fällt dir das nicht schwer, so abgebrüht und skrupellos wie du bist.“
Die Vorwürfe des Unbekannten dröhnten wie die Posaunen von Jericho in Rebeccas Schädel. Sie war kreidebleich. Panische Furcht doch noch zur Verantwortung gezogen zu werden und alles zu verlieren, ließ sie schwanken. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten vor Schwäche. Mit weit aufgerissenen Augen lehnte sie sich zitternd gegen die Wand.
Auf die Vorwürfe zu antworten vermochte sie nicht, denn ihr Hals war wie zugeschnürt. Was hätte sie auch darauf erwidern sollen?
„Was ist? Bist du noch am Apparat oder bist du in Ohnmacht gefallen? Obwohl ich mir das bei dir eigentlich nicht vorstellen kann.“
Rebecca riss sich zusammen. „Ich bin noch hier“, flüsterte sie. „Was wollen Sie von mir?“
„Hast du nicht zugehört? Was glaubst du denn, was ich will? Ich will dich für das, was du befürwortet und zugelassen hast, zur Verantwortung ziehen, Frau Pfarrerin.
Und ich frage mich, wenn es einen Gott gibt, wieso er dich nicht längst für deine Anmaßung bestraft hat, sein Wort zu predigen.
Ausgerechnet du!
Wäre es nicht so traurig, würde ich schallend über diese Absurdität lachen.
Aber ich lache nicht.
Nein, ich werde deine Skrupellosigkeit offenbaren, dich vernichten, dich unmöglich machen, dein Leben ruinieren, so wie du das Leben anderer ohne jedes Gefühl missachtet hast.
Von heute an werde ich dein unsichtbarer Schatten sein, bis du endlich bereust. Ob das dann dein Ende bedeutet oder nicht, das wird sich zeigen. Aber bevor es soweit ist, wirst du all das verlieren, was dir wichtig ist.
Wir hören voneinander, Frau Pfarrerin. Du wirst dich für deine Vergehen schon sehr bald verantworten müssen. Wie, das überlege ich noch. Aber es wird für dich sicherlich alles andere als angenehm sein“, versprach der Anrufer und legte auf.
Rebecca schleppte sich zu einem Sessel. Sie hatte ihre Schuld verdrängt, hatte in den vergangenen Jahren keinen einzigen Gedanken daran verschwendet. Warum auch, es war Vergangenheit. Natürlich hatte sie nichts vergessen.
Wie hätte sie auch.
Aber ihr war immer klar gewesen, dass es für das, was damals mit ihrem Einverständnis geschehen war, keine Entschuldigung und keine Absolution gab.
Natürlich hätte sie die Pfarrstelle nicht annehmen dürfen, nicht nach dem, was kurz zuvor geschehen war. Aber diese Position zu erreichen, war von jeher ihr Ziel gewesen. Und dann starb der Pfarrer der Gemeinde ganz unverhofft. Und da sie alle erforderlichen Voraussetzungen erfüllte, hatte sie sich unverzüglich um die Pfarrstelle beworben.
Und wenn sie ehrlich zu sich war, dann musste sie sich eingestehen, dass sie auch jetzt ihre damalige Entscheidung keineswegs bereute.
Im Moment war es nur die Furcht vor Strafe die sie umtrieb. Ehrliche Reue verspürte sie nicht. Sie bereute nichts und würde auch heute wieder dieselbe Entscheidung wie damals treffen.
Fünf Jahre war das alles her, fünf lange Jahre, in denen sich ihr Gewissen niemals gemeldet hatte. Sie hatte ihr Leben genossen und die begangene Untat einfach daraus verdrängt. Und es war ihr absolut gelungen, gestand sie sich ein. Und das, obwohl ihre Schuld größer als die ihrer Komplizen war.
Sie fragte sich verwundert, wieso es sie jetzt plötzlich dermaßen belastete, wo sie doch jahrelang keinen Gedanken daran verschwendet hatte.
Wieso brachte sie ein simpler Anruf dermaßen aus der Fassung?
War es einzig Furcht?
Womit hatte der Anrufer ihr noch gedroht?
Ich werde dich vernichten, dich unmöglich machen, dein Leben ruinieren.
Wollte er sie kompromittieren?
Aber wie? Und womit?
Sie wusste es nicht, doch die Angst davor ließ sie erzittern. Ja, sie fürchtete sich, fürchtete mehr als den Tod, zum Gespött all derer zu werden, die sie akzeptierten, gern hatten und zu ihr aufblickten. Ihre anerkannte Stellung in der Gemeinde zu verlieren, die ihr sehr wohlwollend gegenüberstand, war ein Gedanke, den sie nicht ertragen konnte.
Und damit hatte sie auch die Erklärung für ihre plötzlichen Schuldgefühle. Sie entsprangen einzig und allein ihrer panischen Furcht an den Pranger gestellt zu werden, erkannte sie.
Eine Todesdrohung hätte sie lange nicht so mitgenommen wie die Drohung des Anrufers sie in der Öffentlichkeit bloßzustellen, denn das war der Sinn seiner Worte gewesen.
Also keine Reuegefühle, sondern purer Eigennutz, genau wie damals!
Aber hatte der Anrufer wirklich etwas gegen Sie in der Hand? Woher wusste er überhaupt von ihr?
Theo Neumann! Hatte der Polizist geredet? Hatte er ihren und die Namen der anderen verraten, in der Hoffnung, sein Leben zu retten?
Dann war der Anrufer Theo Neumanns Mörder!
Wollte er sie alle töten? Aber warum? Wer war dieser Mann?
Und wieso tauchte er erst jetzt auf, nach so vielen Jahren? Warum hatte er sich nicht schon früher an ihnen gerächt?
Es war ihr ein Rätsel. Und diese Ungewissheit flößte ihr Unbehagen ein. Irgendwie hätte es sie beruhigt, den Grund dafür zu erfahren.