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Vererbte Heimat?
ОглавлениеEigentlich beginnt alles mit einer ziemlich komplizierten Frage: „Sind wir Nachgeborenen, wir im Exil unserer Eltern zur Welt gekommenen Nachkriegskinder noch Ostpreußens oder Masurens Kinder?“ Sie berührt die Frage nach der eigenen Identität.
Wir also sind die Nachgeborenen, keine Eingeborenen, auch keine dort Geborenen. Wir sind hineingeboren in ein Dasein zwischen Baum und Borke. Ist sie wirklich eine Gnade, diese späte Geburt? Die Gnade nicht nur die deutsche Schuld, sondern auch das Trauma nicht selbst erlebt zu haben?
Wir sind nach etwas geboren, nach dem großen Schnitt, nach dem großen Trauma, nach dem großen Verdrängen. Nachgeboren – nach einem harten Schnitt begann mit uns ein neuer Film, als ob es nie ein vorher gegeben hätte.
Hätten sie es Heimat genannt, wäre für mich als Kind vieles leichter gewesen. Aber dieses Wort benutzten sie nie, sie sagten immer zu Hause, wenn sie Ostpreußen meinten.
Die Ungereimtheiten in der Begriffswelt meiner Angehörigen beschäftigten mich. Wieso sagten die bloß immer zu Hause, wenn sie Ostpreußen meinten? Waren wir denn nicht in Stade zu Hause? Wir hatten doch hier unser Haus, wieso hatten sie das dann überhaupt gebaut? Oder konnte ein Mensch mehrere „Zuhause“ haben?
Das verunsicherte mich. Ich kannte dieses andere Zuhause ja nicht, konnte vor allem damals als kleines Kind nicht ermessen, was sie verloren hatten. Wahrscheinlich würde ich dieses alte Zuhause auch nie kennenlernen. Ich fühlte mich dann ungerecht behandelt, vor allem aber ausgeschlossen von einem zentralen Bereich des Lebens meiner Familie. Als Einzige war ich hier geboren und betrachtete das als einen Makel. War ich nicht gut genug gewesen, in diesem Paradies geboren zu sein? War ich ein solch böses Kind, dass ich nicht im Familienparadies aufwachsen durfte?
Besonders in meinen frühen Kinderjahren mit dem noch geringen zeitlichen Abstand war der Krieg mit dieser für sie finalen Katastrophe das bestimmende Ereignis im Leben der ganzen Familie.
Dieses traumatische Kernerlebnis war in den mich prägenden Jahren immer präsent. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand änderten sich die Gewichtungen dann etwas, viele neue Eindrücke kamen dazu. Das Aufbauen, der Neuanfang brauchte eigentlich die ganze Kraft, an der diese rückwärtsgewandte Trauer aber immer noch zehrte. Natürlich wurde auch gefeiert, gab es überaus frohe Stunden, vor allem bei Familienfesten. Da wurde gelacht bis die Tränen kamen, aber immer war da dieses 'weißt du noch?', jede Menge Anekdoten, Geschichten aus einem fernen Land. Aber über allem lag immer ein Hauch von Melancholie, war die Wehmut über die Endgültigkeit dieses 'es war einmal' allgegenwärtig. Natürlich konnte ich das damals noch nicht ausdrücken, aber ich spürte es.
Endgültig war dieser Verlust und total, da war nicht nur die geografische Heimat verloren, eine ganze Lebenswelt war untergegangen. So wuchs ich auf in dem Bewusstsein, dass meine Familie anders war, als die der hiesigen Schulkameraden, da musste keiner erst Flüchtlingspack oder Rucksackdeutscher schreien, was während meiner Kindheit sehr wohl noch vorkam.
Als ich 1976 zum ersten Mal nach Ostpreußen reiste, war ich vierundzwanzig Jahre alt und ziemlich weit entfernt von den Gedanken und Empfindungen der Kindheit. Andere Dinge waren wichtiger geworden und hatten Ostpreußen verdrängt.
Die Distanz zwischen den vielen Geschichten meiner Kinderzeit und meinem Leben als junger Erwachsener konnte größer nicht sein als gerade zu dieser Zeit.
Mittlerweile ging ich diesen Komplex mit ironischer bis sarkastischer Distanziertheit an, Ostpreußen nannte ich jetzt oft Kalte Heimat.
Als mein Vater mir von seinen Reiseplänen erzählte, war ich trotzdem gleich Feuer und Flamme. Da war eine gewisse Abenteuerlust: Go east, eines der letzten Abenteuer in Europa.
Bilder hatten sie in mir mit all ihren Erzählungen entstehen lassen, jetzt wollte ich natürlich überprüfen, ob sie der Wirklichkeit standhielten. Skeptisch war ich diesbezüglich schon und durchaus gewärtig, dass manches schöngeredet, ja glorifiziert worden war.
Nüchtern wollte ich mir dieses Gelobte Land ansehen, möglichst objektiv beobachten und Distanz waren, wenn nicht anders, dann meine bewährte ironische Distanziertheit vorschieben, bevor ich mich in sentimentalen Gefühlen verlor.
Die liebliche, rundliche Landschaft fing schnell an, mir zu gefallen, abwechslungsreich war sie, mit saftig dunkelgrünen Wiesen, hellen Roggen- und gelbblonden Weizenfeldern, ausgedehnten Wäldern und den ersten Seen. es war Hochsommer, kurz vor der Getreideernte, die zweite Heumahd war im Gange. Landwirtschaft der Gegensätze, hier agrar-industrielle Bearbeitung von Staatsgütern, daneben Kleinbauern mit Pferd und Wagen, fast archaisch anmutend.
Expedition Kalte Heimat hatte ich das Unternehmen Ostpreußenreise ironisch-distanziert genannt, aber das war's dann auch schon. Der erste kleine Spaziergang vom Parkplatz aus genügte und ich war hin und weg. Ich konnte mich kaum satt sehen an den klaren Farben, an der weit bis nach Osterode am Horizont offen daliegenden Landschaft, hügelig, rundlich, beschaulich. Eine Sommerlandschaft, fast unwirklich friedlich und still, einladend zum Innehalten und Träumen, ohne Ecken und Kanten, anheimelnd gemütlich wie die ostpreußische Sprache.
Als ich zum Auto zurückkam, wusste ich, diese Bilder würde ich nie wieder vergessen. Die Distanz war mir völlig abhandengekommen. Ich hatte mich regelrecht verguckt in dieses Land, fing an es zu lieben. Das Land und ich, wir hatten uns gefunden.
Unser Ziel war Allenstein, die Heimatstadt meines Vaters. Alle Plätze in der Stadt, die für die Familie einmal eine Bedeutung hatten, waren mir ja durch unzählige Erzählungen längst vertraut und so waren Allenstein, das Ermland und Masuren nicht wirklich fremd für mich, schnell hatte ich mich zurechtgefunden.
War es nun das, was ich dort zu finden hoffte? Eine Momentaufnahme aus der Familiengeschichte, nur eine sentimentale Reminiszenz an die Erzählungen aus der Kindheit? Oder wollte ich doch nur bestätigt finden, dass alles nur ein Traum in der Erinnerung der Eltern war, dass es dieses Land so nur in ihrer Erinnerung gab? Was hatte ich eigentlich erwartet? Eine Art Freilichtmuseum, in dem alles mit dem Kriegsende wie eingefroren war? Aber dieses Land lebte noch - Gott sei Dank!
In Allenstein hatte ich schon bei dieser ersten Reise etwas erfahren, wonach ich mich bereits als Kind gesehnt hatte. Das hier war meine Geschichte, hier ging mein Vater mit mir durch die Stadt und zeigte, wo die Urgroßeltern gewohnt hatten, wo er zur Schule gegangen war …Endlich hatten Bauten und Plätze eine Beziehung zu meinem Leben, zu meiner Familiengeschichte.
Die Hälfte meiner Wurzeln hatte ich gefunden. Nicht einmal Orientierungsprobleme bekam ich, anscheinend hatte ich den Stadtplan schon in der Kindheit verinnerlicht. Viele Jahre später ging mir das mit Insterburg, der Heimatstadt meiner Mutter genauso.
Vor dieser ersten Reise war Ostpreußen mehr eine Kindheitserinnerung, durch die Familie irgendwie immer präsent, aber darüber hinaus für mich persönlich ohne größere Bedeutung. Ja eigentlich hatte ich ein ambivalentes Verhältnis zu Ostpreußen. Einerseits hatte es meine Kindheit dominiert, andererseits ging mir dieses Leben in der Vergangenheit „auf den Geist“. Vor allem wollte ich um keinen Preis etwas mit Revanchismus zu tun haben, wollte politisch der rechten Ecke so fern wie nur irgend möglich bleiben. Andererseits wusste ich, dass sie als Ostpreußen kollektiv den Preis zahlten und andere, die als Bevölkerung einer westlicheren Region nicht mehr und nicht weniger schuldig waren, kamen kollektiv ungeschoren davon. Ich war gespannt auf dieses Land, suchte aber bewusst Distanz, besonders zu den Gefühlen meiner Eltern und Großeltern.
Und nach dieser Reise?
Ich fragte mich, wie sie diesen Verlust überhaupt verkraften konnten. Man hatte ihnen diese Heimat amputiert, der Stumpf war schlecht und recht verheilt und nun hatten sie lebenslang Phantomschmerzen. Sie mussten lernen, deutsche Schuld daran anzunehmen, sie haben diesen Preis zahlen müssen, auch wenn sie nicht mehr und nicht weniger schuldig waren als andere Bevölkerungsgruppen.
Dieses Land saß mir viel tiefer im Herzen, als ich es mir je vorher eingestanden hätte, nicht nur diese Stadt, mit der ich von nun an auch selbst immer verbunden sein würde, das Land hatte mich für sich eingenommen. .
Auch wenn diese Welt keinerlei Zusammenhang mit dem Alltagsleben in der Bundesrepublik hatte, begann ich die Dinge ganz anders einzuordnen, wusste wie unglaublich gut es mir ging und wie viel Glück ich hatte, im satten, wohlhabenden Teil der Welt geboren zu sein, einer Welt, in der ich obendrein eigentlich jede nur erdenkliche Freiheit genoss.
Nun wusste ich, dass es dort im Osten eine andere Welt gab - ja es gab sie wirklich noch - und fühlte mich dieser anderen Welt sofort irgendwie zugehörig, spürte, dass sie zu dem gehörte, was meine Persönlichkeit ausmachte.
Bei dieser ersten Reise bestimmte die Spurensuche meine Eindrücke von diesem Land, später nahm die Bedeutung der Begegnungen immer mehr zu. Besonders als wir im Jahr darauf 22 Jahre nach Kriegsende durch einen Zufall, den erst der einsetzende Individualtourismus möglich machte, unsere Verwandten in Osterode wieder fanden. Das verstärkte dann das Gefühl der Verbundenheit mit dieser anderen Welt noch mehr und ließ mich bei jeder weiteren Reise tiefer in sie eindringen.
Ich war dort in einem Land, weit, weit entfernt von unserer Wirklichkeit in der Bundesrepublik. In einem Land, das für mich auftauchte aus der Verwunschenheit des Märchens, aus den Geschichten meiner Kinderzeit.
Dieses Land bedient bis heute alle Sehnsüchte, die eine Seele in Bezug auf Heimat haben kann, Anmut und Sanftheit der Hügellandschaft, die Stille verwunschener Seen, in hohe dunkle Wälder eingebettet, der Frieden wenn abendliche zarte Nebelschwaden aus den saftigen Wiesen steigen und sich zu fein gesponnenen Schleiern vor den orangeroten Abendhimmel schieben, das kurze Klatschen der kleinen Haffwellen am Ufersaum, die Bernsteinbrandung an der Nehrung, das Murmeln des gleichmäßigen Rollens der See im Nehrungswald, die Waldgeräusche, singende Vögel, knackende Äste, im Wind sich wiegende Bäume, einschläfernd beruhigend, stetig rauschend.
Es gibt nichts eckiges, abruptes in dieser Landschaft, Masuren ist ein rundliches Land, voll anmutiger Schönheit, voll tiefem inneren Frieden, aber mit einem leichten Anflug von Melancholie.
Die vererbten Wurzeln
„Das Erbe tragen wir in uns“ schreibt Helga Hirsch in ihrem Buch „Schweres Gepäck“, sie selbst ist ja auch ein Flüchtlingskind meiner Generation.
Das war und bleibt so, ob wir wollen oder nicht. Es war oft ein Hin- und Hergerissensein und manchmal eine ziemlich Wut auf dieses ferne Ostpreußen.
Wir erlebten in unseren eigenen Familien, dass Geschichte sehr komplex ist. Es war schwierig, deutsche Schuld keinesfalls zu relativieren, aber auch das Schicksal unserer eigenen Familien nicht zu verleugnen.
Für kaum jemanden von uns ist die Reise zu den eigenen Wurzeln eine Urlaubsreise wie jede andere gewesen. Immer waren da auch diese ganz besonderen Emotionen, die hochkamen wenn man entdeckte, dass dieses Land ein Teil von einem selbst ist. So söhnte sich mich mit meinen Wurzeln aus und nahm meine eigene komplizierte, von vielen widersprüchlichen Einflüssen geprägte Identität an.
Aber sind wir deswegen noch Kinder Masurens oder Ostpreußens? Oder haben wir zwei Heimaten?
Nein, Heimat kann man nicht vererben.
Was man vererben kann sind Wurzeln, Prägungen durch Generationen von Menschen und ihre speziellen Denk- und Verhaltensweisen, Sprache und einen spezifischen Wertekonsens, also alles, was das kollektive Gedächtnis einer Familie ausmacht und was man am ehesten unter kultureller Identität zusammenfassen kann.
Masuren oder Ostpreußen ist also nicht unsere Heimat, aber es ist in uns. Aber wir sind nicht die Kinder dieses Landes, sondern eher wie die Enkel eines Masurens oder Ostpreußens, dass schon vor unserer Geburt starb.
Unsere eigene Heimat kann man uns nicht anerziehen, sie kann nur dort sein, wo wir uns als Kinder geborgen fühlten, wo wir die Welt zu entdecken begannen. Die Suche einer eigenen Identität aber war für viele von uns ein langer, komplizierter Prozess, und zu dieser Identität gehört beides, Masuren und Ostpreußen, die Heimat unserer Eltern und unserer eigene Heimat.
An der Alle bei Groß Bertung