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Die Kunst des Nötigens

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Die ostpreußische Gastfreundschaft war ja ohnehin sprichwörtlich. Es ziemte sich einfach, dass sich die Tische bogen unter der Last der Speisen und Getränke, aber vor allem gehörte zu jedem Gastmahl die Kunst des richtigen Nötigens, dem jeweiligen Anlass angemessen natürlich.

Saß nur die engste Familie am Tisch, reichte ein einfaches „eß man eß und lass dir nich netigen“. Mit zunehmender Bedeutung der Gäste oder des Anlasses wurde das Nötigen subtiler.

Kein Gast wäre je auf die Idee gekommen, nach der Schüssel zu langen und sich einfach selbst nachzulegen. Er erwartete, dazu aufgefordert, eben genötigt zu werden. Aber mal ehrlich, so etwas gab es doch gar nicht, bei halbwegs aufmerksamen Gastgebern kam es ja gar nicht vor, dass ein Teller auch nur halb leer wurde.

Das Nötigen hatte eben gefälligst zu beginnen, wenn irgendetwas auf dem Teller auch nur zur Hälfte verzehrt war.

„Na bittescheen, nimm noch Rotkohl und Sie, nehmen Se doch noch Kartoffeln. Draußen in der Küch‘ ist ja noch viel mehr, es soll doch man bloß nich kalt werden.“

Das war noch moderat, sozusagen die Einstiegsform. Von nun an würde die Hausfrau keine Ruhe mehr geben und dafür sorgen, dass Schüsseln und Fleischplatten ständig kreisten. „Ach Gott, ach Gott, Ihnen schmeckt wohl auch rein gar nich, Sie essen ja wie e Spatz“ folgte die erste volle Breitseite. In jedem Fall wurde jetzt vom Gast ein energischer Protest erwartet: „aber i wo nei doch, es schmeckt ganz ausgezeichnet!“

Unterbrach der Gast womöglich an dieser Stelle das Ritual, indem er einfach nichts entgegnete, weil es ihm vielleicht wirklich nicht besonders schmeckte, war das natürlich ein schwerer Fauxpas. Er konnte ja denken, was er wollte, der Gast, aber einfach so nuscht sagen?

Das tat man nicht, da riskierte man, dass die Hausfrau mucksch wurde und der Gastgeber sein Haus als entehrt betrachtete. Bei all der Mühe konnte man ja wohl erwarten, dass der Gast wenigstens anstandshalber log!

Verhielt sich der Gast hingegen den Spielregeln gemäß, konnte nun gesteigert werden; „nun bittescheen, nehmen Se doch um Gottes Willen, das muss alles aufgegessen werden, was soll ich denn machen, das wird mir ja alles schlecht,“ wurde verzweifelt an den Gast appelliert. Die Hausfrau wand sich, rang die Hände.

„Am End wird mir noch alles verderben, nu tun Se mir doch die Liebe und kosten Se wenigstens hiervon noch e kleines Happche,“ und schon landete die nächste garantiert randvolle Fleischplatte unter der Nase des normalerweise längst nach Luft schnappenden Gastes, der sein Bestes gab.

Trotzdem, bei einem auch nur annähernd normal gedeckten Tisch würde es ihm nie gelingen, von allem auch nur zu probieren.

Fast aufgelöst wirkte die Hausfrau in ihrem Bemühen, für ständig randvolle Teller zu sorgen. Ihre Verzweiflung schien proportional zum abnehmenden Esstempo der Gäste anzuwachsen, steigerte sich so weit, dass man erwartete, sie würde sich jeden Moment vor Gram die Kleider einreißen.

Winkte der hochgeschätzte Gast dann endlich nur noch matt ab, während seine Hautfarbe ständig von leichenblass nach knallrot und wieder zurück wechselte und er das Würgen eben noch vermeidendend ganz konzentriert kaute, halfen alle Kampf-dem-Verderb-Appelle nicht mehr.

Der Gast hatte längst nur noch den einen Wunsch durchzuhalten, bis der Hausherr seinen Part übernahm und endlich das erste Schnäpschen zur Verdauung anbot.

Dann nämlich lief der Hausherr schon im eigenen Interesse zur Hochform auf; na, auf einem Beinche kann man doch nicht stehen! Die Höflichkeit gebot es natürlich, dass der Gastgeber mittrank, er opferte sich meist aber ganz willig: na, aller guten Dinge sind drei!

Anschließend folgte einer „auf das sehr Geehrte des Gastes“, dann einer auf die Hausfrau, die werte Gattin, die lieben Kinderchen, etwaige Enkel, Nichten und Neffen, den Kaiser oder sonstige Obrigkeit und alles, was dem Gastgeber sonst noch an Ausreden einfiel.

So ging es weiter und weiter, bis kurz vor dem Vollrausch niemandem mehr irgendetwas einfiel – was für ein rundum gelungener Abend!

Mein Großvater hatte dann bei der Verabschiedung die Formel „vielen Dank für Speis und Trank, es war gut und einigermaßen reichlich“ parat, wenn die Bewirtung ihm einigermaßen passabel erschien.

War er nicht zufrieden, gnurrte er zu Hause „ es ist nicht genügend genötigt worden“. Einem Verriss jedoch kam es gleich, wenn er meinte „ich hätt’ ja gern noch mehr genommen, es hat aber keiner mehr genötigt“.

War hingegen wenigstens das Besäufnis anständig und hatte er sich gepflegt die Schlorren vollgekippt beziehungsweise die Lampe begießen können, pflegte er sich bei meiner Großmutter mit „was is ze machen, wenn das Nötigen kein Ende nahm!“ heraus zu reden.


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