Читать книгу Todesstrafe - Der zweite Fall für Schmalenbeck und Paulsen - Brigitte Krächan - Страница 10
ОглавлениеKAPITEL 4
Ulli ließ Rocco bei Frau Geese und fuhr früh zum Präsidium. Sie hoffte, am Abend zeitig nach Hause zu kommen. Es war schon Dienstag und nach dem nächsten Wochenende würden die Handwerker kommen, um mit dem Umbau des oberen Stockwerkes der Villa zu beginnen. Bis Samstag musste sie entscheiden, was sie aus dem Haus ihrer Eltern behalten wollte, und sie hatte noch nicht einmal damit angefangen auszusortieren. Sollte sie sich von allem trennen, so wie es ihr erster Gedanke gewesen war? Aber vielleicht würde sie nach ein paar Jahren manches anders sehen und es bereuen, wenn sie alle diese besonderen Möbel und Erinnerungsstücke einfach weggegeben hatte. Ulli brauchte Zeit und Ruhe, um eine Entscheidung zu treffen. Sie hoffte, dass die Ermittlungen im Fall Tieck ihr erlaubten, das Wochenende frei zu machen. Im Moment sah es so aus, als würden dem Team einige Tage mit Routinebefragungen bevorstehen. Sie fasste die ersten Ergebnisse in wenigen, kurzen Sätzen handschriftlich zusammen. Zwar sammelte Emma alle relevanten Tatsachen regelmäßig in der elektronischen Fallakte, aber Ulli zog persönliche Notizen vor. Sie halfen ihr, ihre Gedanken zu ordnen.
Ulli legte den Stift beiseite, trat an das Whiteboard und betrachtete das Foto der Tatortszene. Gedankenverloren zog sie mit dem Stift einen Kreis um den Stuhl, der mitten im Wohnzimmer stand.
Was hattest du zu erzählen, was so lange gedauert hat, dass du dir dazu einen Stuhl aus der Küche geholt hast? Hast du Wilhelm Tieck erklärt, warum er sterben musste? Oder war er schon tot, und du hast nur dagesessen und deine Tat bewundert? fragte sie den ihr noch unbekannten Mörder.
„Überlegst du, dir neue Küchenstühle anzuschaffen?“ Wie gewohnt hatte Paule gleichzeitig mit dem Anklopfen Ullis Büro betreten. Er zeigte auf das Foto mit dem Stuhl. „Auf diesen altmodischen Eichenstühlen kann man erstaunlich bequem sitzen. Und sie sind verzapft, nicht geklebt. Für die Ewigkeit geschaffen.“
Paule trat neben Ulli vor das Whiteboard. „Wenn Heinz Kömen der Mörder war, dann hatte er dem Mordopfer bestimmt einiges zu erzählen. Aber ich kann mir den alten Mann nicht als kaltblütigen Mörder vorstellen.“
„Aber ein Auftragskiller würde sich nicht so lange aufhalten. Weshalb sollte er einen Stuhl vor das Opfer stellen?“, wandte Ulli ein.
„Und wenn er eine Art Urteil im Namen des Auftraggebers verlesen musste?“, überlegte Paule, nur um gleich darauf den Kopf zu schütteln. „Unsinn, das würde ein Profi nie machen. Das Risiko, dabei erwischt zu werden, wäre viel zu groß. Diese Art Dienstleistung hat keiner von denen im Angebot. Vielleicht ist der Stuhl ein Ablenkungsmanöver.“
Ulli wandte sich von dem Whiteboard ab. „Vielleicht ergibt die Überprüfung der Kontodaten von Heinz Kömen etwas. Auftragsmord ist teuer. Und wenn Kömen nicht unser Täter ist, stehen uns jede Menge Befragungen im Umfeld von Wilhelm Tieck bevor. Irgendjemand muss einen Grund gehabt haben, Tieck zu erschießen.“
„Irgendwelche neuen Anhaltspunkte, die auf ein Motiv hindeuten? Was wissen wir bisher über das Opfer?“, fragte Ulli in die Runde, als das Team um den Konferenztisch versammelt war.
„Erst einmal die schlechte Nachricht“, begann Emma, „der Staatsanwalt hat die Überprüfung der Kontodaten von Heinz Kömen nicht genehmigt. Auch die Handydaten dürfen wir nicht anfordern. Heinz Kömen sei ein unbescholtener Bürger, und die Tatsache, dass das Opfer vor zehn Jahren verdächtigt wurde, seine Tochter getötet zu haben, mache ihn nicht zum Tatverdächtigen. Dann habe ich die Telefonnummern vom Handy des Opfers abtelefoniert“, fuhr Emma fort, „er rief mehrmals im Monat denselben Pizzadienst an. Häufig telefonierte er mit seiner Schwester. Ein paar Mal mit dem Arbeitskollegen Klaus Faas und einige wenige Male mit anderen Kollegen, in erster Linie mit dem zweiten Lageristen Andreas Kreiter und den Hausmeistern Hans Schmidt und Reinhard Graus. Vielleicht sollten wir bei der Befragung der Arbeitskollegen mit denen beginnen. Und dann gab es noch ein paar 0900er Nummern, die ich nur am Computer recherchiert habe, um dem Präsidium Geld zu sparen. Ihr wisst schon, diese Servicenummern“, Emma ignorierte das Grinsen ihrer Kollegen und fuhr fort, „außerdem ist die Personalliste der Firma Ziegler gekommen. Allein in der Niederlassung Hamburg hat die Firma hundertfünf Angestellte. Ungefähr dreißig hatten mit Wilhelm Tieck unmittelbar zu tun. Bestandsverwaltung, Buchhaltung, Logistik, Mitarbeiterdisposition. Die Liste ist schon in der Fallakte.“
Ulli nickte. „Die werden wir uns anschauen und verteilen. Wenn wir sonst nichts haben, müssen wir alle Personen auf der Liste abarbeiten. Und wenn das nichts ergibt, werden wir die Befragung auf die Händler, mit denen Tieck Kontakt hatte, ausweiten.“
Emma schaute in ihre Notizen: „Es sieht schlecht aus mit weiteren Informationen. Die Kontoauszüge des Opfers geben keinen Hinweis auf ein Motiv. Keine ungewöhnlichen Ein- oder Ausgänge. Wilhelm Tieck hat nicht viel Geld ausgegeben, aber auch nicht so viel verdient, dass man ihn als wohlhabend bezeichnen kann. Aktenkundig ist Wilhelm Tieck in den letzten zehn Jahren auch nicht geworden, nicht einmal mit einer Anzeige wegen Falschparkens. Er muss ein ziemlich langweiliges, einsames Leben geführt haben. Und Reinhard Graus, der Hausmeister von Schrauben Ziegler, hat angerufen und uns mitgeteilt, dass Wilhelm Tieck im Lager ein kleines Büro hatte, das er sich mit dem zweiten Lageristen teilte.“
Ulli machte sich eine Notiz. „Das werden wir uns anschauen, wenn wir Jürgen Faas noch einmal befragen.“
Jana meldete sich zu Wort: „Im Bericht steht, Jürgen Faas habe das Haus des Mordopfers vor der Tat noch nie betreten. Ich war gestern noch einmal dort und habe im ersten Stock Fingerabdrücke genommen. Die meisten waren verwischt und offenbar uralt. Aber ein paar auf dem Lichtschalter und der Türklinke waren frisch und lassen sich eindeutig Herrn Faas zuordnen. Ohne Zweifel war er in letzter Zeit im ersten Stock von Wilhelm Tiecks Haus. Ihr solltet nachfragen, was er dort wollte und warum er es uns nicht erzählt hat.“
„Sonst noch irgendwelche Anhaltspunkte?“, fragte Ulli und schaute in die Runde.
Paule deutete auf die fünf Aktenordner, die in der Mitte des Tisches lagen.
„Die haben wir von Heinz Kömen bekommen. Eine traurige Dokumentation seines zehnjährigen Kampfes um Gerechtigkeit für seine Tochter. Ich habe sie gestern flüchtig durchgesehen. Zeitungsausschnitte, Briefwechsel mit einigen Rechtsanwälten, Unterstützungsschreiben von verschiedenen Leuten. Aber keine aktuelle Spur. Wenn wir nichts Besseres finden, müssen wir wohl mit allen reden.“
Ulli wandte sich an Kai: „Hat die Befragung der Nachbarn etwas ergeben?“
Kai schüttelte den Kopf. „Leider ohne Ergebnis. Ich habe einem Journalisten der Hamburger Aktuellen eine Cola ausgeben. Er meinte, ihm und seinem Kollegen wäre in den Tagen vor dem Mord nichts Verdächtiges aufgefallen. Allerdings hätten sie sich eher auf das Opfer als auf die Straße konzentriert. Er selbst habe ein paar Mal versucht, Wilhelm Tieck zu einer Stellungnahme zu dem Artikel zu bewegen, aber der habe noch nicht einmal die Tür geöffnet. Am Donnerstag hätten sie gegen achtzehn Uhr ein letztes Mal bei ihm geläutet und seien dann in die Redaktion gefahren.“
„Es gab keine Einbruchsspuren“, überlegte Walter, „Wilhelm Tieck hat den Pressefritzen nicht geöffnet, aber den Mörder hat er hereingelassen. Er muss seinen Mörder gekannt haben.“
„Oder der Mörder hatte einen Schlüssel“, warf Ulli ein. „Vielleicht sollten wir dazu die Schwester des Opfers befragen. Ob ihre Kinder vielleicht noch einen Schlüssel zum Haus ihres Onkels haben. Auch nach möglichen Bekannten ihres Bruders sollten wir fragen. Schließlich hat Wilhelm Tieck nicht auf einer einsamen Insel gelebt. Er muss irgendwo eingekauft haben. Er war HSV-Fan. Mit wem außer Jürgen Faas ging er zum Fußball? Was ist mit den Nachbarn? Gab es Streit? Haben die sozialen Medien etwas ergeben?“
Das war Dirks Stichwort. Er startete eine Präsentation, die er auf die Wand des Besprechungszimmers projizierte.
„Auf der Facebook-Seite der Hamburger Aktuellen ist einiges los. Die meisten beglückwünschen den Täter zu seiner Tat. Ein paar Selbsthilfegruppen haben sich zu Wort gemeldet. Aber es ist nichts dabei, das zwingend auf ein Motiv hinweisen würde. Wenn wir jedem, der sich dort feindlich gegenüber dem Opfer äußert, auf den Zahn fühlen wollen, haben wir bis Weihnachten zu tun. Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Ich denke, die Aktuelle hat auch Leserbriefe zu dem Thema bekommen.“
Ulli nickte. „Kannst du die Namen durch unsere Datenbank laufen lassen? Vielleicht ergibt sich eine Übereinstimmung. Gewalttaten, unerlaubter Waffenbesitz, Rechts- und Linksextreme. Und besorge dir die Namen der Leserbriefschreiber. Solange wir nichts anderes haben, müssen wir im Trüben fischen.“
Ulli wandte sich an Sebastian. Er und Walter waren zur Teamsitzung dazu gekommen, um über ihre Befragung zu berichten: „Wie war es bei Bruno Dörfer?“
Aber der Kommissar schien noch mit Dirks Präsentation beschäftigt. Mit einer Geste gab er die Frage an Walter weiter, der ihm zunickte und berichtete: „Haus gebaut, verheiratet, zwei Kinder. Sagt, er war schon seit Jahren nicht mehr in der Gegend. Hat angeblich das Opfer ewig nicht mehr gesehen. Er weiß nicht einmal, ob er Wilhelm Tieck wiedererkennen würde. ,Wenn ich ihm damals nicht den Hals herumgedreht habe, warum sollte ich es heute tun? ‘, meinte er. Ich denke, er ist glaubhaft. Er habe keinen Kontakt zu der alten Clique. Und von denen hätte gewiss auch keiner mehr eine derartige Wut auf Wilhelm Tieck gehabt. Tatsächlich hat Bruno Dörfer das damalige Opfer, Karin Kömen, längst nicht mehr als so sympathisch und allseits beliebt geschildert wie damals. Ich habe ihn gefragt, warum er seine Meinung über sie geändert habe, und er meinte, über Tote und erst recht über Tote, die so tragisch gestorben sind, könne man doch nichts Schlechtes erzählen. Aber jetzt, nach zehn Jahren, sei das eben anders. Es sieht nicht aus, als würde sich da ein Motiv ergeben“, schloss Walter seinen Vortrag.
Nach der Teamsitzung war Paule Ulli in ihr Büro gefolgt.
„Es scheint, als müssten wir die ganz große Fragerunde starten. Es sei denn, Jürgen Faas kann uns nicht plausibel erklären, was er im ersten Stock von Tiecks Haus zu suchen hatte.“
„Vielleicht sollten wir die Kinder der Schwester und ihren Mann verhören“, schlug Ulli vor.
Paule schüttelte den Kopf. „Und dafür extra nach Berlin fahren? Bestimmt kommen sie zur Beerdigung. Ich glaube allerdings nicht, dass uns das weiterbringt. Wilhelm Tieck war so uninteressant, dass es jedem gleich sein konnte, ob er tot war oder lebte. Das Einzige, was ihn jemals aus der grauen Masse hervorgehoben hat, war dieser Mordverdacht.“
Paule zögerte. „Aber ich würde gerne Frau Kömen fragen, ob sie ihrem Mann einen Mord zutraut.“
***
Ulli und Paule hatten sich mit Herrn Graus, dem Hausmeister von Schrauben Ziegler, am Eingangstor verabredet. Ulli hatte eine grantigen, älteren Herrn erwartet und war von der selbstbewussten Erscheinung des jungen Hausmeisters angenehm überrascht. Reinhard Graus ging ihnen über den großzügig angelegten Hof voraus. Er zeigte auf die imposanten Rolltore mit den Laderampen: „Hier werden die LKW bedient. Wir setzen ungefähr fünfzig Tonnen Ware am Tag um. Anlieferung und Auslieferung. Von Hamburg aus fahren wir Kunden in ganz Deutschland an. Und da“, Herr Graus öffnete die Tür zu einem modernen, hellen Büro, „ist der Arbeitsplatz unserer Lageristen.“
So hätte sich Ulli das Büro eines Lageristen nicht vorgestellt. Es gab keinen Pin-Up-Kalender an der Wand, stattdessen Hinweise über Brandschutz und Unfallverhütung. Eine Liste mit Telefonnummern hing an der Pinnwand. Auf dem großen Schreibtisch standen zwei Computer mit riesigen Bildschirmen.
Der Hausmeister stellte den Kommissaren Andreas Kreiter, den zweiten Lageristen, vor. Der hagere, ältere Mann erhob sich widerwillig vom Schreibtisch und begrüßte die beiden Kommissare mit einem flüchtigen Handschlag, dabei ließ er die Monitore nicht aus den Augen. „Ich hoffe, Sie fassen sich kurz. Hier ist richtig viel los. Willi hat am Freitag schon gefehlt. Heute Morgen meinte die Personalverwaltung, sie würde Hilfe von der Zweigstelle schicken.“
Fahrig zeigte Andreas Kreiter auf den Stuhl am anderen Ende des Schreibtisches, auf dem sich Paule niedergelassen hatte.
„Nichts, gestern kam keiner und heute auch nicht. Ich weiß nicht, wie sich die Geschäftsführung das vorstellt. Einer muss draußen nach dem Rechten sehen, aber wenn ich auf den Hof gehe, läuft hier drinnen alles aus dem Ruder.“
Ulli nickte mitfühlend. „Sie haben hier mit Wilhelm Tieck zusammengearbeitet. Erzählen Sie uns von Ihrem Kollegen.“
Andreas Kreiter warf einen letzten Blick auf die Monitore und wandte sich dann Ulli zu: „Was wollen Sie wissen? Willi war ein guter Arbeiter. Sehr gewissenhaft. Er hat seine Arbeit gemacht, ohne sich darum zu kümmern, was um ihn herum geredet wurde. Die Aufträge hat er immer zügig und korrekt abgearbeitet. Da gab es keine Beschwerden irgendwelcher Händler. Ein bisschen eigenbrötlerisch war er vielleicht. Er ließ sich auf keinen Smalltalk ein. Aber das war mir ganz recht, es frisst nur Zeit, wenn man sich mit jedem Händler verquatscht. Willi hat seine Arbeit gemacht und sich aus allem andern herausgehalten. Ich habe ihn eigentlich nur einmal richtig genervt erlebt. Das war, als wir die Umstellung auf die computergestützte Warenkommissionierung hatten. Mit der EDV ist er anfangs nicht klargekommen. Er hat mir erzählt, er hätte keinen Computer zuhause.“
Andreas Kreiter schüttelte den Kopf. „Können Sie sich das vorstellen? Es gibt wirklich noch Menschen, die keinen Computer zuhause haben?“
Paule holte Atem und setze zur Antwort an, aber Ulli fiel ihm ins Wort: „Also kennen Sie niemanden, mit dem Wilhelm Tieck in letzter Zeit Streit hatte oder der ihn einfach nicht mochte?“
Der Lagerist dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Wenn ich jetzt so überlege, dann fällt mir zu Willi eigentlich überhaupt nichts ein, was mit Mögen oder Nichtmögen zu tun hat. Ich könnte Ihnen noch nicht einmal sagen, ob ich ihn mochte oder nicht. Er kam, machte seine Arbeit und ging wieder. Ab und zu hatte er seine Tour, dann ging ich ihm lieber aus dem Weg.“
„Was meinen Sie mit ,hatte seine Tour‘?“, mischte sich Paule ein.
„Na ja“, Andreas Kreiter suchte nach Worten, „Willi war dann nicht aggressiv oder so. Er war auch nicht wortkarger als sonst, er hat ohnehin nie viel geredet. Aber man hatte den Eindruck, als brodele etwas unter der Oberfläche, das er auf keinen Fall herauslassen wollte. Er lief dann eiliger als sonst an mir vorbei. Hat vermieden, mich anzusprechen. Also“, Andreas Kreiter suchte nach Worten, „wenn ich mit meiner Frau abends Streit habe, und der Streit am nächsten Morgen noch irgendwie im Raum hängt und jeder so tut, als wäre nichts, dann ist das genauso. Verstehen Sie?“
Paule schüttelte den Kopf. „Nein.“
Er trug dem Lageristen die Bemerkung über Menschen ohne Computer immer noch nach.
Andreas Kreiter zuckte mit den Schultern. „Auf jeden Fall kenne ich niemanden, mit dem Willi in letzter Zeit Streit hatte. Aber schauen Sie sich ruhig um“, der Lagerist zeigte auf den Schreibtisch und die Aktenschränke. „Die Sekretärin vom Winkler meinte, Sie dürfen alles anschauen, solange Sie nichts mitnehmen.“
Unter den aufmerksamen Blicken von Andreas Kreiter untersuchten Paule und Ulli Tiecks Schreibtisch. Dann fragten sie nach dem Weg zum Personalbüro, in dem sie sich mit Jürgen Faas treffen wollten. Andreas Kreiter deutete auf die gegenüberliegende Seite des Hofes. „Jürgen hat mir schon Bescheid gesagt, dass Sie ihn sprechen wollen. Gestern hat er mir erzählt, wie er Willi gefunden hat. War kein schöner Anblick. In der Zeitung stand, er sei schon am Donnerstag ermordet worden. Aber Sie haben doch nicht den Jürgen in Verdacht? “
Ulli schüttelte den Kopf. „Wir wollen ihm nur noch ein paar Fragen stellen.“
„Ich habe selten einen Arbeitsplatz gesehen, der so wenig Rückschlüsse auf den Menschen zulässt, der da gearbeitet hat“, meinte Paule auf dem Weg über den Hof.
„Meinst du, da hat jemand aufgeräumt, bevor wir kamen?“ fragte Ulli.
Paule überlegte kurz: „Andreas Kreiter macht auf mich nicht den Eindruck, als wolle er etwas verbergen. Wahrscheinlich hatte Wilhelm Tieck keine privaten Dinge an seinem Arbeitsplatz.“
Jürgen Faas erwartete die beiden Kommissare bereits in einem kleinen Besprechungszimmer neben der Personalabteilung. Kaffee, Mineralwasser und Gebäck standen auf dem Tisch bereit. Paule begann sofort, Kaffee auszuschenken.
„Haben Sie schon eine Spur?“ Die erneute Befragung schien Jürgen Faas nicht zu beunruhigen. Er hatte sich bereits am Kaffee und dem Gebäck bedient und war sichtlich erfreut über die unverhoffte Pause.
„Sie haben ausgesagt, Sie hätten das Haus von Wilhelm Tieck am Sonntag zum ersten Mal betreten.“ Paule stellte seine Kaffeetasse ab und sah Jürgen Faas an.
Jürgen Faas nickte. „Genau. Wir waren eigentlich gar nicht wirklich befreundet. Ich meine, Willi hat nie etwas von sich erzählt. Er war HSV-Fan, und wir sind ab und zu zusammen zu den Auswärtsspielen gefahren. Willis Auto war fast immer kaputt, und ich habe ihn mitgenommen. “
Paule hakte nach: „Warum haben Sie ihn mitgenommen? Wenn er doch jemand war, mit dem man gar nicht so richtig befreundet war.“
Jürgen Faas lächelte verlegen: „Na ja. Lagerist bei Schrauben Ziegler ist ein guter Job, anständig bezahlt und körperlich nicht besonders anstrengend. Kein Schichtdienst. Und der Kreiter ist doch auch schon vierundsechzig. Er geht nächstes Jahr in Pension, und ich dachte, da wäre dann ein guter Job für mich frei. Ich habe drei Jahre Ausbildung in dem Beruf, und ich kenne mich aus in der Firma. Meine Frau meinte, Willi könnte vielleicht ein gutes Wort für mich bei der Personalchefin einlegen. Er versteht sich doch mit keinem richtig. Vielleicht hätte es ihm gefallen, wenn er dann mit mir zusammenarbeiten würde, mit jemandem, den er kennt, anstatt sich an jemand Neues zu gewöhnen.“
Jürgen Faas stellte seine Kaffeetasse ab, zog ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und schaute sich suchend um. „Ich habe ihn bestimmt nicht ausgenutzt oder so. Es war für ihn echt von Vorteil, wenn ich ihn zu den Spielen mitgenommen habe.“
Paule beugte sich nach vorne und schaute Jürgen Faas herausfordernd an: „Und Ihre Frau meinte nicht, Sie könnten vielleicht Wilhelm Tieck im Job beerben? Oder Sie sollten einmal nachschauen, ob im Hause Tieck etwas zu holen sei?“
Es dauerte einige Sekunden, bis Jürgen Faas die Bedeutung dieser Frage verstanden hatte. Empört lehnte er sich nach vorne und funkelte Paule wütend an. „Nein! Wollt ihr mir etwas anhängen? Soll ich jetzt als Sündenbock herhalten. Das ist ja wie im Film. Muss ich mir jetzt einen Anwalt nehmen?“
Ulli lenkte ein. „Wir wollen Ihnen nichts anhängen. Aber wir wissen mit Sicherheit, dass Sie im ersten Stock des Hauses waren. Und wir fragen uns, was Sie da getan haben und warum Sie uns das verheimlichen.“
Jürgen Fass schwieg überrascht. Er klopfte mit dem Zeigefinger eine Zigarette aus der Packung und betrachtete sie nachdenklich. Dann lachte er erleichtert: „Die Spielsachen! Aber das ist schon Wochen her! Stimmt. Da war ich oben im ersten Stock. Links die Treppe hoch. Das hatte ich wirklich vergessen. Ich hatte Willi von unseren Kleinen erzählt, wie sie alles kaputt machen und dass ich mir von meinem Gehalt nicht leisten könne, den Kindern immer wieder neue Sachen zu kaufen. Ich habe zwei Jungen. Sie sind letzten Monat fünf Jahre alt geworden. Zwillinge. Gehen ganz schön ins Geld. Willi meinte, bei ihm zuhause sei jede Menge alter Kinderkram. Den könnte ich gerne mitnehmen. Als Gegenleistung, weil ich immer den Chauffeur zu den Spielen mache.“
Jürgen Faas sah Ulli offen in die Augen: „Frau Kommissarin, das müssen Sie mir jetzt glauben. Damals war ich ein einziges Mal bei Willi im Haus. Und auch nur die Treppe hoch in den ersten Stock. Ich habe drei Kartons mit Kinderkram mitgenommen, mehr nicht.“
„Und Ihre Frau kann uns das bestätigen?“
„Und ob. Sie wird sich bestimmt daran erinnern. Wir hatten einen heftigen Streit, als ich mit dem alten Krempel ankam. Sie hat mich tatsächlich gezwungen, das Zeug sofort weiter zur Deponie zu fahren.“
„Erinnern Sie sich noch, wo Sie am Donnerstagabend waren? “
„Das können Sie auch meine Frau fragen. Was meinen Sie denn, wo ich unter der Woche nach Feierabend noch großartig hingehe? Ein bisschen Kicken mit den beiden Jungs auf dem Bolzplatz, Werkeln in der Wohnung, Abendessen, Bier vor der Glotze und dann beizeiten in die Koje. Wir fangen morgens um sechs Uhr an, da dreht ihr euch noch einmal gemütlich im Bett um.“
„Er wirkte nervös. Glaubst du ihm, dass er das mit den Kindersachen vergessen hatte?“ fragte Ulli, während Paule den Wagen startete.
„Als wir ihn das letzte Mal befragten, stand er ziemlich unter Schock, Der Anblick des toten Tieck, der Gestank in der Wohnung, da kann man so etwas schon mal vergessen. Aber Kai wird auf jeden Fall sein Alibi prüfen.“
„Womit unser aussichtsreichster Kandidat immer noch Heinz Kömen wäre.“.
Paule nickte. „Aber mit den wenigen Indizien, die wir haben, bekommen wir nie eine richterliche Erlaubnis, Konto- und Handydaten von ihm anzusehen.“
„Was denkst du über Gerda Kömen? Würde Herr Kömen seine Frau ins Vertrauen ziehen? Sie schien nicht so besessen, den Mörder ihrer Tochter zu überführen. Vielleicht, wenn wir noch einmal mit ihr alleine reden würden…“
Ulli hatte den Satz noch nicht zu Ende geführt, als ihr Handy klingelte. Sie schaltete die Freisprechanlage ein. „Ulrike von Schmalenbeck“
„Ulli, hier ist Oskar. Wo seid ihr gerade? Ich stehe hier mit Frau Kömen im Hof der Rechtsmedizin. Sie sagt, sie will sofort den Mörder ihrer Tochter sehen. Sie besteht darauf. Die arme Frau ist ziemlich von der Rolle. Sie ist mit dem Bus gekommen. Keine Ahnung, wie oft sie umsteigen musste. Sie war mehr als zwei Stunden unterwegs – und das bei der Hitze.“
Ulli hörte Diskussionen im Hintergrund. Anscheinend sprach jemand beruhigend auf Gerda Kömen ein.
Oskar fuhr fort: „Sebastian Eisler ist da, er könnte sie nach Hause fahren.“
„Was macht der Grünschnabel in der Rechtsmedizin?“ knurrte Paule das Mikro der Freisprechanlage an.
„Eisler ist zufällig da. Er wollte auch einen Blick auf das Opfer werfen. Er würde Frau Kömen in die Rechtsmedizin begleiten, aber ich denke, es wäre besser, wenn einer von euch dabei wäre.“
Paule nickte zustimmend.
„Überhaupt stößt Wilhelm Tieck hier auf großes Medieninteresse. Draußen schwirren jede Menge Presseleute herum. Vielleicht sollte ich Eintrittskarten verkaufen und Kaltgetränkte anbieten.“
Oskar klang genervt. Der Rechtsmediziner hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. „Eben konnte ich gerade zwei Knirpse davon abhalten, die Räume der Rechtsmedizin für den YouTube-Channel ihrer Schule abzulichten. Die beiden waren gewitzter als ihre erwachsenen Kollegen. Sind einfach durch die Kinderklinik marschiert und dann von hinten zum rechtsmedizinischen Institut. Sie wollten mich für eine Reportage in der Schülerzeitung interviewen.“
Ulli schmunzelte. Sie konnte sich Oskars Verzweiflung vorstellen. Er war geübt im Umgang mit Toten. Die Lebenden und ganz besonders Kinder strapazierten schnell seine Geduld.
„Sebastian soll Frau Kömen ins Präsidium zu einer weiteren Befragung bringen. Wir werden sie danach nach Hause fahren“, sagte sie, während Paule den Wagen in den Feierabendverkehr einfädelte.
Als Paule und Ulli das Vernehmungszimmer im Präsidium betraten, brach das Gespräch zwischen Eisler und Frau Kömen ab. Sebastian Eisler begrüßte die beiden Kommissare freundlich und machte keine Anstalten aufzustehen. Ulli zögerte. Sollte sie ihm erlauben, bei der Befragung anwesend zu sein?
Noch ehe sie eine Entscheidung getroffen hatte, übernahm Paule das Kommando. Er deutete auf das Mineralwasser auf dem Tisch. „Guten Tag, Frau Kömen. Wie wir sehen, hat unser Kollege Sie bereits bestens versorgt. Aber jetzt sollten wir ihn nicht länger von seiner Arbeit abhalten.“
Paule stellte einen Stuhl zwischen Gerda Kömen und den Kommissar. Sebastian warf Ulli einen fragenden Blick zu. Als Ulli nicht reagierte, stand er auf und verließ den Raum.
Frau Kömen sah dem Kommissar nach. „So ein netter, junger Mann. Und so einfühlsam.“
Sie blickte immer noch zu der Tür, die Eisler hinter sich geschlossen hatte.
„Haben Sie gewusst, dass der Kommissar genauso alt ist wie Karin? Also ich meine, wie Karin heute wäre, wenn Willi sie nicht ermordet hätte. Ich habe ihn gefragt, ob er Karin vielleicht sogar kannte, aber er meinte, das sei sehr unwahrscheinlich, er habe bis Januar noch in Berlin gewohnt und sei vor seinem Umzug nie in Hamburg gewesen. Kinder hat er keine. Und trotzdem hatte ich den Eindruck, er konnte mit mir mitfühlen. Haben Sie Kinder?“
Gerda Kömen blickte Ulli fragend an. Ulli ignorierte die Frage.
„Frau Kömen, können Sie uns erklären, warum Sie heute zur Rechtsmedizin gefahren sind? Das ist für Sie immerhin eine sehr beschwerliche Reise mit dem Bus.“
Gerda Kömen bückte sich und zog ihre Handtasche, die sie neben sich abgestellt hatte, näher zu ihrem Stuhl. Sie zögerte. „Ich hatte nach all den Jahren ganz vergessen, wie er aussah. Heinz hat oft einen kleinen Umweg genommen und ist am Haus vorbeigegangen, wenn er zum Friedhof ging. Ich bin seit Jahren nicht mehr in der Torstraße gewesen. Ich wollte wissen, wie er jetzt ausgesehen hat. Und ich wollte wissen, was sein Mörder mit ihm gemacht hat.“
Frau Kömen bückte sich wieder nach ihrer Tasche. Sie nahm sie hoch, hielt sie auf dem Schoß und schlang die Arme darum, als sei sie ein kleines Kind. „Wissen Sie, damals waren wir auch dort. In dem Institut. Der Arzt hat uns Karin gezeigt. Alle sagten, sie sähe so friedlich aus. Aber eine Mutter sieht, wenn ihr Kind leiden musste. Ich wollte sehen, ob Wilhelm leiden musste.“
Die Frau stellte die Tasche wieder zu Boden und setzte sich aufrecht. Sie blickte Ulli trotzig direkt in die Augen. „Ja, ich wollte in sein Gesicht blicken und darin sehen, dass er leiden musste. Ihr junger Kollege hat das verstanden, obwohl er keine Kinder hat.“
Ulli nickte. „Und ihr Mann? Wollte er Sie nicht begleiten?“
Frau Kömen schüttelte den Kopf. „Heinz meinte, er sei mit der Sache fertig. Er weiß gar nicht, dass ich nach Eppendorf zur Uniklinik gefahren bin. Mein Mann fährt Dienstagnachmittag immer zur Asklepios-Klinik in St. Georg, anschließend geht er zum Friedhof und sitzt dort bei Karin. Er kommt selten vor dem Abendessen nach Hause.“
Paule horchte auf: „Ist Ihr Mann krank?“
Frau Kömen nickte. „Ein Bauchfell-Sarkom. Pastor Werner hat gesagt, der Hass sei daran schuld. Man muss verzeihen können, sonst frisst der Hass einen auf. Aber Heinz konnte nicht verzeihen. Vor drei Monaten sind die Schmerzen so schlimm geworden, dass er endlich zum Arzt ging. Aber da war es schon zu spät. Der Hass hat ihn zerfressen. Sie können nur noch etwas gegen die Schmerzen tun.“
Frau Kömen seufzte. „Aber wenigstens bleiben uns jetzt noch ein paar friedliche Wochen.“
Paule war Ulli wie gewöhnlich in ihr Büro gefolgt. Er stellte die beiden Kaffeetassen auf den Tisch und nahm auf Ullis Schreibtischstuhl Platz. Ulli war es gewohnt, dass sich ihr Kollege immer den bequemsten Stuhl im Raum aussuchte und zog sich den Konferenzstuhl heran.
„Ich sehe schon das Entsetzen in den Augen des Staatsanwaltes, wenn wir ihm die tödliche Erkrankung von Heinz Kömen als hinreichenden Tatverdacht präsentieren“, begann Ulli
„Und der Seidel wird eine Nachrichtensperre verhängen, aus Angst davor, was die Presse daraus macht, wenn sie herausbekommt, dass wir einen Todkranken des Mordes am Mörder seiner Tochter überführen wollen“, ergänzte Paule.
„Am potentiellen Mörder seiner Tochter“, korrigierte Ulli, „außerdem hat Heinz Kömen immer noch das Alibi seiner Frau, die alles daran setzten wird, zu verhindern, dass ihr Mann die letzten Wochen seines Lebens in einer Gefängniszelle verbringen muss. Wenigstens sollten wir eine Abfrage im NWR starten, um herauszufinden, ob auf Heinz Kömen eine Waffe registriert ist. Vielleicht war er einmal Mitglied im Schützenverein, dann müsste er im Nationalen Waffenregister gelistet sein.“
Paule nickte. „Diese Idee ist mir bei der Befragung auch gekommen. Aber als die Frau von der Krankheit erzählt hat, tat sie mir so leid, dass ich nicht mehr nachgefragt habe.“
Ulli nickte zustimmend. Eigentlich war sie meist diejenige, die bei Zeugenbefragungen eher behutsam auftrat. „Du wirst auf deine alten Tage noch sentimental.“
„Altersmilde“, korrigierte Paule.
***
„Auf geht’s, Junge!“ Ulli hatte Rocco bei Frau Geese abgeholt und startete die übliche Feierabendrunde um den See. Nach dem Spaziergang würde sie noch auf einen Tee bei Frau Geese vorbeischauen. Ulli fragte sich, wie lange die alte Frau das Pförtnerhäuschen noch alleine würde bewohnen können. Frau Geese könnte das Haus verkaufen. Der Erlös und die Rente würden für einen Platz in einem guten Altenheim reichen. Aber als Ulli ihr das vorgeschlagen hatte, winkte die Haushälterin resolut ab. „Ein Umzug ins Altenheim ist der erste Schritt ins Grab. Das habe ich schon bei zu vielen gesehen. Die alten Leute langweilen sich dort buchstäblich zu Tode.“
So waren sie schließlich übereingekommen, dass Frau Geese weiterhin im Pförtnerhaus wohnte, und das Hausmeisterehepaar, das die Villa bewohnen und instand halten würde, sich bei Bedarf auch um das Pförtnerhaus und Frau Geese kümmern sollte.
„Aber in den Kräutergarten lasse ich mir nicht hineinreden“, stimmte Frau Geese Ullis Vorschlag schließlich zögerlich zu.
„Macht der Umbau Fortschritte?“ Frau Geese hatte Ulli eine große Tasse Kräutertee in die Hand gedrückt und sich dann neben sie auf die kleine Holzbank an der Rückseite des Häuschens gesetzt. Die alte Frau war von Ullis Umbauplänen nach wie vor nicht begeistert. „Wollen Sie wirklich mit Fremden in einem Haus wohnen? Ich meine, Sie brauchen die Miete doch gar nicht. Und eine Putzfrau und einen Gärtner von außerhalb können Sie sich auch leisten.“
Als Ulli erwiderte, die Villa sei für sie alleine zu groß, nickte Frau Geese nachdenklich. „Ja, da fehlt die Familie.“ Sie schaute zuerst zur Villa und streifte dann Ulli mit einem nachdenklichen Blick. „ Und Sie werden auch nicht jünger. Es ist zwar nicht mehr wie früher, die Medizin kann einiges hinauszögern, aber trotzdem wird es langsam Zeit. Was ist eigentlich aus dem gutaussehenden Mann geworden, der Sie neulich beim Joggen begleitet hat? Vielleicht sollten Sie ihn einmal auf ein Glas Wein in die Villa einladen.“
Mittlerweile gelang es Ulli, gelassen mit den guten Ratschlägen der alten Frau umzugehen. Frau Geese war als junge Frau als Haushälterin zu Ullis Eltern gekommen und hatte selbst nie eine eigene Familie gegründet. Dafür hatte sie die Familie der von Schmalenbecks immer als ihre eigene betrachtet. Frau Geese sah in Ulli die Enkeltochter, die sie nie hatte, und sie gab die Hoffnung nicht auf, dass Ulli eines Tages doch noch eine Familie haben würde.
„Ich denke, meine Idee, einen Teil der Villa an das Hausmeisterehepaar zu vermieten, ist für alle die bessere Lösung. Und wer weiß“, Ulli zwinkerte Frau Geese versöhnlich zu, „vielleicht gibt es bei den Solbergs früher oder später Nachwuchs. Es wäre doch schön, wenn wieder ein kleines Mädchen im Park spielen würde.“
Aber so einfach ließ sich Frau Geese nicht überzeugen: „Das würde dem Rocco überhaupt nicht gefallen. Der Hund ist zu alt für kleine Kinder. Hat man Ihnen den Mordfall vom Wochenende übertragen?“ Anscheinend hatte Frau Geese kein Interesse mehr, sich weiter über Ullis Zukunftspläne zu unterhalten.
Ulli nickte.
Frau Geese schaute hinunter zum See und seufzte. „Ich erinnere mich an den Mord an Karin Kömen. Ihr Mörder soll sie im See ertränkt haben. Die Zeitung schreibt, es sei ganz bestimmt der Wilhelm Tieck gewesen, der die Kleine vor zehn Jahren umgebracht hat.“ Sie wandte sich Ulli zu: „Eine undankbare Aufgabe, die Sie da übernommen haben, wo doch alle meinen, der Kerl habe genau das bekommen, was er verdient.“
Ulli hatte Mühe, freundlich zu bleiben. Irgendwie schienen alle davon auszugehen, dass vor dem Gesetz eben nicht jeder gleich sei. „Egal, was er vor zehn Jahren getan hat und was die Leute sich darüber erzählen. Heute ist er ein Mordopfer, und es ist meine Aufgabe, den Mörder zu finden.“
„Genau so stur wie Ihr Herr Vater. Allerdings“, Frau Geese schaute wieder zum See „der alte Herr von Schmalenbeck hätte sich vermutlich auf die Seite des Mörders geschlagen. Wenn die Polizei ihn schon nicht überführen kann….“
„Nun“, Ulli unterbrach die alte Frau ungehalten, „zum Glück haben wir Gesetze, die klar sagen, auf wessen Seite wir stehen müssen.“
Ulli hatte keine Lust, über ihren Vater zu reden. Solange sie denken konnte, hatte Frau Geese im Haus der von Schmalenbecks gearbeitet. Noch heute, drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters, war sie ihrem ehemaligen Arbeitgeber gegenüber absolut loyal. Sie würde sich nie negativ über die von Schmalenbecks äußern. Sie würde nie das Verhalten ihres Vaters gegenüber seiner Frau und seiner Tochter kritisieren. Ulli war klar, dass sie Frau Geese diese Loyalität oft übelnahm und der alten Frau damit Unrecht tat. Frau Geese meinte es gut mit ihr. Beschwichtigend legte Ulli ihre Hand auf den Arm der Haushälterin. „Es wird kühl, Sie sollten ins Haus gehen.“
Frau Geese nickte und deutete lächelnd auf Rocco, der vor ihnen saß und die beiden Frauen nicht aus den Augen ließ. „Und Sie sollten dafür sorgen, dass unser alter Hund sein Abendessen bekommt.“