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4.

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Als Jack wieder aufwachte, war es draußen dunkel. Er schüttelte sich, um wach zu werden, als wäre es Morgen und er hätte den Wecker verschlafen und müsse zur Arbeit.

Jemand klingelte an der Tür.

Jack stieg aus dem Bett und sah aus dem Fenster.

In der Auffahrt stand ein großer Dodge Pick-up. Sicher Dennis. Der fuhr nie was anderes als einen Dodge. Der Mann war ein Musterbeispiel an Beständigkeit.

Es musste Zeit fürs Abendessen sein.

„Hey, Dad“, hörte er seine Schwester unten im Flur sagen und dann folgte eine gemurmelte Begrüßung von Dennis.

Er wollte sie nicht wissen lassen, dass er den Tag verschlafen hatte. Jack spritzte sich Wasser ins Gesicht, zog eine Jeans und ein schwarzes T-Shirt über, und turnte immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter. Als er unten ankam, unterhielten sich die drei in gedämpftem Ton im früheren Wohnzimmer, diesem steifen und ungemütlichen Raum zur Straße hin, der kaum je benutzt wurde.

Dennis hatte sich auf dem staubigen blauen Samtsofa ausgestreckt, das vielleicht so alt war wie er selbst. Mary und ihr Vater saßen auf dem dazugehörigen schmalen Zweisitzer daneben.

Dennis Mays sah auf, als Jack hereinkam, und über sein Gesicht verbreitete sich ein aufrichtiges Lächeln. „Zwölf“, sagte er und wuchtete seine beträchtliche Körpermasse aus dem Sofa, um Jack zu begrüßen.

In seinen drei Jahren als Mayfields Stammquarterback hatte Jack die Nummer zwölf getragen; Dennis war ein Jahr lang sein Left Guard gewesen. Dennis war schon als junger Mann eine stattliche Erscheinung gewesen. Jetzt hatte er in etwa die Statur eines Öltankers. Jack fragte sich, wie ein Mensch rein medizinisch einen solchen Leibesumfang mit sich herumtragen konnte, ohne zusammenzubrechen. Es war zweifellos eine physische Meisterleistung.

„Achtundsiebzig“, erwiderte Jack im Herantreten mit einem Lächeln. Sie gaben sich die Hand und der Händedruck ließ Jack zusammenzucken. Er war sich nicht sicher, ob seine Hand das ohne Operation überstehen würde.

„Schwesterherz“, sagte er, als Mary ihm im Sitzen ihre Hand entgegenstreckte.

„Jack“, sagte sie. Sie nickte, ließ seine Hand los und er trat zurück. Nicht gerade die herzlichste Begrüßung. Aber was hatte er schon anderes erwartet.

Er ließ sich in den hässlichen alten Fernsehsessel sinken.

„Schön, dich zu sehen, Zwölf“, sagte Dennis. „Wirklich schön, dich zu sehen.“

„Deine Schwester hat einen Auflauf mitgebracht“, bemerkte Tom, „ich hab ihr gesagt, das hätte nicht sein müssen …“

„Wenn ich nicht für dich kochen würde, würdest du jeden Abend dieses Fast Food vom Chicken Express futtern“, beschwerte sie sich. Sie wandte sich an Jack. „Er weiß es eigentlich besser. Er sollte wirklich nicht …“

Tom räusperte sich. Mary brach mitten im Satz ab.

Jack, der es bemerkte, machte sich eine kleine innere Notiz, für später.

„Mein berühmter Käse-und-Schinken-Auflauf“, setzte sie wieder an. Sie sah zu Jack herüber. „Mochtest du früher immer gern.“

Dass sie sich daran erinnerte, rührte ihn an. Nach Marthas Tod hatte Mary es übernommen, für sie zu kochen. Ihre Mutter war schon Jahre zuvor schwer depressiv gewesen und hatte kaum noch gekocht. Oft hatte sie ihre Tage im Bett verbracht und war nur zum Abendessen erschienen – in dem Pyjama, den sie den ganzen Tag getragen hatte.

„Danke“, sagte er. „Du musst mir mal das Rezept geben.“

„Steht im Fannie-Farmer-Kochbuch in der Küche“, erwiderte sie spitz. „Wenn du dich dort je aufhalten würdest, wüsstest du das auch.“

„Nun“, schaltete sich Dennis ein und hob die Hand, um sie zu unterbrechen. „Jetzt ist er ja schließlich da, oder? Zwölf, warum schnappst du dir nicht dieses Kochbuch und machst uns für morgen Abend was Schönes? Du hattest schon immer hausfrauliche Fähigkeiten.“ Er lachte – ein tiefes, dröhnendes Lachen, das den Raum ausfüllte.

Es gehörte zu den bekanntesten Legenden von Mayfield: Jack und sein Freund Bill hatten in der Oberstufe Hauswirtschaft belegt. Sie waren die einzigen Jungen auf dem Foto von „Amerikas Hausfrauen der Zukunft“ im Jahrbuch ihrer Schule. Sie hatten es nur getan, um sich um den Mathematikkurs herummogeln zu können – mit Erfolg –, aber für Dennis war diese Hauswirtschaftsgeschichte auch nach zwanzig Jahren noch ein Grund zur Erheiterung. Jacks Ruf im Blick auf seine Männlichkeit hatte das keinen Abbruch getan – als Stammquarterback „QB 1“ war man dagegen für alle Zeiten gefeit.

„Wie war dein Tag?“, fragte Tom, und nach dem dröhnenden Gelächter klang seine Stimme leise. „Produktiv?“

„Ganz gut“, antwortete Jack. „Ja. Ziemlich gut. Hab die eine oder andere Spur.“ Er nickte, ein paar Mal zu oft.

Beharrliches Schweigen. Jack dachte, sein Vater hatte bestimmt durchsickern lassen, dass das Haus dunkel gewesen war, als er kam.

„Wie lange bleibst du, Zwölf?“, fragte Dennis. „Ich könnte ein paar von den Jungs zusammentrommeln. Vielleicht können wir am Wochenende auf die Jagd gehen …“

Mary legte den Kopf schräg, auf diese typische Weise, für die sie bekannt war. Auch sie war interessiert an Jacks Antwort.

„Weiß ich noch nicht genau. Wohl, bis ich ein paar Sachen geklärt habe. Bis die Dinge wieder laufen. Nicht sehr lange.“

Marys Blick war kühl und distanziert. „Bis die Medienleute dich finden?“

Dennis hob den Zeigefinger, um sie zu stoppen, aber sie spie ihm entgegen: „Ich lasse mir nicht länger den Mund verbieten!“, bevor sie Jack ihre nächsten Sätze servierte: „Hast du eine Ahnung, wie viele Anrufe von Fernsehsendern und Zeitschriften aus Orten, von denen ich noch nie im Leben gehört habe, ich schon gekriegt habe? Wie viele Übertragungswagen sich schon vor Dads Laden in Position gebracht haben? Wie viele Schlagzeilen mir an der Kasse im Supermarkt entgegenstarren?“ Sie schnaubte. „,Herzenspastor im mexikanischen Liebesnest.‘“

„Mary …“ – Tom wandte sich Jack zu –, „sie waren doch nur ein paar Tage da. Ich habe gesagt, ich wisse nicht, wo du bist, und dass ich mir auch nicht vorstellen könne, dass du hier auftauchst. Da sind sie verschwunden.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Die kommen wieder“, giftete Mary. „Und sie werden uns das Leben zur Hölle machen.“

Jack ließ den Blick durch den Raum schweifen, sah erst seine Schwester an, seinen Vater, dann Dennis.

„Wenn ich euch peinlich bin“, sagte er ruhig und bemühte sich, keine Schärfe in der Stimme zu haben, „dann kann ich auch gehen. Ich kann einfach verschwinden.“

„Oh, klar, Jack“, kam es von Mary. „Genau, wie du es immer machst. Einfach verschwinden. Seit zehn Jahren wolltest du doch schon nicht mehr zu dieser Familie gehören.“

„Seit zehn Jahren hat es hier keine Familie mehr gegeben“, gab er zurück.

„Also, hau ab, Jack“, sagte sie, und die Röte stieg ihr ins Gesicht. „Geh doch zurück zu deiner perfekten Familie und in dein perfektes Leben.“ Sie bereute es sofort. Er sah, wie sie sich auf die Lippen biss, als sie merkte, dass ihre Worte ihm den Atem verschlagen hatten.

Aber die Worte waren nun einmal heraus.

Jack stand auf. Er konnte nicht bleiben, und er konnte nicht gehen. Vielleicht war alles, was er tun konnte, die ganze Situation für ein paar Stunden zu vergessen.

„Es … tut mir leid“, sagte er zu seinem Vater. „Ich … gehe dann morgen. Könntest du … kannst du mir einen Zwanziger leihen?“

Sein Vater sah aus, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. „Ich … ähm … Jack, ich glaube, ich hab keinen Zwanziger.“

Jack lachte, tatsächlich. Er schüttelte den Kopf. Natürlich. War ja klar. „Oh, macht nichts. Wirklich.“

Tom griff zu seiner Brieftasche, blätterte einen Zehn-Dollar-Schein und drei Einer heraus und reichte sie Jack. Seine Hand zitterte leicht.

„Lasst euch den Auflauf schmecken“, warf Jack in den Raum. Er drehte sich um und ging durch den Flur und zur Tür hinaus in die kalte Nacht. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, stand er einen Moment lang fröstelnd unter dem Vordach. Er hatte keinen Mantel an, aber es war ihm egal.

Von allen Möglichkeiten, sich den Tod zu holen, war dies nicht die schlechteste.

Er stiefelte über den Rasen in Richtung Stadt.

Dann hörte er, wie sich hinter ihm die Tür öffnete und Mary seinen Namen rief. Sie rannte ihm nach.

„Jack“, wiederholte sie und fasste ihn am Ellbogen.

„Geh wieder rein, Mary“, sagte er. „Es ist zu kalt hier draußen.“

„Jack“, sagte sie und er sah, dass sie weinte. „Wenn du gehst, brichst du ihm das Herz. Noch einmal. Weißt du überhaupt, warum er gekommen ist, um dich zu holen – nach allem, was passiert ist? Hast du überhaupt eine Ahnung?

„Nein“, gab Jack zurück und entzog ihr seinen Ellbogen. „Und es ist mir auch egal. Er war ein hundsmiserabler Vater. Ja, es war nett von ihm, dass er mich aus Mexiko zurückgeholt hat. Warum auch immer er das gemacht hat. Aber eine nette Geste ist noch lange kein Ausgleich für …“

„Er stirbt“, sagte sie und nahm wieder seinen Arm. „Er lebt nur noch von geliehener Zeit. Ich glaube nicht, dass er gehen könnte, ohne dass du …“

Sie verstummte. Einen Moment lang konnte sie vor Schluchzen nicht sprechen. Jack spürte, wie er gegen seinen Willen schlucken musste, sein Magen krampfte sich zusammen.

„Das tut mir leid“, sagte er. „Aber was kann ich schon machen? Ich habe nicht mal einen einzigen Dollar, der mir gehört. Ich kann noch nicht mal …“

„Das kannst du ihm nicht antun“, schluchzte sie. „Nur dieses eine Mal könntest du es dir überlegen, bevor du ihm das Herz brichst.“

Jack sah sie an.

Er schüttelte den Kopf und löste seinen Arm sanft aus ihrem Griff.

„Vielleicht hätten wir dieses Gespräch schon viel früher führen sollen“, sagte er. „Jetzt ist es zu spät.“

„Jack“, flehte sie.

„Zu spät“, wiederholte Jack. Er ließ sie stehen, seine Schritte knirschten im Schnee.

Dieses Mal folgte sie ihm nicht, und er sah sich nicht um.

Er ging an den acht Häuserblöcken entlang in Richtung Innenstadt – man nannte es jedenfalls noch so –, vorbei an der Bank, Chisholm’s Eisen- und Holzhandel und dem kleinen Supermarkt an der Ecke. Die Stadt schrumpfte jedes Jahr ein wenig, wurde ein wenig schäbiger, rückte ihrem Ende näher. Was hielt die Leute eigentlich noch hier?

Endlich schob er sich in die Wärme von „Buddy’s“, der örtlichen Bar, die schon seit ewigen Zeiten heruntergewirtschaftet war und wenigstens nicht vorgab, etwas anderes zu sein, als was sie war: der einzige Ort in der Stadt, wo man seine Probleme herunterspülen konnte.

Drei Leute saßen an der Bar, Jack eingeschlossen. Er erkannte die Bedienung, ein Mädchen, das zu Schulzeiten zwei Klassen unter ihm gewesen war. Inzwischen war sie zweimal verheiratet und wieder geschieden und lebte jetzt unverheiratet mit einem Mann zusammen. Ein weißhaariger Mann saß mit dem Rücken zu ihm am Tresen. Jack beachtete ihn nicht und hockte sich an die Bar. „Hi, Shayla. Einen Krug Bud Light. Ein Glas.“ Es war alles, was er sich von seinem geborgten 13-Dollar-Kapital leisten konnte.

Sie starrte ihn an. „Hey“, sagte sie. „Mmmmh. Okay. Kommt sofort.“

„Na, wenn das nicht Jack Chisholm ist“, sagte eine spöttische, aber überraschend freundliche Stimme rechts von ihm. Er wandte sich um und beobachtete, wie der Sprecher seinen Drink über den Tresen schob und sich auf den Stuhl neben ihm setzte. Die Stimme gehörte einem Priester – zumindest war der Mann ganz in Schwarz und trug einen Stehkragen. „Ich bin Francis Xavier Malone.“

Jack erkannte ihn sofort; trotzdem nahm er die ausgestreckte Hand und schüttelte sie.

„Pater Francis“, sagte er. „Was machen Sie denn hier? Ich dachte …“

Er bremste sich. Francis Malone war schon Priester in Mayfield gewesen, als Jack noch nicht geboren war. Und Jack war mit zwei unumstößlichen Gewissheiten aufgewachsen: In Mayfield drehte sich alles um Football, und Pater Francis musste man vom Alkohol fernhalten.

Na gut. Jetzt war er sowieso schon ins Fettnäpfchen getreten. Also nickte er knapp in Richtung der goldbraunen Flüssigkeit auf Eis in Francis’ Glas. „Ich dachte, in dieser Gegend sei kein harter Drink zu bekommen.“

Francis lächelte grimmig. „Traurige Sache, wenn ein privater Fehltritt in aller Munde ist.“ Er hob sein Glas und schwenkte es, sodass das Eis klirrte. Er nahm einen Schluck und leckte sich die Lippen. „Gingerale, Jack. Aber du hast es schon richtig in Erinnerung. Man kann in dieser Gegend hier tatsächlich keinen Drink bekommen; und selbst wenn es legal wäre, würde ich sicher hier keinen kriegen.“

„Die reine Wahrheit, Pater“, sagte Shayla und stellte Jack eine schaumgekrönte Kanne mit Bier und sein Glas hin. „Ich habe strikte Anweisung, ihm nichts anderes zu servieren als Gingerale“, bemerkte sie zu Jack. „Würde mich sonst den Job kosten.“

„Tja, das ist Mayfield“, sagte Francis, „das weißt du sicher noch ganz gut. Hier wissen wir alles voneinander. Aber an den guten Tagen lässt dich auch niemand im Stich, wenn du Hilfe brauchst.“ Er ließ wieder die Eiswürfel in seinem Glas kreisen. „Und wie kommt’s, dass du hier bist?“

„Familienbesuch“, sagte Jack wie nebenbei. „Ich bin nur für ein paar Tage da.“ Er begann, das Bier einzuschenken.

„Soso“, sagte Pater Francis und legte die Hände spitz vor seinem Gesicht zusammen. „Was ich sehe, ist, dass du hier im ‚Buddy’s‘ sitzt, wo man dich sonst eigentlich nie sieht, und dass es der Tag nach Weihnachten ist. Der Gedenktag des heiligen Stephanus.“

Er warf den Kopf in den Nacken. „Was ich außerdem sehe, ist, dass du in der kältesten Nacht des Jahres ohne Mantel aus dem Haus gegangen bist. Und“, er nickte in Richtung des Biers, das Jack in sein Glas goss, „was ich sehe, ist, dass du trinkst wie für zwei. Und dabei nicht sehr wählerisch bist, wenn ich mal so sagen darf.“

„Versuche nur, meine mädchenhafte Figur zu erhalten“, sagte Jack. Er nahm einen Schluck und verzog das Gesicht; es schmeckte bitter und wässrig. „Grrr.“

„Weiß schon“, seufzte Pater Francis. „Aber trotzdem hab ich immer noch einen Japp drauf.“

Jack betrachtete Pater Francis’ offenes, lächelndes Gesicht und machte Anstalten, aufzustehen und sich woanders hinzusetzen. „Geht nicht gegen Sie, Pater. Ich wollte einfach nur gern allein mein Bier trinken. Niemanden stören. Von niemandem gestört werden.“

Francis nickte und nahm einen Schluck Gingerale. „Natürlich. Verstehe schon. Du wolltest uns etwas vormachen.“

Jack verschluckte sich beinahe an seinem Bier. „Bitte?“

Er versuchte, Francis einen zornigen Blick zuzuwerfen, aber der alte Priester ließ sich nicht beeindrucken. Jetzt stand wieder dieses Grinsen in seinem Gesicht. „,Bitte?‘ – Weil es sich nicht gehört, die Sache beim Namen zu nennen? Oder weil du denkst, dass deine jüngsten Erfahrungen in der Geschichte der Menschheit einmalig sind?“

Jack konnte ihn nur anstarren. Er blinzelte.

„Wir hatten das Haus gestapelt voll mit Presseleuten“, sagte Shayla und machte eine ausladende Handbewegung. „Ist schließlich kein Geheimnis, was Sie sich geleistet haben.“

„Gar nichts hab ich mir geleistet“, murmelte Jack und goss sich ein weiteres Bier ein. Noch ein Glas und er würde sich so richtig wohlfühlen, das heißt, wenn nicht vorher noch irgendjemand irgendetwas sagte, was er nicht überhören konnte.

„Ob und was du dir geleistet hast oder nicht, spielt keine Rolle“, sagte Francis leise. „Jedenfalls nicht für Gott.“

„Bitte?“, wiederholte Jack.

„Die Welt ist voll von abgerissenen, kaputten, ausgebrannten Typen“, sagte Francis. „Das sind wir alle. Darin hattest du in deinen Predigten recht. Ja, ich habe immer verfolgt, was du so machst“, sagte er angesichts von Jacks ungläubigem Blick. „Wir schicken hier von Mayfield aus nicht so viele große Gottesmänner in die Welt, weißt du. Wir sind Versager. Alle. In deinem Fall ist es nur ein wenig offensichtlicher, weil heutzutage anscheinend jeder von jedem alles weiß.“

Jack goss sich das magische dritte Bier ein und nahm einen tiefen Zug, der ihm den Mut gab, das Gespräch fortzusetzen. „Pater Francis, Sie stecken jetzt schon seit – na, wie viel? – vierzig? – Jahren in diesem Nest fest. Was wissen Sie schon von der Welt?“

„Was weiß ich schon von Leuten, die nicht alles auf die Reihe kriegen?“ Francis fixierte ihn mit seinem Blick. „Nicht viel. Nur dass ich so einer bin. Aber, Jack, es gibt die Gnade. Im Überfluss. Wenn wir eingestehen, dass wir alle nur Bettler am Tor der Gnade Gottes sind, kann er etwas Wunderbares aus uns machen.“

Jack wandte den Blick ab und trank sein Bier aus. „Schön und gut, Pater“, sagte er. „Aber ich bin nicht hergekommen, um theologische Fragen zu erörtern. Warum sparen Sie sich das nicht für Ihren nächsten Bestseller auf: Bettler am Tor der Gnade? Der wird Sie bestimmt auch in jede Talkshow bringen.“

Pater Francis schüttelte den Kopf. „Ich bin nie etwas anderes gewesen als ein Priester in einer unbedeutenden Kleinstadt. Und das war die größte Freude meines Lebens. Aber wenn ich tatsächlich mal ein Buch schreiben sollte – wenn ich etwas vom Wesentlichen in meinem Leben hinterlassen sollte –, dann würde ich es tun, um diese Botschaft weiterzugeben: Wir mögen so kaputt und wertlos sein, wie wir wollen – aber wir sind trotzdem mehr geliebt, als wir uns vorstellen können.“

In Jacks Augenwinkeln glänzte es feucht. Er wischte es fort und wandte sich dann ab. Dieser Krug gab immer noch ein Glas Bier her, bevor er etwas unternehmen musste – nüchtern werden und nach Hause zurücktrotten oder einfach in der Nacht verschwinden.

„Ich hab deine Bücher gelesen“, bemerkte Pater Francis, während Jack das letzte Bier eingoss. Von der anderen Seite des Tresens schaltete sich jetzt Shayla ein: „Ich hab das erste angefangen, Jack. Aber ich konnte es nicht zu Ende lesen.“ Sie zog ein „Tut-mir-leid“-Gesicht. „Es hat bewirkt, dass ich mir ganz wertlos vorkam.“

„War auch so beabsichtigt“, murmelte Jack. „Wir halten viel zu viel von uns selbst.“

„Oh, ich habe den Eindruck, du fühlst dich schon schlecht genug. Mehr als schlecht genug“, sagte Francis. „Und du hast diese Botschaft an alle Welt weitergegeben: Erkennt, wie wertlos wir sind.“ Er klopfte mit den Fingern auf den Tresen. „Wenn du die Leute aufgefordert hast, ihre Bibel aufzuschlagen, hast du sie je auf diesen wunderbaren Vers im Römerbrief hingewiesen: ‚Ich bin ganz sicher: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch irgendwelche Gewalten, weder Hohes noch Tiefes oder sonst irgendetwas können uns von der Liebe Gottes trennen, die er uns in Jesus Christus, unserem Herrn, schenkt‘?“

Dieses letzte Glas Bier hatte Wunder gewirkt; er konnte jetzt aussprechen, was er wirklich dachte. Jack wandte sich Pater Francis zu und lächelte ihn ein paar Sekunden lang an. „Ich war der ‚Herzenspastor‘. Sie sind ein schäbiger alkoholkranker Priester in einer schäbigen, verschlafenen Kleinstadt. Und Sie wollen mir etwas über Gott beibringen?“

Francis senkte den Kopf, und Jack fürchtete, er sei zu weit gegangen. Von einem Priester hatte er noch nie einen Kinnhaken bekommen.

Da hob Francis den Kopf und sah Jack direkt in die Augen. „Ja, es ist so, wie du sagst, Junge. Aber vielleicht könntest du versuchen, die Frage zu beantworten, die aus deiner Frage folgt: Wie kommt es, dass der ‚Herzenspastor‘ ausgerechnet an Weihnachten mitten in der Nacht in einer schäbigen Kleinstadt an der Bar hockt und mit einem kaputten Alkoholiker redet, der sich Priester nennt?“

„Tut mir leid“, sagte Jack und hob eine Hand. Er seufzte. „Das war gemein.“

Francis zuckte die Achseln. „Du hast mir eine echte Frage gestellt“, sagte er. „Ich stelle dir auch eine.“

Jack hob den Krug. Er war leer bis auf einen Rest Schaum.

„Kann ich Ihnen noch was bringen, Jack?“, fragte Shayla.

„Nein“, sagte Jack. „Danke, Shayla.“ Er legte die beiden letzten Dollar als Trinkgeld auf den Tresen und atmete tief durch.

Raus in die Kälte? Zurück in ein Haus voller Erinnerungen?

Er fragte sich, wo Tracy wohl heute Abend war, ob Alison schon schlief oder wach im Bett lag. Vermutlich schlief sie; wahrscheinlich bei den Großeltern in Kalifornien. Vielleicht lauschten sie nervös auf Geräusche an der Tür, in Sorge, er könnte sie ausfindig gemacht haben. Warum hatte er das gar nicht erst versucht?

Wahrscheinlicher war es, dass die Gemeinde dafür gesorgt hatte, dass sie irgendwo weit weg von Kameras und Scheinwerferlicht ein neues Leben beginnen konnten. Und heute würden die Großeltern zu Besuch sein, damit Tracy und Alison ihr erstes Weihnachten ohne ihn gut überstanden.

Den Schlag konnte nicht einmal das vierte Glas Bier abmildern. Er würde sie nie wiederfinden, würde nie in seine Gemeinde zurückkehren, nie wieder etwas anderes sein als der Gegenstand von Schlagzeilen.

„Ich bin am Ende“, sagte er. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spürte es bis in die Knochen. Alle hatten ihn im Stich gelassen. Gott hatte ihn im Stich gelassen. Er war erledigt.

„Was ist?“, fragte Francis.

„Nichts“, sagte er. Er lachte, ein bitteres „Ha“, und kam schwankend auf die Beine. „Vielen Dank für die Gesellschaft. Ich geh jetzt besser …“ – er stieß langsam den Atem aus – „… nach Hause.“

„Ich fahre dich“, sagte Francis und streckte die Hand aus, um ihm Halt zu geben. „Du hast eine Menge getrunken für die kurze Zeit, und Shayla hat für heute auch genug von meiner Gesellschaft.“

„Genau“, sagte sie und blickte von den Gläsern auf, die sie gerade abtrocknete. „Wer braucht die schon?“ Aber sie lächelte Francis dabei zu, und trotz seiner eigenen Verfassung sah Jack Liebe in ihren Augen.

„Na gut“, sagte Jack. „Ich wäre Ihnen dankbar.“

Sie traten hinaus auf den Gehweg. Der Wind peitschte eisig durch die Straße, und Jack schlug die Arme um den Oberkörper, um sich zu wärmen.

Pater Francis fuhr immer noch diesen uralten Chrysler LeBaron, braun, mit weißem Kunststoffdach.

„Ich weiß“, sagte Francis und machte Jack die Tür auf. „1986. Genauso klapprig wie sein Fahrer.“

„Sie haben diesen Wagen schon, solange ich Sie kenne. Oder besser: Solange ich von Ihnen weiß“, verbesserte er sich und stieg ein. Francis stellte die Heizung hoch, während der Motor langsam warm lief.

„Er bringt mich immer noch überallhin, wo ich hinwill. Mehr muss er auch nicht. Und außerdem glaube ich nicht, dass ich all meine alten Kassetten überspielen könnte. Ein Priestergehalt gibt das nicht her. Der neue Wagen hätte bestimmt kein Kassettendeck.“

„Na, wie Sie meinen“, sagte Jack. Ihm wurde allmählich etwas wärmer und er fühlte sich angenehm schläfrig.

Pater Francis kramte irgendetwas vom Rücksitz hervor – eine Kassette. Er legte sie ein und der Klang irischer Volksmusik erfüllte das Auto.

„Nein, wirklich?“, fragte Jack. „Pater Francis, Sie sind ein Ire, wie er im Buch steht.“

„Was soll ich sagen?“ Francis zuckte mit den Schultern. „Wir lieben, was wir lieben.“

„Ich hatte eher Van Morrison erwartet“, sagte Jack.

„Autsch“, machte Francis, während er zurücksetzte und dann den Wagen in Richtung der schneebedeckten Hauptstraße wendete. „Und ich besitze die Frechheit, nur ‚Moondance‘ zu hören.“

Die Fahrt war kurz, und sie ließen das Schweigen zu. Es war nicht peinlich.

„An der nächsten Ecke“, platzte Jack heraus, vielleicht vorschnell, denn Francis bog schon in die Einfahrt und parkte den Wagen hinter dem seines Vaters. Dennis und Mary waren gegangen.

„Ich habe neulich mit deinem Vater gesprochen. Das bewusste Gespräch …“, bemerkte Francis und schob den Schalthebel auf Parken. „Du kommst gerade zur rechten Zeit.“

Wieder konnte Jack nicht anders – er musste einfach lachen. Sein bellendes Gelächter entsprach in keiner Hinsicht der Heiterkeit, die er verspürte. „Meinen Sie das ernst?“

„Ja“, sagte Francis. „Das meine ich sehr ernst.“

Jack suchte den Türgriff, aber Pater Francis streckte ihm die Hand hin. „Dieser kaputte alte Priester würde sich freuen, bei Gelegenheit wieder das eine oder andere Wort mit dir zu wechseln.“

Jack drehte sich zur Seite, um auszusteigen. Dann nickte er. „Die Stadt ist klein“, sagte er.

„So ist es. Grüß deinen Vater von mir. Gute Nacht, Jack.“

Er winkte, während er zur Straße zurücksetzte, und verschwand dann in der Nacht. Jack sah ihm fröstelnd nach und fragte sich, ob er seinen Vater wecken sollte. Fragte sich, ob er überhaupt ins Haus gehen wollte.

Er trat unter das erleuchtete Vordach und hob die Hand, um zu klopfen, zögerte aber dann.

Die Tür öffnete sich von selbst. Jedenfalls schien es so.

Sein Vater stand im Bademantel da, aus dem die dünnen weißen Beine hervorschauten.

„Komm rein“, sagte er. „Ich hab Kaffee gekocht.“

„Hallo“, stotterte Jack und schloss die Tür hinter sich, „ich …“

„Ich hab Kaffee gekocht“, wiederholte Tom. Er nahm Jacks Arm und zog ihn zum Tisch. Sie setzten sich, nippten am Kaffee und fragten sich, was sie miteinander reden sollten.

„Es tut mir leid wegen deiner Schwester“, sagte Tom. „Sie hätte das nicht sagen sollen.“

Jack zuckte mit den Schultern. „War schon berechtigt. Sie war hier. Ich nicht. Tut mir leid, dass ich euch den Abend verdorben habe.“

Sein Vater wischte die Bemerkung weg. „Einen Abend mit Käse-Schinken-Auflauf kann man nicht verderben. Ich hab was für dich aufgehoben. Willst du’s dir warm machen?“

„Ja, gern“, sagte Jack und ging zum Kühlschrank. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, und da auch nicht viel. „Pater Francis lässt dich grüßen.“

„So?“, fragte Tom. „Pater Francis?“

Jack lud eine Portion Auflauf auf einen Teller und hielt dann inne. „Ich vermute, er hat dich ein wenig im Blick behalten.“ Jack warf seinem Vater einen Blick zu. „Weil du krank warst und überhaupt …“

Tom nickte. „Ja, das hat er.“

„Das tut mir leid“, sagte Jack und setzte sich wieder an den Tisch. „Es tut mir leid, dass du es mir nicht sagen konntest. Kein Wunder, dass Mary nicht gut auf mich zu sprechen ist. Ich wäre fuchsteufelswild.“

„Na ja“, sagte Tom. „Jetzt bist du ja da.“

„Aber das ist noch lange kein Ausgleich dafür …“ Jack unterbrach sich. Es klang entsetzlich vertraut.

„Warum kommst du morgen nicht mit ins Geschäft?“, fragte sein Vater, nachdem keiner von ihnen für eine Weile etwas gesagt hatte. „Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen, bei der Inventur. Vor allem im Lager. Du müsstest nicht mit Kunden reden. Und es würde dir guttun, deine Gedanken mit etwas Konkretem zu beschäftigen.“

Die Mikrowelle klingelte und Jack nahm die dampfende Mahlzeit heraus. „Ich sage nicht Nein“, antwortete er. „Aber wozu soll es gut sein, Hämmer zu zählen? Das bringt mir nicht zurück, was ich verloren habe.“

„Ich weiß es auch nicht. Ich meine nur, dass wir eben tun, was wir können – mit den Möglichkeiten, die wir haben, und da, wo wir gerade sind.“ Er machte eine Geste, als wolle er auf den Tisch, die Stadt, den Planeten deuten. „Und wir sind … hier.“

„Das hätte auch Pater Francis sagen können“, kommentierte Jack, während er sich setzte.

„Hat er vermutlich auch“, sagte Tom. Er senkte den Kopf. „Vergiss das Tischgebet nicht.“

Jack sah seinen Vater erwartungsvoll an.

Er betrachtete den Tisch, auf dem schon so lange so vieles fehlte.

Er betrachtete sich selbst, einen dunklen Schatten am Esszimmertisch seines Großvaters.

Er betrachtete seinen Vater, der mit gesenktem Kopf dasaß.

„Amen“, sagte er.

Dann nahm Jack die Gabel und begann langsam und mit wachsendem Appetit zu essen.

Verlorener Sohn

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