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Auf einmal war alles wieder da. Wie damals, vor einem halben Jahr.

Er kam aus der An­kunftshalle, voller Entschlossenheit und voller Erwar­tung seiner neuen Aufgabe, von der so viel für ihn abhing. Er war unangenehm überrascht von dem Gestank der Abgase, der ihm die Tränen in die Augen trieb, und von dem Lärm der Motoren, der Hupen und der scheppern­den Durchsagen aus den Lautsprechern. Statt dass der Fahrer, den Professor Morales hatte schicken wollen, mit ei­nem Namensschild in der Ankunftshalle stehen würde, hatte man ihn gebeten, vor dem Terminal zu warten. Es war zwar nicht das erste Mal, dass er in einer Groß­stadt gelandet war; trotzdem kam ihm die kolumbia­nische Hauptstadt gar nicht vor wie eine der Metro­polen, die er kann­te, und in denen er sich sofort zurecht gefun­den hat­te. Er fühlte sich unbehaglich, und er umklam­merte den Trageriemen seiner Reisetasche. Unruhig schau­te er um sich, ob nicht doch irgendwo ein uni­formierter Fahrer mit dem Namensschild stand, aber hier liefen die Leute achtlos an ihm vorbei. Wenn ihn einer anrempelte, gab es ein flüchti­ges perdón, sonst nichts. Die einzigen, die ihn ansprachen, waren die Taxifah­rer in der Hoffnung auf eine lohnende Fahrt mit dem no­bel ge­kleideten, jungen Señor. Je öfter Piet das An­gebot ablehnen musste, umso nervöser wurde er, fühlte sich gar nicht mehr wie der selbst­bewusste Wissenschaftler aus gutem Hause, der mit gerade einmal dreißig Jahren zum erlauchten Kreis jener hoffnungsvol­len Elite zählte, vor der die moderne Wissenschaft den roten Teppich ausrollt. Hier interessierte es niemand, dass er dem­nächst wohl Deutsch­lands jüngster Professor und ein paar Jahre spä­ter Nach­folger auf einem der begehr­testen Lehr­stühle sein wür­de; hier interessierte sich offenbar kein Mensch für ihn. Er griff in seiner Jacke nach seinem Mobiltele­fon und suchte Professor Morales' Nummer. Es konnte doch nicht sein, dass man ihn vergessen hat­te!

Schließlich fuhr der Wagen vor. Ein Buick Convertible aus den Siebzigern, ein Riesenschlitten, ockergelb, mit breiten blauen und roten Streifen an den Seiten: lackiert in den Landes­farben! Er fuhr sehr langsam, obwohl die Straße frei war, und er sah aus wie ein vergessenes Requisit aus einem Hollywoodfilm. Auch die Taxifahrer machten ihre Bemerkungen zu dem ungewöhnlichen Gefährt, das jetzt in einer der Parkbuchten angehal­ten hatte. Piet musterte den Wagen mit ungläubigem Interesse, zu­mal der junge Mann am Steuer auch noch zu ihm herüber­sah. Dann stieg er aus und schlenderte auf Lober zu, lässig, als wolle er Piet zeigen, dass man sich hier auch beim Abholen wichtiger Persönlichkeiten Zeit nahm. Die lan­gen Haare wehten im Wind, genauso wie sein dünnes Hemd.

Ob er Señor Piet Lober de Hamburgo sei, sprach er Piet an, ohne die Sonnenbrille abzunehmen. Nach­dem Lober seine nicht wirklich freudige Überraschung überwun­den und die Frage mit einem eher gestammelten „“ beant­wortet hatte, sagte der Fahrer des bunten Wagens:

„Ich bin Acacio Varela. Morales hat mich geschickt, um dafür zu sorgen, dass man Ihnen hier nicht den Hintern abschießt, dóctor. Dabei grinste er breit und entblößte eine Reihe makelloser Zähne.

Piet starrte ihn an. Nicht genug, dass es ihn schon ärgerte, mit welch seltsamem Vehikel man hier seine wissen­schaftlichen Gäste abzuholen pflegte, auch diese Person hier war nicht unbedingt das, was er erwartet hatte! Piet war nie um eine Antwort verlegen gewe­sen, doch auf diese Begrü­ßung fiel im nichts ein.

Der junge Kolumbianer nahm die Sonnenbrille ab; Lober blickte in funkelnde, dunkelbraune Augen. Der Junge hielt ihm sei­ne Hand hin und sagte in deutlich gemäßigterem Ton:

„Kleiner Scherz. Willkommen in Kolumbien.“

Lober stotterte ein gracias und ärgerte sich über seinen verlorenen Punkt. Warum war ihm nichts eingefallen? Wie vie­le dümmliche Kommentare hatte er während seiner Vorträge lässig mit einem Spruch pariert und für ent­spannte Heiter­keit un­ter denen gesorgt, die seine Sprache sprachen? Jetzt ge­rade hatte er sich wie ein Idiot benommen.

Acacio drehte sich um und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihm zum Wagen zu folgen. Lober sah nach unten auf seine Taschen. Sie standen am Platz. Er hob den Kopf und sah zu dem Ko­lumbianer, aber der schlenderte schon wieder Richtung Wagen, wohl in der si­cheren Annahme, dass Piet ihm folgen würde. Der Deut­sche holte tief Luft, hob sein Gepäck vom Bo­den und stapfte zu dem Buick.

Die Universität würde ihm einen Fahrer schicken, hatte Professor Morales gesagt. Der würde ihn die ganze Zeit über im Hoch­land begleiten und ihm helfen. Statt des Fahrers war ein unge­zogener Wilder in Schlabberklamotten gekommen, der ihn sein Gepäck schleppen ließ wie ein Rucksack­tourist. Wenigstens öff­nete er den Kofferraum des alten Cabrio­lets, ohne freilich auch nur die kleinste Anstalt zu ma­chen, Piet beim Einla­den zu helfen. Stattdessen stieg er ein, startete den Motor und vergewisserte sich mit einem schnellen Seitenblick, dass sein Fahrgast neben ihm saß.

Schweigend fuhren sie los. Acacio Varela schien es nicht zu interessieren, ob Lober der Verkehrslärm und die Abgase störten und er viel­leicht lieber das Verdeck geschlossen hätte, oder dass sein Fahr­gast beunruhigt um sich sah und feststellte, dass es keine Si­cherheitsgurte gab. Er drückte aufs Gas, und das alte Vehikel brummte kraftvoll auf. Der Schub drückte Lober in den Sitz, und seine Hand klammerte sich am Türrahmen fest.

Acacio lachte. „Hier musst du so fahren, rubio, sonst nehmen sie dich ausein­ander. Die Gringos sind die Schlimmsten. Sie mieten sich feine Wa­gen, und dann fliegen sie in der zweiten Kurve von der Stra­ße. Weil sie nicht wissen, dass wir hier auch beim Autofah­ren die Stärkeren sind.“

Lober antwortete nicht. Seine Wut wurde immer größer, und am meisten ärgerte er sich über sich selber. Er musterte den Einheimischen neben ihm wie ein widerliches Insekt. Lässig grinsend saß Acacio hinterm Lenkrad, den Arm auf den Rahmen gelegt und wiegte den Kopf im Takt der Musik, als säße er allein im Auto. Er hatte ein feines, fast schon edles Pro­fil, und sein Haar glänzte in der Sonne, pechschwarz. Seine Hän­de waren schmal, feingliedrig und sauber; Lober kam es vor, als gehörten diese Hände zu einem anderen Menschen als zu die­sem unge­hobelten Kerl, der wohl auch noch deutlich jün­ger war als er selbst.

Sie fuhren vom Gelände des Flughafens hinunter auf die Avenida, die aus der Stadt hinaus führte. Es war eine sechsspurige Stra­ße, auf der sich der Verkehr trotzdem gnadenlos staute. Schwere Geländewagen drängten an nebeneinander fahrenden Mopeds vorbei, und im Gewühl bewegten sich Menschen, die ihre Waren den genervten Fahrern zum Kauf anboten: bunte Fähnchen, Knabbergebäck oder Wasserflaschen. Immer wieder passierten sie bun­te, offene Busse, in de­nen Arbeiter in schmutzigen Kleidern und schwatzende Haus­frauen saßen ge­nauso wie Kinder in piekfeinen Schuluniformen. Das Stadtzentrum mit seinen rostfarbenen Hochhäusern passierten sie in kurzer Zeit, und Lober sah ungläubig über den Rand der Karosserie auf kleine Schmiede- oder Schreinerbetriebe, Autowerkstätten, Reinigungen und dann auf eine Menge Blumenläden, die prächtig geflochtene Kränze feilboten. Ein Schild verwies auf das Cementerio Central. Keine breiten Boulevards, wo fein gekleidete Geschäftsleute mit dem Mobiltelefon am Ohr sich den Weg durch den Stau bahnten, keine Arkaden mit Luxusgeschäften, das Stadtzentrum von Bogotá erschien ihm gerade so provinziell wie der Flughafen. Die Häuser am Straßenrand wur­den immer kleiner und ärmlicher, je weiter sie sich wieder vom Zentrum ent­fern­ten. Zwischen den Häusern waren Wäscheleinen ge­spannt, und über­all standen volle Mülltonnen. Doch es schien nie­mand zu inter­essieren, dass sie voll waren: was nicht mehr hin­ein passte, wurde einfach liegengelassen: Speisereste in Plastiktüten, Kar­tons, Flaschen, sogar Mö­bel. Schwärme von Insekten kreis­ten um die Müllberge, und in der Luft hing der säuerliche Ge­ruch von Fäulnis und Gärung. Hunde liefen herum und schnup­perten nach etwas Fressbarem, und ein paar Jungen kickten joh­lend mit Flaschen gegen eine Hauswand. Männer saßen vor den Häu­sern, meist eher not­dürftig zusammen ge­zimmerten Hütten, rauchten und sahen in einen Fernseher, der vor dem Haus auf dem Boden stand. Ihre Frauen tru­gen Klein­kinder ohne Hosen auf dem Arm.

Wahr­scheinlich kam sein Mit­fahrer ja auch von hier, überlegte Lober, verdiente sich ein paar Pesos, in dem er für Morales Gäste vom Flughafen abholte, wenn der offizielle Fah­rer kurzfristig ausgefallen war. Sicher dachte man sich hier: besser ein abgerissener Typ mit einem bunten Amischlit­ten als gar kein Abholservice. Hier war man wohl nicht so professionell und so organisiert, wie Piet dies in New York oder Bethesda erlebt hatte! Bestimmt war es so. Sie kannten hier eben auch diese Höflichkeit nicht, mit der man Ausländern be­gegnet, die noch dazu in einer so wichtigen An­gelegenheit reis­ten. Wenigstens schien er den Wa­gen zu be­herrschen, obwohl Piet sich nicht sicher war, ob dies aufgrund eines rechtmäßig erworbe­nen Führerscheins war.

Was solls, dachte er, ich werde ihm nach der Ankunft ein paar Scheine extra zustecken. Das muss dann aber auch genug sein! Trotz allem gelang es ihm nicht, dieses Ge­fühl der wü­tenden Ohnmacht loszuwerden, das die dreiste Be­grüßung des Kolumbianers bei ihm ausgelöst hatte.

Der große Wagen brummte vor sich hin, und Piet sog geradezu gierig alle Ein­drücke vom Straßenrand in sich auf, nur um endlich diese brennende Wut loszu­werden. Er fürchtete nur noch mehr in die Defensive zu gelangen, und er fühlte sich missachtet, übervorteilt und al­leine.

Bald war nur noch die Straße da, ab und zu ein paar vereinzelte Gebäude, und es ging bergauf. Noch wa­ren die Kak­teen an den Hängen sichtbar, manche über zwei Meter hoch, mit leuchtend gelben Blüten. Doch das dunkle Grün der Bäume wurde immer dominanter, und langsam schluckte es die gelben Kakteen. Nur wenige Fahrzeu­ge kamen ihnen entgegen. Meist waren es die bunten Busse, die hier den Fernverkehr in die ent­legeneren Gebiete be­dienten, dort­hin, wo die großen Kabinen­busse des Trans Milenio mit ih­ren tieflie­genden Fahr­werken niemals gelangten. Die Straße wurde schmaler und wand sich sanft den Berg hin­auf. Piet sah der Seil­bahn nach, die auf das Kloster zuschwebte, und er ge­noss es, dass nun der Lärm der riesi­gen Stadt hinter ihnen lag und nichts weiter zu hören war als das Ge­räusch des Mo­tors.

Und die Musik. Anfangs war sie laut und störend gewesen, nervige Akkordeon- und Bläser-Klänge, aber jetzt spiel­ten sie eine schöne Ballade, gesun­gen von zwei Männern mit eindringlichen Stimmen. Piet kon­zentrierte sich auf die Stimmen und auf die sanften Gitarren­riffs. Es war ein Liebeslied, wohl an eine Frau namens Yo­landa, denn am Schluss sangen sie, sehr innig zwar, aber ohne jede Spur von Kitsch:

Yolanda, Yolanda, eternamente Yolanda.

Einen Moment lang dachte er an Silvia, und langsam beruhigte er sich.

Vielleicht war das ja aber auch gar nicht der Fahrer! Vielleicht würde Acacio Piet irgendwohin bringen, wo die Wagen ge­tauscht und besagter Fahrer der Universität mit einem offiziellen Fahrzeug auf ihn wartete. Lober atmete durch und über­wand sich schließ­lich zu der Frage, wo sie denn den Fahrer der Universität treffen würden.

Acacio runzel­te die Stirn. „Es gibt keinen Fahrer der Universität.“

Wie?“ fragte Lober, „Professor Morales hat Sie…“

Weiter kam er nicht. Acacio fixierte ihn durch die dunkle Sonnenbrille und schien die Luft ange­halten zu haben. Dann trat er mit einer solchen Wucht auf die Bremse, dass die Räder blo­ckierten, und der große Wagen zu schlingern be­gann. Lober schrie auf und klammerte sich am Sitz fest, die Augen weit aufgerissen, als das Fahrzeug auf den Straßenrand zu schleuderte. Steine wir­belten um den Wagen, der schließlich in einer Staub­wolke zum Stehen kam.

Acacio riss sich die Sonnenbrille herun­ter, und sein Gesicht war voller Staub und rot vor Zorn. Dann zischte er Lo­ber an:

„Raus!“

Piet blieb sitzen, wie gelähmt. Mit blödem Blick starrte er die Person ihm gegenüber an, die ihn aus dunklen Au­gen anblitzte, schwer atmend und mit deutlich hervortreten­den blauen Adern am Hals. Piet hatte keinen Gedanken im Kopf, nicht mal Angst oder Wut, nur ein großes, schwarzes Loch.

Acacios Stimme wurde lauter. „Raus!“

Wie von einer fremden Hand ge­führt öffnete Lober die Wagentür und stieg aus. Seine Knie zit­terten noch vom Schock des Schleuderns. Er nahm seinen Blick nicht von Acacio, als bereite­te er sich darauf vor, den An­griff eines wilden Tieres zu parie­ren, und hielt sich am Türrahmen fest. Lang­sam wich der Schock, und Wut stieg in ihm hoch. Was pas­sierte denn jetzt?

Aca­cio war ebenfalls ausgestiegen und hatte die Wagen­tür zuge­schlagen. Jetzt standen sie sich gegenüber, das Auto wie ein Boll­werk zwischen ih­nen.

Allmählich fand Lober seine Fassung wie­der und krampfte seine Hände um den Türrahmen, als wolle er das Fahrzeug hochheben und auf den Mann ihm ge­genüber werfen. Du wirst mich jetzt nicht noch einmal runter­machen, du Habenichts, grollte er in sich hinein, ich bin hier der Gast, und ich bin der, der zahlt! Du kannst froh sein, dass ich mich auf das verlaus­te Polster deines Schrotthaufens hier ge­setzt habe! Ich gebe dir auch die Möglichkeit, mal was ande­res zu tun als fernzusehen und zu rauchen und heute Abend was anderes zu essen als Reis und Bohnen. Dann bleiben dir noch ein paar Tage mehr, bevor du endgültig vom Fleisch fällst, Hun­gerleider! Und jetzt sag was, sag was, du wirst schon sehen, was kommt!

Als habe er die Aufforderung von Piets Augen abgelesen, ballte Acacio seine Faust und schrie:

„Jetzt hör gut zu, Alemán! Wir brauchen dich hier nicht. Ich habe dich nicht gerufen. Ich habe zu Morales gesagt, ich brauche Medikamente. Damit nicht noch mehr Leute im Dorf ster­ben, brauche ich Medika­mente, und keinen Herrn im feinen Hemd, der mich zu seinem Dienstboten macht. Ich bin Wissenschaftler, wie du! Ich bin der Beste, den Morales hat, und du wirst hier mit mir arbeiten und das tun, was wir brauchen! Wenn du noch einen Ton sagst, dann kannst du nach Casillas laufen. Viel­leicht zeigt dir ja dein schickes Mobiltelefon, wo es langgeht, viel­leicht bricht dir in dieser Höhe auch der Kreislauf zusammen. Mir egal. Du bist hier nicht zuhause, entiendes?“

Lober schluckte. Die Situation hatte eine Wendung genommen, mit der er nicht gerechnet hatte; er war schwer beeindruckt.„Ich habe Ihnen nichts getan, Señor Varela, und ich finde es scha­de, dass Sie so von mir denken.“

Acacio blitzte ihn an; er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, runzelte dann aber nur die Stirn und knurrte: „Einsteigen.“

Sie fuhren weiter.

Piet kochte vor Wut. Gut, dieser Acacio war offensichtlich wohl weder ein Habe­nichts noch ein Tagelöhner, aber was bildete sich der Kerl ein? Wenn sie al­les selber in den Griff bekommen könnten, warum hatte Mora­les dann Himmel und Erde in Bewegung ge­setzt, da­mit er, Lo­ber, so schnell hatte herkommen können? Wie alt mochte der Kolumbianer sein? Höchstens fünf- oder sechsundzwan­zig. Was konn­te der schon?

Aber woher kam dann sei­ne eigene ver­dammte Unsicherheit? Warum konnte er sich nicht wehren? Warum saß er hier wie ein Trottel, überfahren vom Stolz und der Selbstverständlichkeit dieses Jungen, dem es offen­sichtlich vollkommen gleichgültig war, wen er vor sich hatte? Dieser Kerl hatte ihn mit ein paar scharfen Wor­ten ins Hin­tertreffen gebracht! Und nicht nur das, er ließ es Piet auch deutlich spüren; es schien ihm geradezu kindliche Freude zu be­reiten, ihn zu de­mütigen! Warum ließ er so mit sich umspringen? Der kleine, schwarzmähnige Giftzwerg kannte ihn doch gar nicht! Er, Dr. Piet Lober, war gekommen, um seine kranken Landsleute zu retten, und der tat, als sei er ein Eindringling, ein gemeiner Schädling, der nur den Wilden zeigen wollte, dass die Europäer die Antwort auf ihre Fragen kennen.

Die Straße schien kein Ende zu nehmen. Wie ein steinernes Band wand sie sich am Rand der Berge entlang, immer tiefer in den Regenwald. Mit jedem Meter wurde die Vegetation auf beiden Seiten dichter und unwirtlicher. Es war kaum noch möglich, einzelne Bäume zu erken­nen; nur ihre Kro­nen ragten hinaus, und unter ihnen wu­cherte der Dschungel, grün und mächtig. An den Bäumen hin­gen lange Luftwurzeln, an denen wieder neue Büsche wuchsen. Helles Mint­grün misch­te sich mit Khaki und Türkis, und überall spürte man die Feuchtigkeit, trotz der immer dünner werdenden Luft und obwohl die Son­ne noch hoch stand. Neben der Straße fiel der Berg steil ab, und wenn man in das Tal sah, so schien das ganze Land bedeckt von diesem Pelz aus Grün. Die große Stadt, aus der sie gekommen waren, war schon lange vom Grün ver­schluckt wor­den.

Piet sah in die Landschaft. Sie wirkte auf ihn wie ein zu stark kolorierter Kinofilm aus den Fünfzigern, übertrieben, schwülstig und aufdringlich. Und dazu die Luft! Keine Abgase mehr, aber mit jedem Meter, den sich die Straße höher wand, schwand der Sauerstoff. Lober spürte seinen Puls, der immer schneller wurde, und er spürte auch die Atemnot, die grin­send in jede Faser seines Körpers kroch, als wolle sie ihn zu­sätzlich quälen, zusätzlich zum Straßenstaub, den quäkenden Tönen aus dem Kassettendeck und dem widerwärtig lässigen Latino-Ma­cho hinterm Lenkrad! Piet mus­terte Acacio aus dem Augenwin­kel mit größt­möglicher Gering­schätzung und überleg­te sich, ob es wohl schwer wäre, ihn mit einem Tritt aus dem Wagen zu befördern, in den dichten Schlund der ewigen grünen Jagdgründe. „Vergiss es, Lober,“ dachte er bitter, „er fährt.“

Er war auf ihn angewiesen, das war ja das Kreuz! In dieser Wildnis war er verloren! Wahrscheinlich fuhren sie gerade durch Gue­rilla-Gebiet und waren nur noch nicht ange­griffen wor­den, weil dieser mickrige Bengel im Auto saß! Er, Dr. Piet Lo­ber, spielte in dieser Welt keine Rolle; schlimmer hätte es nicht kommen können!

Was war mit den Medikamenten? Wo waren sie? Wurden sie richtig gelagert? Wer außer Acacio kannte sich aus vor Ort? Waren die Medikamente überhaupt in Casillas del Bosque angekommen? Morales hatte den Eingang in Medellín bestätigt und versichert, dass sie umgehend mit einem Kühlfahrzeug ins Hochland gebracht und dort in der lokalen Krankenstation bereitgestellt würden.

„Lokale Krankenstation,“ dachte Lober, „wie das schon klingt! Wir haben es hier mit einer Epidemie zu tun, von der niemand weiß, welches Ausmaß sie noch haben wird, und die tun, als ginge es um Windpocken!“ Piet malte sich aus, wie das Paket neben Fäs­sern mit Altöl, Küchenmüll und Contai­nern mit Blut, Urin- und Stuhlpro­ben auf der Ram­pe eines schmutzigen Gebäudes stand, mitten im Regenwald. Viel­leicht würde es einem Angestellten auffallen, weil ein solches Paket vorher noch nie in der Station angeliefert worden war, und viel­leicht würde das Paket dann ja seine nächste La­gerstätte im Büro des Stationsleiters finden - da, wo alles hin­kam, wo­für man nicht unmittelbar Verwendung hatte. Auch dann wüsste wohl immer noch niemand, was damit anzu­fangen war, weil das Fax, mit dem Morales die Sendung ange­kündigt hatte, seit Tagen mangels Papier im Ge­rät wartete. So würde der brave Stationsleiter die Sendung dann als Irrläufer vom nächsten Boten zurück nach Medellín bringen lassen. Piet schauderte bei dem Gedanken. Das Medikament, das sein Insti­tut zur Verfügung gestellt hatte, war hochwirksam, vorausge­setzt, es wurde richtig gelagert und angewandt. Und nicht von einem, der aussah wie ein Mitarbeiter der Putzkolon­ne, und der wohl auf die gleiche Art und Weise zu seinem medi­zinischen Abschluss gekommen war wie zu seinem Führer­schein. Er habe Medikamente angefor­dert und keinen Arzt! Was hatte Acacio denn erwartet? Dass sie ein Paket bekämen mit der Aufschrift Dreimal täglich 1 Kapsel? Piet lachte verächtlich in sich hinein. Junge, Junge, was hast du denn studiert?

Seit sieben Jahren arbeitete das Institut für Tropenkrankheiten nun schon mit der Universität Medellín zusammen. Die Ergebnisse waren immer aufschlussreich und zufriedenstel­lend ge­wesen, denn der Regenwald mit seiner nirgendwo sonst auf der Welt so reichhaltigen Flora und Fauna bot einen idealen Nähr­boden für alle möglichen Erreger. Das feuchte Klima und die gleichbleibende Umgebung durch die fehlenden jahres­zeitlichen Schwankungen hier in Äquatornähe sicherten den Virologen, Bakteriologen und Immunologen im Institut ein nicht enden wollendes Patientengut, obwohl die Umstände, un­ter denen hier gearbeitet wurde, alles andere als förderlich wa­ren. Hier im Dschungel Kolumbiens, in dem die abgelegenen Dörfer nur durch Tram­pelpfade zu erreichen waren, breiteten sich Krankheiten rasch und außerhalb der betroffenen Ansied­lungen unbemerkt aus. Hilfe kam meist erst dann, wenn es zu spät war. Ausge­dehnte Sumpfgebiete erschwerten die Hilfeleis­tung, zusätzlich zu den Banden der lokalen Drogenfürsten, de­nen nicht viel daran gele­gen war, Fremde auf ihrem Territorium zu wissen. Und für die paar Kuriere, die ihnen wegstarben, gab es leicht Ersatz. Offizi­ellen Angaben zufolge kämpften die Behörden des Lan­des intensiv gegen den Drogenschmuggel, aber es war dann doch erstaunlich, wie wenig sich im Laufe der sie­ben Jahre ge­ändert hatte. Auch Professor Morales hatte dem Institut versichert, dass die Regierung in dieser Region hart durchge­griffen und große Erfolge erzielt hätte. Aber das ganze Institut wusste, dass der verzweifelte Mann nur versuchen wollte, seine armen Landsleute zu retten in dieser grünen Hölle, die selbst von den Einheimischen „Malverde“ - Unkraut – genannt wurde. Zur Zusammenarbeit zwischen Morales und dem Insti­tut war es nach dem Gastaufenthalt des Kolumbianers in Ham­burg gekommen. Jedes Jahr besuchte nun eine Gruppe des In­stituts die Uni­versität Medellín und einige Forschungsstationen im Regenwald - alles Trabanten der großen Wissenschaft in einer Welt, die den Deutschen fremd blieb. Sie verbrachten die Tage und Nächte unter sich in der Unwirtlichkeit des Dschungels, ohne je­mals mit der Bevölkerung in Kontakt gekommen zu sein. Die Proben wurden von Bo­ten gebracht, die Untersuchungsergeb­nisse genauso wieder abtrans­portiert und die Mediziner und Naturwissenschaftler ar­beiteten, schliefen und aßen in ihren Stationen. Wenn das Projekt ab­geschlossen war, überließen sie den einhei­mischen Kollegen wieder die Szene. Eine Publikation in einem an­gesehenen Fach­blatt – das war alles. Nicht einmal die Zahl der To­desfälle wurde er­wähnt. Aber das neue Medikament ging bald in die klinische Prüfung.

Eines Tages war der Hilferuf von Morales gekommen. In einem Indio-Dorf im Hochland hatten schwere In­fektionen zu Todesfällen unter Alten und Kleinkindern geführt. Die Aufzeichnun­gen dokumentierten das gleiche Krankheitsbild, mit dem sich Piets Arbeitsgruppe beschäftigt hatte, und Lober hatte seinem Mentor versichert, dass die Medikamente vor Ort erfolgreich einsetzbar seien. Doch dieser beharrte auf dem Standpunkt, dass „die da unten das viel besser alleine können.“ Aber Lober hatte nicht locker gelassen. Nach langen Telefonaten mit Mora­les war schließlich auch der Mentor einverstanden gewesen, freilich nicht ohne Piet vorher die Bestäti­gung abzurin­gen, dass er die Reise auf eigene Gefahr unter­nahm.

Lober ließ die Medikamente verschicken und das Institut erhielt kurz darauf eine Nachricht mit der Bitte um einen weiteren Wirkstoff, der an einem anderen Ort von Nutzen wäre; auch diese Sendung verließ Hamburg.

Aber hatten die Medikamente auch wirklich Medellín verlassen? In ei­nem Kühlfahrzeug, wie von Morales zugesichert? Kol­legen, die schon einmal dort gewesen waren, hatten von wah­ren Horrors­zenarien berichtet, die sich beim Transport von Ge­räten und Medikamenten zugetragen hatten: Fahr­zeuge ohne oder mit nur unzureichender Kühlung, Fahrer, die keine Ahnung hatten, wo die Station war, und die nicht einsahen, warum et­was so wichtig sein konnte, dass man von ei­nem ausgedehnten Plausch mit dem Compadre und eini­gen Runden Kautabak und einem Nickerchen hätte Ab­stand nehmen sollen!

Warum fragst Du nicht einfach das Großmaul neben dir, über­legte Lober. Aber was würde der schon wissen? Der war doch bestenfalls mal beim Fiebermessen dabei! Wenn schon sein Professor einfach eine zusätzliche Sendung Medikamente be­stellt hatte, die vielleicht irgendwo einzusetzen waren!

Piet atmete tief ein. „Wissen Sie, ob die Medikamente da sind?“

„Sie sind da,“ antwortete Acacio, ganz ruhig, ohne Piet anzusehen. „Sie lagern im Rathaus. Das ist der einzige Ort, an dem fast nie der Strom ausfällt.“

„Wie bitte?“

„Mach dir keine Sorgen,“ versicherte Acacio, „alles ist in Ordnung. Beide Sendungen sind da, unversehrt und sachgemäß ge­lagert. Wir können sofort anfangen.“ Er sah zu Piet rüber und grinste. „Stimmt wirk­lich, Alemán.“

Lober starrte auf den langen Kühler des Wagens. Warum auf einmal so freundlich, warum nicht wieder eine Szene? Aber er war erleichtert darüber, dass der Kolumbianer nicht wieder die Beherrschung verloren hat­te, als hätte er Piets ab­fällige Gedanken die ganze Zeit über le­sen können. Lober leg­te keinen Wert darauf, hier endgültig aus dem Auto geworfen zu werden. Wo­möglich wa­ren sie noch meilenweit von der nächsten Siedlung ent­fernt, und sicher lebten hier ohnehin nur noch Guerilleros, Drogenschmuggler oder Indios, die womög­lich nicht einmal Spanisch sprachen. Immerhin schien es in Ca­sillas ein Rathaus zu geben!

Piet lehnte sich zurück. Na, Freundchen, dachte er, dann wollen wir mal sehen, was du unter Unver­sehrtheit und bester Lagerung verstehst! „Wie lange fahren wir noch?“

„Noch eine halbe Stunde. Du wohnst in dem Hotel direkt bei der Kirche; das hat den Nachteil, dass du die Glocken hörst, aber den Vorteil, dass die Zimmer dort Telefon haben.“

Wie würde wohl Acacio auf seine Arbeit hier reagieren? Glaubte er im Ernst, ihm, Piet, sagen zu müssen, was zu tun sei? Wer hatte den Wirkstoff definiert? Wer hatte denn die Arbeiten im Vorfeld gemacht und er­folgreich publiziert? Piet Lober! Das würde Señor Varela wohl einse­hen müssen! Aber was, wenn er wieder einen seiner Wutanfälle bekäme? Nein, das wür­de er nicht wagen vor seinen Leuten, die nur eins wollten: dass sie und ihre Angehörigen bald wieder gesund waren. Aca­cio würde ganz schnell merken, dass er wenig ausrichten konn­te! Lober spürte Genugtuung aufsteigen. Tut mir ja leid für dich, mein Junge!

Die ersten Häuser der Stadt tauchten hinter der nächsten Kurve auf. Erst verlassene Gebäude ohne Fenster, dafür mit umso mehr Graffiti an den Wänden, Parolen gegen die Regierung und gegen den Bürgerkrieg, das Konterfei von Che Guevara „hasta la victoria siempre“, dann bewohnte Häuser, ein- oder zweistöckig, eng aneinander gebaut, bunt ver­putzt und mit ebenso bunten Fensterläden und flach abfallenden Dächern. Im Licht der unter­gehenden Sonne wirkten sie malerisch und fröh­lich wie eine überdimensionale Puppenstube. Es dufte­te nach Abendessen. Die Straßen wa­ren menschenleer, und Piet stellte sich vor, wie sie jetzt in den Häusern alle um einen großen Tisch herum saßen und auf die vollen Schüsseln warteten. Er spürte den Hunger auf­steigen, und zu gerne hätte er Acacio gefragt, was es denn hier norma­lerweise zu essen gäbe, mal abgesehen von Reis und Bohnen, denn Reis und Bohnen können gar nicht so köstlich duften. Er erinnerte sich an die Fajitas, die sie in New York gegessen hatten, knuspriges, geschnetzel­tes Rindfleisch mit gebratenen Paprika und Zwie­beln, kräftig gewürzt, dazu eine Schale mit Endiviensalat, Avo­cadocreme und Sauer­rahm und dampfende Tortillas! Kurz vor seiner Abreise hatte er einen peruanischen Doktoran­den gefragt, was denn im Andenhochland gegessen würde, und der hatte nur grinsend geantwortet: „Reis und Bohnen.“

Jetzt waren sie wohl im Zentrum von Casillas angekommen, denn vor ihnen tat sich ein weiter Platz auf, vor einer großen, weißen Kirche mit dem typi­sch geschwungenen Dachfirst und einer weithin sichtbaren schwarzen Glocke. Die Kirche warf einen langen Schatten, und ihre Erhabenheit flößte dem Platz und den Häusern einen solchen Respekt ein, dass sie sich in Schweigen hüllten. Piet erinnerte sich an eine Western­kulisse und schmunzelte. Er sah sich um und überleg­te, welches der Häuser wohl das Rathaus mit dem dringend benötigten Schatz darin sei, aber die Häuser unterschieden sich nur in der Farbe ihres Verputzes und nicht in ihrer Größe. Keines der Häuser erschien ihm eines Rathauses würdig. Er sah auch nir­gendwo eine Fahne auf dem Dach, ein Stadtwap­pen oder sonst irgendein offizielles Zeichen. Das einzige Schild, das er sah, hing über dem Eingang eines hellbraunen Ziegelbaus und trug die Aufschrift Cantina; unweigerlich meldete sich sein Hunger wieder.

Die wenigen Leute, die noch auf dem Platz waren, blieben stehen und sahen neu­gierig dem Wagen nach. Acacio winkte her­aus, grüßte lachend, und Piet nickte verlegen mit dem Kopf. Wussten sie, wer er war? Oder hielten sie ihn für einen Touristen, der, wie Acacio erzählt hatte, mit seinem Mietwagen eine Panne gehabt hatte und nun in Casillas Notunterkunft nehmen sollte? Was für eine Vorstellung!

Der Kolumbianer stoppte den Wagen vor dem kleinen Hotel bei der Kirche, sprang heraus und öffnete den Kofferraum.

„Es ist alles vorbereitet für dich.“ Er deutete auf das Hotel. „ Ich hole dich morgen früh um acht Uhr ab. Es ist wichtig, früh anzufangen, bevor die Sonne zu stark wird. Wir haben hier ein massives Ozonproblem. Buenas noches.“ Eine flüchtige Handbewegung, ein Grinsen, dann drehte er sich um und ging.

Piet konnte so schnell nicht antworten. Was sollte er auch sagen? „Danke, dass du mich jetzt doch bis nach Ca­sillas gefahren hast? Danke, dass ich morgen einen Sonnen­brand und in zehn Jahren Hautkrebs ha­ben werde? Wo bekomme ich jetzt hier noch etwas zu essen? Herrgott, was solls!“ Er schlug den Kof­ferraum zu und schleppte sein Gepäck zum Hotel.

Das Zimmer war hell und freundlich, an den tapetenlosen Wänden hingen braun-beige-rot gemusterte Wandteppiche, und der Ziegelfußboden verströmte ein warmes, gemüt­liches Licht. Auf dem riesigen Bett lag eine Wollde­cke, die sich bei nähe­rem Hin­sehen als zwei zusammengenähte Ponchos entpuppte. Von einem Fenster aus konnte man auf den Marktplatz sehen, das ande­re zeig­te auf einen großen, verwilderten Garten mit blü­henden Büschen und wilden Rosen dazwischen. Erneut kam Piet sich vor wie im Kino; als käme als nächstes der Revolver­held mit dem unver­meidlichen blauen Poncho um die Ecke.

Er ließ das Gepäck fallen und setzte sich aufs Bett; es war hart wie ein Brett. Prima, dachte er, wie hätte es auch anders sein sollen?

Aber - das Telefon! Da stand es! Seine Verbindung zur zivilisierten Welt! Piet sah auf die Uhr. Henning ging nie vor eins ins Bett; er würde ihn noch er­reichen.

Er nahm den Hörer ab und überlegte sich, wann er zuletzt mit einem Apparat mit Wähl­scheibe telefoniert hatte. Das Signal ertönte, die Nummer war frei. Henning meldete sich verschlafen.

„Wie,“ fragte Piet, „du warst schon im Bett?“

„Hallo? Wer ist denn da?“

„Ich bins, Dicker, Piet. Ich bin in Casillas.“

„Hallo, Urwalddoktor! Schön zu hören, dass Du noch lebst.“

„Ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher!“ Piet musste auf einmal lachen. „Ich weiß auch noch nicht, in welchem Film ich hier bin.“

„Warum?“ Henning schien auf einmal hellwach.

„Naja,“ sagte Lober, „mein Zimmer hat Ähnlichkeit mit einer Pfadfinderherberge, und der Ort sieht aus wie bei Sergio Leo­ne. Aber das Schlimmste ist mein Mitfahrer – ein Prachtexem­plar von Latino-Macho, ist wegen jedem Driet sofort beleidigt und kann vor Stolz kaum geradeaus laufen. Wahrscheinlich deckt er sich auch noch nachts mit der kolumbianischen Fahne zu; sein Auto hat er jedenfalls gelb-blau-rot lackiert.“

„Und wer ist das?“

„Wohl ein Mitarbeiter von Morales. Was heutzutage nicht alles einen Abschluss bekommt!“

„Langsam, Piet,“ mahnte Henning, „spiel nicht gleich den Chef, ja? Das mögen die bestimmt nicht!“

„Bingo! Und mit meinem Begleiter habe ich das ganz große Los gezogen!“

Henning kicherte. „Dicker, al­les, was nicht tötet, härtet ab! Denk dran, es war dei­ne Idee! Und du kriegst das auch auf die Reihe, das weiß ich! Ruf mich an, wenn es brennt. Gute Nacht.“

Piet war todmüde, aber der Hunger war stärker, und so beschloss er, noch rasch die Cantina zu besuchen. Er ging zum Waschbecken, um sich den Staub und den Schweiß aus dem Gesicht zu waschen, und er war erstaunt, als das Wasser kühl und sauber über seine Hände lief. Neben dem Waschbecken hing ein sauberes Handtuch, und es gab sogar ein Glas für die Zahnbürste. Piet betrachtete sich im Spiegel und wiederholte langsam Hennings Worte: „Du kriegst das auf die Reihe.“

Bereits auf dem Platz hörte er Stimmen aus der Cantina, doch beim Eintreten stellte er erstaunt fest, dass die Gaststube leer war, und dass die Stimmen aus dem Fernseher kamen, der in einer Ecke hing. Hocker ohne Lehnen standen in der Cantina um runde Tische, nur an der Wand gab es eine lange Tafel mit Bänken. An den Wänden hingen Wandteppiche wie in seinem Hotelzimmer und über dem Tresen ein großes Foto der kolumbianischen Fußball-Nationalmannschaft, das, wie Piet der Un­terschrift entnehmen konnte, aufgenom­men worden war, nachdem die Kolumbianer Argentinien, das große Argentinien, aus der Copa América geworfen hatten. Hinter dem Tre­sen hingen Flaschen mit Hochprozentigem, anschei­nend hauptsächlich lokale Produkte, denn außer einem Osbor­ne Veterano kannte Piet keine der Marken. Eine wuchtige, alte Kaffeemaschine thronte inmitten von Tassen aus glasiertem Steingut, den dazugehörenden Untertellern und den Gläsern, auf bunte Tü­cher gestülpt: al­les sehr sau­ber und aufgeräumt. Knabbereien, Süßig­keiten und die langen Gebäckstangen, wie sie wohl in Knei­pen in jedem Winkel der Welt zu finden sind, waren in ei­nem Holzgestell an der Wand gestapelt. Daneben hing ein mit Palmzweigen und bunten Bän­dern ge­schmücktes Bild der Jungfrau Maria, hinter das einige handbe­schriebene Zettel ge­schoben worden waren, als hätten sich die hiesigen Zecher bei der Madonna bedankt, da diese wohl noch größeren Schaden durch Alkohol von ihnen abge­wendet hatte. Neben dem Tresen führte ein mit einem Perlen­vorhang ver­deckter Eingang in die Küche, aus der es deli­kat duftete.

Piet wollte sich gerade setzen, da entdeckte er ein Regal mit Schachbrettern und mit Namen beschrifteten Schachteln, wohl mit den Figuren dar­in. Er war beeindruckt; noch nie hatte er so viele Schachbret­ter auf einmal gesehen, und er hatte dies als letztes erwartet in der Kneipe eines kolumbianischen Hochlandstädtchens, das vermutlich erst seit kurzem elektrischen Strom hatte. Gerade wollte er eine der Schachteln näher betrachten, als ihn eine Stimme freundlich begrüßte.

Piet drehte sich um und sah eine grazile Frau in den Fünfzigern mit einem herben, sehr schönen Gesicht und zusammengebundenem, schwarzem Haar.

„Möchten Sie essen?“

Piet konnte, irritiert von der eleganten Ausstrahlung der einfach gekleideten Frau, nur mit dem Kopf nicken.

„Bitte setzen Sie sich.“ Die Frau legte ein Kissen auf den Hocker. Lober brachte noch immer keinen Ton heraus.

„Der Eintopf ist vorzüglich heute! Etwas Brot dazu?“

„Gerne,“ antwortete Piet hastig, „und ein Bier, bitte.“

Die Frau lä­chelte ihn an. „Sind Sie aus Deutschland?“

Piet blieb der Mund offen, und er är­gerte sich, dass er offen­bar doch mit sehr starkem Akzent zu sprechen schien.

„Ja, ich bin aus Deutschland. Merkt man das an meiner Aussprache?

„Nein, Señor. Ihr Spanisch ist vorzüglich, ich dachte nur an Ihr helles Haar und an Ihren Wunsch nach Bier.“

Piet musste lachen. „Was trinken die Männer denn hier?

Die Frau deutete auf die Flaschen im Regal. „Agua Ar­diente, das kolumbianische Nationalgetränk, das man mit oder ohne Wasser trinken kann.“ Sie lachte. „Doch nun essen Sie erst einmal!“ Dann reichte sie ihm die Hand und sagte: „Willkommen in Casillas del Bosque, Señor. Ich bin Flor de Maria.

„Piet Lober,“ stammelte der Deutsche. Flor de Maria – was für ein Name! Piet versuchte sich an all die Gattinnen seiner hochdekorierten Professoren zu erinnern, und ihm fiel keine einzige ein, die auch nur annähernd eine Dame gewesen wäre wie die­se kolumbianische Wirtin!

Der Eintopf war ausgezeichnet. Eine kräftige Brühe mit schwarzen und roten Bohnen darin, Fleisch, Mais und kartoffelähnli­chem Wurzelgemüse, das aber viel aromatischer schmeckte als das, was Piet von zuhause kannte. Er genoss es, wie die warme Köst­lichkeit seine Speiseröhre hinunterlief und sich in seinem Ma­gen ausbreitete, als wolle sie ihn für allen Ärger und allen Unbill des heutigen Tages entschädigen und nicht nur seinen Körper sätti­gen, sondern auch seine Seele mit ihrem Duft und ihrem Aroma streicheln und ihn auf eine entspannte und erhol­same Nacht vorbereiten. In diesem Moment schwor sich Piet, dass er nie wieder etwas anderes essen wollte!

Nachdem er bezahlt hatte schenkte Flor de Maria ihm noch ein kleines Glas des berühmten Agua Ardiente ein und wünschte ihm eine gute Nacht. In seligem Dämmerzustand kehrte Piet in das kleine Hotel zu­rück und schlief kurz darauf erschöpft ein. Alles war weggefegt, die Wut, die Unsicherheit, der Ärger, der Dreck, der Staub, die Höhenluft und vor allem Acacio Varela.

Malverde

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