Читать книгу Der Ruhestand: Perspektiven eines Arbeitslebens - Brigitte Geldermann - Страница 7

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis etwa 1970 hat sich in allen Industriestaaten eine generelle Ruhestandsphase für männliche Arbeitnehmer ab etwa dem 65. Lebensjahr durchgesetzt. Die „Erwerbsbeteiligung3“ über 65-jähriger Männer sank in USA, Frankreich, Schweden, Großbritannien und Deutschland von 60 – 69 Prozent um 1900 auf zwischen 17 und 29 Prozent im Jahr 1970 (Kohli 1992, 239). 3 Dieser Terminus der Arbeitsmarktstatistiken ist ein Euphemismus: Die für viele bittere Notwendigkeit, sich von einem Unternehmen nach dessen Kriterien benützen zu lassen, um überhaupt eine Chance auf einen Lebensunterhalt zu haben, wird ausgedrückt als autonome Entscheidung für Erwerbstätigkeit.

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Weibliche Arbeitskraft schneller verschlissenDie Rentenreform von 1957 regelte eine einheitliche Altersgrenze für Angestellte und Arbeiter. Danach erhielten weibliche Versicherte, die das 60. Lebensjahr vollendet haben, auf Antrag Altersruhegeld, wenn sie die Wartezeit erfüllt und in den letzten 20 Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hatten (§ 25 Abs. 3 AnVG in der Fassung des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 23. Februar 1957 [BGBl. I S. 88]). Die Einführung einer besonderen Altersgrenze für Frauen ging dabei auf einen Vorschlag des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik zurück. Zur Begründung der vom Regierungsentwurf abweichenden Regelung führte dieser in seinem Bericht aus (BT Drucks. II/3080, S. 10 zu § 1253): „Bei dieser besonderen Altersgrenze für Frauen hat sich der Ausschuß davon leiten lassen, daß die versicherte Frau vielfach einen Doppelberuf als Arbeitnehmer und Hausfrau erfüllt hat, der eine frühzeitige Abnutzung der Kräfte und damit frühzeitige Berufsunfähigkeit hervorruft“(zit. nach Hermann 1984, 144).Die Anspruchsvoraussetzungen für die vorgezogene Altersrente für Frauen wurden verschiedentlich modifiziert. Sie gilt seit dem 01.01.2012 nur noch übergangsweise für die Jahrgänge bis 1951. Der „Doppelberuf“ der Frauen begründet heute keine besondere Rücksichtnahme mehr.

Mit Erreichen des Ruhestandsalters wird die ältere Arbeitsbevölkerung von der regulären Erwerbsarbeit ausgeschlossen und alimentiert bzw. auf Hilfsjobs verwiesen. Die Masse der Beschäftigten ist nicht in der Lage, sich nach einem arbeitsamen Leben zur Ruhe zu setzen und von den Früchten der Arbeit den Lebensabend zu genießen: Dafür würde schließlich jeder einzelne selbst den seinem Vermögen und seinen Bedürfnissen entsprechenden Zeitpunkt bestimmen. Vielmehr wird vom Staat ein Alter festgelegt, ab dem ein Arbeitnehmer Anspruch auf eine Rente hat und damit in der Regel seine Berufstätigkeit aufgibt. Unabhängig von der jeweils ausgeübten konkreten Tätigkeit erhält die Arbeitskraft ein Verfallsdatum, mit dem sie als verbraucht gilt. Eine individuelle Gesundheitsprüfung ist nicht nötig, denn es herrscht Gewissheit darüber, dass die Arbeit, die in Fabriken und Büros verrichtet wird, nach 40 Jahren nicht mehr auf dem geforderten Leistungsniveau zu schaffen ist. Und dieses Leistungsniveau ist fix: Nur wer ihm gerecht wird, erhält und behält einen Arbeitsplatz. Erleichterungen für Ältere gibt es nur gegen erhebliche Lohneinbußen in Pförtner- oder ähnlichen Jobs. Mit 60 oder 65 Jahren stehen viele Politiker, Künstler und Aufsichtsräte im Zenit ihrer Laufbahn, der „kleine Mann“ ist dagegen für die Wirtschaft Invalide. Alter wird zu einem der Risiken des Arbeitslebens und zum Topos der Sozialpolitik.

Der Ruhestand: Perspektiven eines Arbeitslebens

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