Читать книгу Todesstrafe - Der zweite Fall für Schmalenbeck und Paulsen - Brigitte Krächan - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL 3
Montag, 26.08.2013, Hamburger Aktuelle Wilhelm T. tot!
Mutmaßlicher Vergewaltiger und Mörder von Karin K. tot in Eimsbüttel aufgefunden. Polizei geht von Gewaltverbrechen aus.
Hat jemand vollendet, was Richter vor zehn Jahren verpasst haben?
Als Ulli um acht Uhr ihren Citroën im Butenfeld abstellte und kurz danach den Obduktionsaal im Institut für Rechtsmedizin betrat, warteten Paule und Oskar schon auf sie. Oskar bot Ulli Minzöl an.
„Ich kann dir auch eine Maske geben, wenn du möchtest. Unser Freund hier riecht nicht mehr so appetitlich frisch, obwohl er direkt aus der Kühlung kommt.“
Dankbar nahm Ulli das Minzöl und strich sich einen Tropfen unter die Nase. Auch ohne rechtsmedizinisches Gutachten hätte sie mit Sicherheit sagen können, dass das Opfer schon mehr als vierundzwanzig Stunden tot war. Der süßliche Leichengeruch, der von vielen Anfängern als der typische Geruch in der Rechtsmedizin beschrieben wurde, trat erst auf, wenn Bakterien begonnen hatten, den Körper von innen zu zersetzen. In den meisten Fällen passierte die Leichenschau, bevor dieser Zersetzungsprozess begann. In den Räumen der Rechtsmedizin roch es daher meistens nach Desinfektionsmitteln und anderen chemischen Lösungen. Aber dieses Mal wurden diese Gerüche von dem moschusartigen Geruch nach verwesendem Fleisch überlagert. Paule hielt, wie immer bei einer Leichenschau, den einzigen Stuhl im Raum besetzt. Er blätterte in einem dünnen Schnellhefter.
Oskar nickte ihm zu: „Ich war gestern nicht ganz untätig. Toxikologische Befunde, Stellungnahme zu MRT und CT, alles da drin. Ich weiß, dass du die gedruckte Version bevorzugst. Es ist aber auch schon alles im Zentralcomputer.“
Paule reichte den Befund an Ulli weiter: „MRT und CT – ist das nicht ziemlich viel Aufwand für einen gewöhnlichen Mord?“
Oskar nickte. „Hat der Seidel gestern Abend noch angeordnet. Aber es ergibt Sinn, wenn man die beginnende Verwesung beachtet. Wir haben gestern schnell noch ein paar Aufnahmen gemacht, bevor sich der Herr verflüssigt. Der Bluttest war übrigens unauffällig. Keine Toxine. Außer einer geringen Menge Alkohol. Wird wohl schon ein Feierabendbier getrunken haben. Müsste ein bisschen auf seinen Cholesterinwert achten“, Oskar war zum Tisch getreten, „kann ihm aber jetzt auch egal sein.“
Paule grinste. Oskar war für seinen fragwürdigen Humor und die flapsigen Sprüche während der Leichenöffnung bekannt. Ulli hatte sich daran gewöhnt. Eigentlich mochte sie die unprofessionelle Sprache des Rechtsmediziners. Sie brachte etwas Menschliches in den ansonsten routinierten, technisierten Ablauf einer Leichenöffnung.
Oskar zeigte auf das kreisrunde Loch in der Stirn des Opfers: „Ich vermute, das war die Todesursache. Kontaktschuss. Die Stanzmarke deutet auf einen Schalldämpfer hin. Glatter Durchschuss. Kleine, sternförmige Austrittswunde am Hinterkopf. Habe ich gestern schon im Bild festgehalten.“
Er nickte zu dem Ordner in Ullis Hand. „Die Kollegen haben übrigens das Projektil und die Patronenhülse sicherstellen können.“ „Weißt du, wann genau es passiert ist?“ Paule war vom Stuhl aufgestanden und an den Obduktionstisch getreten.
Oskar zuckte mit den Schultern. „Ich bleibe dabei: Angesichts der gelösten Leichenstarre und des Status‘ der Verwesung irgendwann zwischen Donnerstagabend und Freitagabend. Wir haben die Pizza zur entomologischen Untersuchung geschickt. Ihr wisst schon, die Sache mit den Entwicklungsstadien der Fliegenlarven. Es wäre hilfreich, wenn ihr herausfinden könntet, wann die Pizza geliefert wurde. Anscheinend kam der Tote nicht mehr dazu, sie anzuschneiden.“
Paule schnaubte genervt: „Und warum dann der Tanz mit den Fliegenlarven? Wenn wir wissen, wann die Pizza geliefert wurde, sind wir genauso weit. Einfache, solide Ermittlungsarbeit anstatt diesem CSI-Quatsch.“
Oskar grinste breit, er kannte Paules Abneigung gegen alle neuen Ermittlungsmethoden. „Du sagst es. Aber wir können es und deshalb tun wir es. Macht später Eindruck bei der Gerichtsverhandlung. Und jetzt“, Oskar griff zur Knochensäge, „bitte zurücktreten.“
Ulli wusste, was jetzt kam. Sie kannte den Standardsatz des Rechtsmediziners von den anderen Obduktionen.
„Machen wir den Kerl einmal auf.“
Oskar begleitete die beiden Kommissare nach draußen. Er zündete sich eine Zigarette an.
„Eigentlich rauche ich kaum noch. Aber manchmal hilft es.“
Er deutete in Richtung Obduktionssaal. „Ich kann nicht behaupten, dass mir der Tod dieses Kerls da drinnen besonders nahe geht.“ Erstaunt schaute Ulli den Rechtsmediziner an. Es war das erste Mal, dass sich Oskar zu einem negativen Urteil über ein Opfer hinreißen ließ. Er lehnte an der Wand und inhalierte den Zigarettenrauch.
„Da drin lag sie. Ich glaube, sogar im gleichen Raum. Das ist jetzt zehn Jahre her. Auch wenn man bedenkt, dass ich damals vielleicht noch etwas empfindlicher war als heute, war es ein Anblick, den ich nie vergessen werde.“
Der Mediziner warf den Rest der Zigarette auf den Boden und trat ihn aus. „Sie hätte überleben können, wenn das Schwein nicht einfach weggerannt wäre. Hat sie einfach liegen lassen. Die Frau war bewusstlos und ist irgendwann aufgewacht. Sie hat versucht, wegzukriechen. Vielleicht wäre sie an den Verletzungen gestorben, die er ihr zugefügt hatte, vielleicht aber auch nicht. Die Todesursache war aber letztlich Ertrinken. Sie hätte überleben können, wenn sie einfach nur in die andere Richtung gekrochen wäre.“
Oskar deutete auf Ulli. „Genau da, wo du jetzt stehst, standen damals die Eltern. Fassungslos. Ich hatte die Mutter an die frische Luft begleitet. Der Vater fragte mich aus. Jedes verdammte Detail wollte er von mir wissen. Im Gerichtssaal habe ich sie dann wiedergesehen. Ich konnte nichts dafür, aber ich schämte mich, als der Kerl, der jetzt da drinnen liegt, freigesprochen wurde. Wir konnten es ihm einfach nicht beweisen. Damals nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass er einmal bei mir auf dem Tisch liegen würde. Lange genug gedauert hat es ja.“
Während Paule zustimmend nickte, schüttelte Ulli den Kopf.
„Du verurteilst jemanden, der freigesprochen wurde.“
Oskar bückte sich nach der Zigarettenkippe und hob sie auf. „Nicht schuldig aus Mangel an Beweisen. Du wirst niemanden im Präsidium finden, der an seine Unschuld glaubte“, Oskar warf Paule einen kurzen Blick zu, „aber egal. Du hast natürlich recht: Jetzt ist er ein Mordopfer wie jedes andere, und es ist unsere Aufgabe, seinen Mörder zu finden.“
***
Ulli hatte die Präsidiumssitzung erst für dreizehn Uhr angesetzt. Oskar hatte versprochen, bis dahin den vollständigen Obduktionsbericht vorzulegen.
Als Ulli und Paule das Präsidium betraten, kam ihnen Kai entgegen. „Wir haben den Pizzadienst ausfindig machen können. Auf dem Handy des Opfers war die Nummer gespeichert. Sie wussten sogar noch, wen sie am Donnerstagabend in die Torstraße geschickt hatten. Gut sortiert, der Laden. Er heißt Stefan Hoff, Student. Ordentlich angemeldet als Mini-Jobber. Wohnhaft in Wilhelmsburg. Er wird gleich hier sein. Ich mache mich jetzt auf den Weg in die Torstraße, gestern habe ich nicht mit allen Nachbarn gesprochen. Bei dem schönen Wetter waren die meisten unterwegs. Ich frage auch nach Überwachungskameras und nach Autos, die dort normalerweise nichts verloren haben. Ist nicht direkt eine Durchgangsstraße. Emma geht mit Walter den alten Fall Kömen durch, Dirk stellt die Reaktionen auf den Artikel vom letzten Donnerstag zusammen. Wir sehen uns dann in der Sitzung.“
Wenigstens Kai schien den Fall genauso ernst zu nehmen wie jeden anderen Mordfall.
„Der war damals noch nicht in der Mannschaft“, kommentierte Paule, als hätte er Ullis Gedanken erraten.
Stefan Hoff fand sich wenige Minuten später im KK3, dem Kriminalkommissariat 3 des LKA, ein. „Ich habe mein Fahrrad direkt vor dem Eingang abgestellt. Ich vermute, bei euch kommt nichts weg“, sagte er und lehnte den Kaffee, den Ulli ihm anbot, ab. „Aus den Fernsehkrimis weiß ich, dass der Kaffee bei der Mordkommission grausig schmeckt“, meinte er grinsend. „Ihr Kollege sagte, ich könnte Ihnen helfen. Ich müsse als Zeuge bei einem Gewaltverbrechen aussagen“, fügte er ernster hinzu.
Ulli nickte und musterte den jungen Mann, der in verblichenen Jeans und blauem Polo-Shirt vor ihr saß und ihren Blick lässig erwiderte.
„Sind Sie damit einverstanden, dass ich unser Gespräch aufzeichne?“, fragte sie und legte das Smartphone auf den Tisch.
Stefan Hoff nickte. „Klar doch.“
„Mein Kollege berichtete mir, dass Sie am Donnerstagabend für den Pizza-Dienst Venezia eine Lieferung in die Torstraße 17 brachten“, begann Ulli.
Der Student nickte abermals. Ohne Zögern begann er zu erzählen:
„Ja, zu Tieck. Muss so gegen zwanzig Uhr gewesen sein. Die Nachrichten im Ersten fingen gerade an. Herr Tieck hatte seinen Fernsehapparat ziemlich laut gestellt. Ich konnte die Erkennungsmelodie der Nachrichten bis zur Tür hören.“
„Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie die Pizza lieferten?“
Stefan Hoff zuckte mit den Schultern. „Der Mann bestellte öfter bei uns. Wir haben feste Liefergebiete, so dass ich meistens in die Torstraße liefere. Immer Pizza oder Nudeln. Mochte wohl keine Salate.“
„Kannten Sie Herrn Tieck näher? Hat er vielleicht einmal für mehr als eine Person bestellt?“, wollte Paule wissen.
„Näher kennen wäre übertrieben. Ich kann mit dem Namen ein Gesicht verbinden. Aber es kam nie zu einem persönlichen Gespräch, wenn Sie so etwas meinen. Im Gegenteil. Er hatte das Geld immer schon abgezählt in der Hand, wenn er mir die Tür öffnete. Rundete ziemlich großzügig auf. Ich lieferte das Essen, nahm das Geld, wünschte ihm noch einen schönen Abend und war wieder weg. Eigentlich der ideale Kunde. Wissen Sie, nichts ist schlimmer als Kunden, die dich hineinbitten, erst noch umständlich ihr Portemonnaie suchen und dich dann ewig in Smalltalk verwickeln. Wir sind immer in Eile. Die anderen Kunden warten, und sie wollen auch eine heiße Pizza. Und nein, ich kann mich nicht erinnern, dass er einmal mehr als eine Portion geordert hätte. Aber ich weiß nicht, ob er alleine lebte oder einmal Besuch hatte. Wie gesagt, ich bin nie weiter als bis zur Haustür gekommen.“
„Ist Ihnen an diesem Abend etwas Besonderes aufgefallen?“, fragte Ulli.
Stefan Hoff dachte nach und schüttelte dann den Kopf. „Nein, alles war wie immer.“
„War Herr Tieck vielleicht ungewöhnlich nervös? Oder hatten Sie den Eindruck, es war sonst noch jemand im Haus?“
„Sie meinen, sein Mörder war schon da? Ich glaube, so etwas wäre mir aufgefallen. Auf jeden Fall schien er nicht aufgeregt oder ängstlich. Und nach Besuch sah es auch nicht aus. Man stellt doch den Fernseher nicht so laut, wenn man Besuch hat und sich unterhalten will. Ich habe lange überlegt, aber ich kann mich auch beim besten Willen nicht mehr erinnern, ob da ein Auto geparkt war. Also direkt vor dem Haus mit Bestimmtheit nicht, da habe ich mit dem PizzaFord gehalten.“
„Und auf dem Weg zur Torstraße? Ist Ihnen da etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Ein parkendes Auto vielleicht, in dem jemand saß?“, hakte Ulli nach.
Stefan Hoff schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Ich achte auf so etwas nicht. Ich ahnte ja nicht, dass ich in einem Mordfall aussagen muss.“
„Und Sie selbst haben den ganzen Abend gearbeitet? Wann genau hatten Sie Feierabend?“, fragte Paule.
Stefan Hoff schaute den Kommissar freundlich an. „Das war jetzt wohl die Frage nach dem Alibi. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das fragen. Ich bin von der Torstraße zurück zur Pizzeria. Hat etwas länger gedauert als sonst, weil ziemlich viel Verkehr war. Ich habe vom Auto aus mit meiner Freundin telefoniert, die wird Ihnen das bestätigen. Die letzte Pizzabestellung habe ich um Viertel nach zehn übernommen, also zweiundzwanzig Uhr fünfzehn, und direkt ausgeliefert. Zum Campingplatz Buchholz in Stellingen. Dann bin ich wieder zurück und habe abgerechnet. Kurz nach zwölf war ich zuhause in Wilhelmsburg. Sie können bei meiner Freundin nachfragen, wir wohnen zusammen.“
Stefan Hoff hatte einen Zettel mit den Telefonnummern seines Chefs und seiner Freundin schon vorbereitet und gab ihn Paule. Er versprach, noch einmal durch die Torstraße zu fahren und auszuprobieren, ob er sich vielleicht doch an etwas Ungewöhnliches erinnern konnte. Danach verabschiedete er sich.
„Ich finde, unser Kaffee ist weitaus besser als sein Ruf“, meinte Paule, als die beiden Kommissare mit ihren Kaffeetassen Ullis Büro betraten. „Als Zeuge war unser junger Freund verdächtig gut vorbereitet.“
Ulli gab Paule recht: „Aber kannst du ihn dir als kaltblütigen Mörder vorstellen? Obwohl er zweifelsohne die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Ihm scheint noch nicht einmal der Gedanke gekommen zu sein, dass wir ihn verdächtigen könnten. Entweder, er ist ein hervorragender Schauspieler, oder er hat tatsächlich nichts mit dem Mord zu tun. Trotzdem soll sich Kai seinen Hintergrund noch einmal gründlich ansehen. Vielleicht taucht doch ein Motiv auf.“
Das Team hatte sich um den langen Konferenztisch versammelt. Hauptkommissar Walter Schmitz, der Leiter des zweiten Ermittlungsteams des LKA, nickte Ulli ernst zu. Er war Ullis Bitte zur Teilnahme an dieser Sitzung gefolgt, um über den alten Mordfall Karin Kömen zu berichten. Ulli erwiderte Walters Nicken und wollte beginnen, als sich die Tür zum Besprechungsraum öffnete.
Sebastian Eisler schob sich in den Raum.
„Darf ich dazukommen?“
Sebastian Eisler war im Januar von Berlin zum LKA Hamburg gekommen und arbeitete als zweiter Kommissar in Walter Schmitz‘ Ermittlungsteam. Ulli mochte die engagierte und gewissenhafte Art des neuen Kollegen. Sie hatten bisher einige Male am Kaffeeautomaten zusammen gestanden und sich über ihre aktuellen Fälle und ehemalige Kollegen in Berlin ausgetauscht. Die Kollegen des KK3 munkelten schon über das zukünftige, smarte Ermittlungsduo des LKA. Und tatsächlich konnte sich Ulli durchaus vorstellen, nach Paules Pensionierung im kommenden Dezember mit Sebastian in einem Team zusammenzuarbeiten. Ulli schmunzelte innerlich: Die Gerüchteküche würde überkochen, wenn die Kollegen wüssten, dass es nicht bei den zufälligen Treffen am Kaffeeautomaten geblieben war. Sie nickte Sebastian zu und forderte ihn mit einer einladenden Geste auf, sich zu ihnen an den Konferenztisch zu setzen.
„Der Tote ist Wilhelm Tieck. 53 Jahre alt, ledig. Lebte alleine. Seine Schwester und ein Arbeitskollege fanden ihn gestern Morgen tot in seinem Haus in der Torstraße. Todesursache war ein Schuss aus kurzer Distanz in die Stirn. Tatortfotos und den Bericht der Rechtsmedizin findet ihr im Computer. Die Rechtsmedizin kann eine zweite Todesursache ausschließen. Todeszeitpunkt ist vermutlich der Abend, beziehungsweise die Nacht von Donnerstag auf Freitag. Der Tote hat am Donnerstagabend eine Pizza bestellt, die laut Aussage des Pizzaboten um zwanzig Uhr geliefert wurde. Der Pizzabote vermutet, dass das Opfer alleine war. Zurzeit haben wir keinen Grund, an der Aussage des Zeugen zu zweifeln. Aber wir werden noch seinen persönlichen Hintergrund anschauen und die Fingerabdrücke abgleichen. Oskar hat uns bestätigt, dass der Tote nichts von der Pizza gegessen hat. Wir nehmen also an, der Täter betrat kurz nach dem Pizzaboten das Haus. Wann der Mord stattfand, lässt sich nur ungefähr eingrenzen. Die Leichenstarre hatte sich am Sonntagmorgen bereits gelöst. Wir können davon ausgehen, dass der Mord nach zwanzig Uhr am Donnerstagabend und nicht später als Freitagmorgen stattgefunden hat. Unser Pizzabote ist bisher der Letzte, der das Opfer lebend gesehen hat. Außer dem Täter natürlich. Keine Einbruchsspuren. Wir waren gestern Abend mit der Schwester des Toten noch einmal im Haus, um zu sehen, ob etwas gestohlen wurde. Von den wenigen Wertgegenständen im unteren Stock scheint nichts zu fehlen. Die Geldbörse des Opfers lag auf der Kommode mit sechzig Euro in Scheinen und etwas Kleingeld. Die Schwester meinte, ihr Bruder hatte nie viel Bargeld im Haus. Wir sind auch in den ersten Stock. Es schien, als habe das Opfer dieses Stockwerk nicht bewohnt, es eher als Lager benutzt. Die Schwester vermutete, dass da vorher einmal mehr Kisten waren. Aber sie wäre schon lange nicht mehr oben gewesen. In den Kisten bewahrte ihr Bruder nichts Wertvolles auf. Kleider, alte Spielsachen, Zeug ihrer Eltern. Dinge, die man nicht braucht, die aber zu schade zum Wegwerfen sind. Vielleicht hat Wilhelm Tieck einige Kisten entsorgt. Wir werden auf jeden Fall noch einmal die Spurensicherung ins Haus schicken, damit sie im oberen Stockwerk Fingerabdrücke nimmt.“
Ulli schaute kurz von ihren Unterlagen auf und sah direkt in die dunklen Augen von Sebastian Eisler. Sebastians zustimmendes Nicken schmeichelte ihr. Er hatte sicherlich kein Problem mit Frauen in Führungspositionen.
Ulli räusperte sich und gab Dirk ein Zeichen. Das Foto des Opfers, auf dem Stuhl fixiert, erschien auf der Wand hinter Ulli.
„Die Auffindesituation des Opfers legt nahe, dass es kein Raubmord war. Der Täter hatte vermutlich beide Stühle aus der Küche ins Wohnzimmer geholt.
„Sieht aus, als hätten sich die beiden unterhalten“, warf Kai ein, „vielleicht hat der Täter doch Geld im Haus vermutet und das Opfer unter Druck gesetzt, ihm das Versteck zu verraten.“
„Dagegen spricht, dass nichts in der Wohnung darauf hindeutet, dass der Täter etwas gesucht hat. Außerdem gibt es keinerlei Verletzungen am Opfer, die auf Folter hinweisen.“
„Also ein kleiner Plausch unter Freunden?“, überlegte Walter. „Wenn es keine Einbruchsspuren gab, dann muss Wilhelm Tieck seiner Mörder hereingelassen haben.“
„Woher weiß man, dass es nur ein Täter war?“ fragte Kai.
„Es stand nur ein weiterer Stuhl im Wohnzimmer. Die Art der Tat deutet ebenfalls auf einen Einzeltäter. Ich denke, wir sollten zunächst von einem Einzeltäter ausgehen. Und ja“, Ulli nahm die Anregung von Walter auf, „wir gehen zurzeit davon aus, dass Wilhelm Tieck seinen Mörder hineingelassen hat. Einen Schlüssel von der Haustür haben, laut Aussage der Schwester, nur sie und das Opfer. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass es ein älteres Haus mit einer gewöhnlichen Haustür ist. Früher lebten dort die Eltern des Opfers mit dem Opfer und seiner Schwester. Es ist also gut möglich, dass noch mehr Schlüssel existieren.“
„Könnte die Schwester etwas mit dem Mord zu tun haben?“, fragte Kai.
Ulli schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht. Sie schien ehrlich betroffen vom Tod ihres Bruders.“
„Konnte sie etwas zu einem möglichen Motiv sagen?“, fragte Kai weiter.
Ulli schüttelte wieder den Kopf.
„Der Tote lebte sehr zurückgezogen. Hatte kaum Kontakte zu anderen. Kein Verein, kein Freundeskreis. Er arbeitete seit mehr als zehn Jahren als Lagerist bei Schrauben Ziegler im Haferweg, keine fünfzehn Minuten von seinem Wohnhaus entfernt. Ein Arbeitskollege, Klaus Faas, hat den Toten gemeinsam mit der Schwester gefunden. Die beiden Kollegen waren verabredet. Als Wilhelm ihn versetzte und sich auch zwei Tage später noch nicht bei ihm gemeldet hatte, hat er die Schwester angerufen, und sie sind zum Haus gefahren. Die Schwester hat einen Schlüssel. Aussagen habt ihr im Computer. Wir müssen noch die übrigen Arbeitskollegen befragen. Aus den gegenwärtigen Lebensumständen scheint sich kein Motiv zu ergeben. Interessant ist der Hinweis auf einen Mordfall, der sich auf den Tag genau letzten Donnerstag vor zehn Jahren ereignete.“
Ulli schaute in die Runde. „Einige Kollegen werden sich noch daran erinnern. Unser Opfer wurde damals als mutmaßlicher Täter festgenommen, aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Am Donnerstag hat die Hamburger Aktuelle in einem Artikel zum zehnten Jahrestag des Mordes an Karin Kömen an den Fall erinnert. Walter ist mit den Ermittlungen vertraut.“
Walter gab Dirk ein Zeichen. Auf der Wand erschien das Foto einer jungen, blonden Frau. Sie war zeitlos in Jeans und Hemdbluse gekleidet und lachte in die Kamera.
„Das ist Karin Kömen“, begann Walter, „sie wurde in der Nacht des 22. August 2003 überfallen, misshandelt und vergewaltigt.“
Auf der Wand erschien ein Foto vom Tatort.
„Spaziergänger fanden ihre Leiche am Morgen des 23. August im Ziegelteich unweit des Hauses, in dem sie gemeinsam mit ihren Eltern wohnte. Karin Kömen war im Ziegelteich ertrunken. Vermutlich, als sie versuchte, vor ihrem Peiniger davonzukriechen. Die Rechtsmedizin stellte damals fest, dass darüber hinaus vermutlich auch ihre schweren Kopfverletzungen innerhalb weniger Stunden zum Tod geführt hätten. Nur eine direkte ärztliche Versorgung hätte das Opfer eventuell retten können. Karin Kömen hatte gemeinsam mit ihrem Freund, Bruno Dörfer, in einer Diskothek in der Innenstadt gefeiert, wo es gegen dreiundzwanzig Uhr zu einem Streit zwischen den beiden kam. Sie verließ die Diskothek alleine, um, wie ihr Freund vermutete, mit der S-Bahn nach Hause zu fahren. Die beiden S-Bahn-Stationen liegen unweit der Diskothek bzw. der Wohnung, weshalb der Freund, der in der Diskothek blieb, sich keine weiteren Gedanken über ihren Nachhauseweg machte. Als Karin Kömen gefunden wurde und die Polizei bei den Eltern vorsprach, wurde sie noch nicht vermisst. Die Eltern nahmen an, sie habe die Nacht bei ihrem Freund verbracht. Der Freund hatte übrigens für die vermutete Tatzeit ein Alibi, da er mit seiner Clique nach der Diskothek noch eine private Party besuchte und dort übernachtete. Er machte sich später große Vorwürfe, dass er Karin Kömen nicht daran gehindert hatte, alleine nach Hause zu fahren. Wilhelm Tieck, unser heutiges Mordopfer, rückte schon früh ins Visier der Ermittler. Als Lagerist bei Schrauben Ziegler kannte er Karin Kömen, die eine Ausbildung als Industriekauffrau gemacht hatte und seit ihrem Abschluss dort arbeitete. Zeugen sagten aus, Wilhelm Tieck habe schon lange ein Auge auf die junge Frau geworfen. Zu Beginn schien sein Interesse Karin Kömen zu schmeicheln. Sie ließ sich von Wilhelm Tieck öfter nach Hause fahren. Die Torstraße liegt nur ein paar Gehminuten von Karins Elternhaus entfernt. Karin Kömens Verhältnis zu Wilhelm Tieck war auch Ursache des Streites zwischen ihr und ihrem Freund. Bruno Dörfer hatte mehrmals verlangt, Karin müsse die unangemessenen Avancen des mehr als zwanzig Jahre älteren Wilhelm Tieck entschiedener zurückweisen. Wilhelm Tiecks Wagen wurde zu dem Zeitpunkt, als Karin Kömen die Diskothek verließ, mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Nähe gesehen. Zeugen sahen die junge Frau in einen grauen Kombi steigen. Die Polizei vermutete später, Wilhelm Tieck habe das Opfer zufällig auf der Straße getroffen und ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren. Im Wagen hat man Haare und Faserspuren von der Kleidung der jungen Frau gefunden. Die Polizei konnte jedoch nie zweifelsfrei beweisen, dass es Wilhelm Tiecks grauer Kombi war, in den das Opfer in der Mordnacht eingestiegen war. Als gesichert anzunehmen war, dass Wilhelm Tiecks Wagen am späten Abend des 22. August nicht vor seinem Haus stand. Die Nachbarn waren sich sicher, dass er nicht zu Hause war. Wilhelm Tieck wurde bereits am Abend des 23. August zu dem Fall befragt. Da er sehr verunsichert wirkte und sich weigerte, irgendwelche Angaben zu seiner Person beziehungsweise einem eventuellen Alibi zu machen, wurde er in U-Haft genommen. Alle Indizien sprachen für ihn als Täter. Später wurden allerdings die Spuren im Wageninnern damit erklärt, dass er das Opfer öfter nach Hause gefahren hatte. Nachdem er mit einem Anwalt gesprochen hatte, gab Wilhelm Tieck seine Zuneigung zu Karin Kömen offen zu. Der Anwalt erklärte bei der Verhandlung, der Tod der jungen Frau habe den Tatverdächtigen sehr mitgenommen. Dies erkläre sein eigenartiges Verhalten bei der ersten Befragung durch die Ermittler. Wo sich Wilhelm Tieck tatsächlich zum Tatzeitpunkt aufgehalten hat, konnte auch in der Verhandlung nicht mit letzter Gewissheit aufgeklärt werden. Seine Schwester und sein Schwager sagten aus, der Verdächtige habe sie am Abend des 22. August besucht. Man habe zusammen Fernsehen geschaut und sich unterhalten. Es sei schon lange dunkel gewesen, als Wilhelm Tieck ihr Haus verließ. Nachbarn hatten weder Wilhelm Tieck noch dessen grauen Kombi an diesem Abend in der Straße der Burgers gesehen. Wilhelm Tieck gab an, er habe in einer Seitenstraße geparkt. Einen schlüssigen Grund dafür konnte er nicht nennen. Nach dem Besuch bei seiner Schwester sei er direkt nach Hause gefahren. Der Weg vom der Großen Bahnstraße in die Torstraße führt am Ziegelteich vorbei. Der Verdächtige sagte aus, er wisse noch nicht einmal, ob der diesen Weg gefahren sei. Er gab zu, erhebliche Mengen Alkohol getrunken zu haben. Aus diesem Grund sei er unaufmerksam und sehr müde gewesen. Er sei auch gleich zu Bett gegangen. Vor Gericht sagten die Schwester und der Schwager unter Eid aus, sie seien sicher, es wäre weit nach Mitternacht gewesen, als Wilhelm Tieck nach Hause gefahren sei. Man habe sich verplaudert, aber eine genaue Zeit konnten sie nicht angeben. Zu einem Geständnis des Angeklagten kam es nicht. Die Beweise reichten für einen Schuldspruch nicht aus, schließlich wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Für ihn sprach, dass er bisher noch nie durch Gewalt gegen Frauen auffällig geworden war. In dubio pro reo. Lieber einen fälschlich Freigesprochenen laufen lassen, als einen zu Unrecht Verurteilten leiden lassen. Ein weiterer Verdächtiger wurde nie gefunden. Wir waren damals alle überzeugt, dass Wilhelm Tieck der Täter war. Der Fall Karin Kömen ist bis heute nicht aufgeklärt.“
Als Walter seinen Vortrag beendet hatte, herrschte angespannte Stille. Ulli schaute in die Runde. „Mit den heutigen Mitteln der Rechtsmedizin wäre es ein Leichtes, Wilhelm Tieck den Mord nachzuweisen“, meldete sich Paule zu Wort, „man hatte damals DNA, vermutlich vom Täter, am Opfer sichergestellt.“
„Richtig“, Dirk drückte auf eine Taste seines Notebooks und ein Artikel der Hamburger Aktuellen erschien auf der Leinwand.
„‚Frauenmörder seit zehn Jahren auf freiem Fuß!‘ Das war im Wesentlichen auch das Thema des Artikels, der letzten Donnerstag anlässlich des zehnten Jahrestages des Todes von Karin Kömen erschienen ist. Die Hamburger Aktuelle wirft die Frage auf, wieso nicht schon damals eine DNA-Analyse durchgeführt wurde. Der Artikel fordert eine Wiederaufnahme des Verfahrens, gestützt auf die DNA-Spuren.“
Nachdem Ulli den Artikel überflogen hatte, war ihr klar, dass die Öffentlichkeit den Mord an Wilhelm Tieck und ihre Ermittlungen mit großem Interesse verfolgen würde. Jetzt verstand sie auch, warum Dr. Seidel an dieser Fallbesprechung teilnahm. Er mischte sich immer dann in die Ermittlungsarbeit ein, wenn er eine negative Presse befürchtete. Unter allen Umständen den Ruf der Behörde schützen, stand ganz oben auf der Agenda des Polizeipräsidenten, der jetzt aufstand und sichtlich genervt das Wort ergriff: „2003 hatten wir gerade erst begonnen, eine DNA-Analyse-Datei beim Bundeskriminalamt aufzubauen. Es war damals noch nicht üblich, auch DNA-Analysen in die Ermittlung aufzunehmen. Ich kann verstehen, dass solche spektakulären Fälle, bei denen ein Täter angeblich durch eine DNA-Analyse überführt wird, Eindruck machen. Aber die Herren von der Presse sollten sich auch einmal damit beschäftigen, was der Bundesgerichtshof zum Beweiswert von DNA sagt. Selbst wenn die DNA zum mutmaßlichen Täter passt, ist sie nur ein Indiz, das auf den Täter hinweist, kein Beweis, der den Täter sicher überführt. Außerdem sagt das Strafrecht, man darf grundsätzlich nicht zweimal für die gleiche Tat angeklagt werden. Ne bis in idem. Wenn ein Urteil gesprochen ist, soll man einen Fall nicht immer wieder aufrufen dürfen. Jemand, der freigesprochen wurde, hat das Recht, in Frieden weiter zu leben. Zumal die meisten Freisprüche sicherlich zu Recht erfolgen. “
„Fiat justitia et pereat mundus“, Sebastian hatte den Satz anscheinend gedankenverloren in die Runde geworfen und erntete von Dr. Seidel einen wohlwollenden Blick.
„Genau: Gerechtigkeit, die man auf Biegen und Brechen durchsetzen will, verkehrt sich ins Gegenteil.“
„Streber“, knurrte Paule neben Ulli.
„Außerdem“, fuhr Dr. Seidel fort, „können wir doch jetzt nicht alle Freisprüche wieder neu aufrollen und untersuchen. Wir haben genug aktuelle Fälle, die aufzuklären sind.“
„Aber ich könnte wetten, es ist Wilhelms Tiecks DNA, die wir damals beim Opfer gefunden haben“, meldete sich Walter zu Wort.
„Selbst wenn dem so wäre“, wandte sich Ulli an Walter, „auch ein DNA-Beweis wäre kein eindeutiger Beweis für die Schuld eines Täters. Und in der Praxis besteht wenig Chance, dass man einen irrtümlich freigesprochenen Täter durch Konfrontation mit dem DNA-Beweis zu einem späten Geständnis bewegen kann. Aber ein Geständnis des Täters wäre der einzige Weg, einen falschen Freispruch zu korrigieren.“
„Na ja“, warf Paule ein, „in gewisser Weise wurde der Freispruch von Wilhelm Tieck ja auf anderem Wege korrigiert.“
Ulli schaute in die Runde. Schweigen. Niemand schien der Aussage von Paule widersprechen zu wollen. Selbst Sebastian hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt, die Arme vor dem Körper verschränkt und verfolgte die Diskussion mit gelassenem Interesse. Dass Sebastian sich zurückhielt, konnte Ulli verstehen. Er war noch neu in der Familie des KK3 und schlau genug, sich nicht zu weit vorzuwagen. Aber das Verhalten der übrigen Kollegen empörte Ulli.
„Gibt es hier irgendjemanden im Raum, der sich noch daran erinnert, dass Wilhelm Tieck gestern Opfer eines Gewaltverbrechens wurde?“ Ihre Stimme klang wütender, als sie es beabsichtigt hatte. Als Leiterin des Teams sollte sie sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Aber dieses stille Einverständnis mit den mutmaßlichen Motiven des Täters, die Tatsache, dass hier niemand der offensichtlichen Billigung von Selbstjustiz entgegentrat, empörte Ulli.
„Jeder hier weiß, dass wir in einem Mordfall ermitteln“, lenkte Paule ein, „und bisher wissen wir nicht einmal, ob Wilhelm Tiecks Tod mit dem Mord an Karin Kömen vor zehn Jahren im Zusammenhang steht. Jedem fällt es schwer, bei einem Mord wie dem an der kleinen Kömen ruhig und objektiv zu bleiben, besonders, da wir alle das Gefühl hatten, dass wir den offensichtlichen Täter damals mussten laufen lassen. Aber du hast Recht: Auch die Tötung eines Mörders ist Mord.“
Ulli nickte Paule zu. Sie hatte sich wieder gefasst. „Dann sollten wir jetzt weitermachen. Dirk, du behältst die Presse und die sozialen Medien im Auge, ob da jemand auffällige Bemerkungen zu dem Artikel macht. Schau auch, ob es irgendwelche Opfervereine gibt, die sich besonders für den Fall interessieren. Hat das Handy von Wilhelm Tieck etwas ergeben?“
„Es sieht nicht so aus, als hätte das Opfer irgendwelche Geheimnisse. Noch nicht einmal einen Sicherheitscode hatte er auf dem Smartphone, auch keine App zu irgendwelchen sozialen Netzwerken. Tieck war wohl HSV-Fan. Hat deren Newsletter abonniert. Es gibt keine privaten Mails. Adressverzeichnis: Fehlanzeige. Er hat keinen einzigen Kontakt gespeichert. Emma wird nachher die Nummern abtelefonieren, um herauszufinden, mit wem er in letzter Zeit Kontakt hatte.“
„Danke, Dirk. Was wissen wir über die Mordwaffe?“, fragte Ulli jetzt Jana Nielsen von der Spurensicherung.
„Ein einziger Schuss. Aus einer Pistole mit Schalldämpfer. Projektil und Hülse wurden von uns sichergestellt. Keine Waffe am Tatort. Unsere Ballistik sagt, die Schussspur deute auf eine HK P10 hin. Der Schalldämpfer war mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls von Heckler & Koch. Diese Waffe ist auf dem Schwarzmarkt eine der meistgehandelten Pistolen. Da kommt eigentlich jeder ran. Wird übrigens auch als Dienstwaffe der Polizei in einigen Bundesländern benutzt, nicht hier in Hamburg, aber im Saarland, in Thüringen und in Sachsen. Wir haben die ballistischen Daten zum KTI nach Wiesbaden weitergeleitet. Vielleicht wurde die Waffe schon einmal benutzt. Aber das wird dauern, bis wir von dort ein Ergebnis bekommen. Ich fahre nachher mit dem Team noch einmal in die Torstraße und nehme Fingerabdrücke im ersten Stock.“
„Ich komme mit“, meldete sich Kai zu Wort.
„Heute Morgen waren die meisten schon zur Arbeit. Da wir jetzt die ungefähre Tatzeit kennen, kann ich noch einmal konkret nachfragen, ob jemand in der Nachbarschaft etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen hat. Die Überwachungskameras habe ich schon heute Morgen gecheckt, leider Fehlanzeige. Zu parkenden Autos konnte auch niemand etwas Konkretes sagen. Darauf achtet keiner, zumal es sonniges Wetter war und dort dann immer mal wieder fremde Wagen parken. Gäste, die beim Nachbarn zum Grillen eingeladen sind oder Besucher des jüdischen Friedhofes in Langenfelde. Auch zum Spazierengehen oder Angeln am Ziegelteich kommen die Leute mit dem Wagen. Noch nicht einmal das Auto mit dem Logo des Pizzadienstes ist am Donnerstagabend aufgefallen. Aber einige sagen, in der Woche zuvor sei ein Pressefahrzeug der Hamburger Aktuellen durch die Straße gefahren. Ich denke, die hätten gerne ein Interview von Wilhelm Tieck gehabt, um ihre Jahrestag-Story aufzupeppen. Ich werde bei den Presseleuten nachfragen, ob denen etwas aufgefallen ist. Um die Zusammenarbeit mit der Hamburger Aktuellen kommen wir in dem Fall ohnehin nicht herum.“
Ulli hörte neben sich Dr. Seidel seufzen. Und dieses Mal konnte sie mit dem Polizeipräsidenten mitfühlen. Niemand im Raum war besonders erfreut darüber, mit dem Revolverblatt in Kontakt zu treten. Ziel dieser Zeitung war es, ihre Auflage zu pushen. Sie schrammte dabei oft gerade so an einer Falschmeldung vorbei, aber das war dieser Art von Journalisten egal.
„Okay“, Ulli klappte das Notebook zu und schaute in die Runde, „dann treffen wir uns morgen wieder hier. Solange wir kein anderes Motiv haben, werden wir den Fall Karin Kömen vorranging in die Ermittlungen einbeziehen. Paule und ich werden der Familie Kömen einen Besuch abstatten und danach zum Arbeitgeber von Wilhelm Tieck fahren.“
Ulli wollte gerade das Besprechungszimmer verlassen, als der Polizeipräsident sie zurückhielt: „Ich weiß, Frau von Schmalenbeck, Sie wollen das von mir nicht hören, aber seien Sie vorsichtig mit der Presse. Sicherlich sind die Reporter schon vor Ort, wenn Sie die Eltern von Karin Kömen besuchen. Die Stimmung ist bereits aufgeheizt, und wir sollten darauf achten, dass der Ruf der Hamburger Polizei nicht beschädigt wird. Halten Sie den Kollegen Paulsen nach Möglichkeit vor unbesonnenen Kommentaren zurück.“
Ulli nickte beiläufig. „Umsichtig und besonnen, wie immer.“
Ulli war Dr. Seidels angespanntes Verhältnis zur Presse mittlerweile vertraut. Sie nahm es gelassen. Er meinte solche Warnungen eigentlich nie persönlich, er fürchtete tatsächlich um das Ansehen seiner Abteilung. Und dieses Mal musste sie dem Polizeipräsidenten sogar Recht geben.
In gewisser Weise war der Freispruch von Wilhelm Tieck ja auf anderem Wege korrigiert worden, hatte Paule während der Teambesprechung gesagt. Würde er solch eine Aussage gegenüber der Presse treffen, wäre ein Shitstorm die sichere Folge. Dabei schien es schon jetzt so, als könnten sie sich in Bezug auf die Öffentlichkeit nur falsch verhalten. Dem Opfer wurde wenig Sympathie entgegengebracht. Am Morgen hatte Ulli Kommentare im Netz gelesen, mit dem Tenor, die Hamburger Polizei habe doch Wichtigeres zu tun, als den Mord an einem Mörder aufzuklären. Andere wiederum zweifelten bereits jetzt am Willen der Ermittler, den Mord an einem offensichtlichen Mörder überhaupt aufzuklären. Ulli war sich sicher, die Öffentlichkeit würde das Tun der Polizei mit ganz besonderem Interesse verfolgen.
Noch bevor sie ihr Büro betrat, kam Walter auf sie zu. „Wenn es dir recht ist, fahren Sebastian und ich zu Bruno Dörfer, dem ehemaligen Freund von Karin Kömen. Ich hatte den jungen Mann damals als Zeugen vernommen. Bestimmt erinnert er sich noch an mich. Ich kann ihn auch nach den anderen Freunden der jungen Frau fragen. Vielleicht hat er noch Kontakt. Vielleicht ergibt sich da etwas.“
Ulli nahm die Hilfe der Kollegen gerne an.
***
Paule saß schon am Steuer des Dienst-Mercedes und wartete auf Ulli. Er war schlechter Laune. Die Kollegen des Werkstattteams hatten den Polo zur Inspektion gebracht. Die Chancen standen schlecht, dass der alte Wagen noch einmal durch den TÜV kam.
Wir beide gehen zusammen in Pension, hatte Paule vor fast einem Jahr erklärt und dabei liebevoll am abgegriffenen Lenkrad des Wagens entlang gestrichen. Nun sah es so aus, als würde der Polo tatsächlich vor ihm in Pension geschickt.
„Hast du eine Ahnung, wie viel Sprit dieser Wagen im Stadtverkehr schluckt?“ Paule zeigte mürrisch auf die Tankanzeige des Mercedes. „Und parken lässt sich der Panzerkreuzer auch nicht. Wenn sie den Polo ausmustern, leih ich mir von dir Geld und kaufe ihn. Der Wagen hat doch nichts. Den kann ich locker noch ein paar Jährchen fahren. Diesel, robuster Motor, nur ein paar Rostflecken und wenige unerhebliche Macken. Die bekommen wir doch alle mit der Zeit. Ich kenne eine Werkstatt auf dem Kiez, die kriegen ihn wieder hin, der kommt dann sicher durch den TÜV “
Ulli schwieg, während Paule den Wagen vom Parkplatz Richtung Carl-Cohn-Straße lenkte. Die Ausmusterung des Polos nahm er persönlich.
„Was wollte der Seidel denn von dir?“, wechselte Paule das Thema.
Eigentlich war es gerade ungünstig, Paule die Befürchtungen des Polizeipräsidenten mitzuteilen, aber sie waren ein Team, und Paule musste im Umgang mit den Presseleuten tatsächlich vorsichtig sein.
„Ich soll auf dich aufpassen. Damit du es bei der Presse nicht versaust. Du kennst doch den Seidel: korrekt, angepasst, öffentlichkeitswirksam.“
Paule schüttelte den Kopf. „Für wie doof hält der mich denn? Er denkt wohl, ich wäre schon senil. Einer von den Langweilern, die die Presse mit Leserbriefen zuspammen, weil ihnen sonst niemand mehr zuhört?“
„Walter hat uns übrigens seine Mithilfe angeboten.“
Ulli versuchte, die Diskussion in andere Bahnen zu lenken. „Er und Sebastian werden den damaligen Freund von Karin Kömen befragen.“
„Eisler! Einer von den jungen Wilden. Die neue Ermittlergeneration“, knurrte Paule verächtlich, „der kann ganz offensichtlich richtig gut mit dem Seidel. Hast du gesehen, wie ergeben er an den Lippen des Herrn Polizeipräsidenten hing? Jedes Wort hat er begeistert abgenickt. Und dann diese angeberischen lateinischen Sprüche. Die beiden passen hervorragend zusammen. Seidel soll ihn sogar in seinen Golfclub eingeladen haben. Das hat mir Walter erzählt. Walter hatte übrigens schon Streit mit Eisler wegen dem Fall Kömen. Eisler hat ihm gegenüber durchscheinen lassen, wir hätten damals schlampig ermittelt. Er hält sich für einen ganz scharfen Hund. Walter meint, Eisler sei überzeugt, er hätte damals eine Verurteilung wegen Mordes hinbekommen. Und jetzt will sich Eisler in unseren Fall einmischen und uns zeigen, dass neue Besen besser kehren.“
Ulli schwieg. Sie kannte Paules Wutausbrücke. Wenn er entschlossen war, sich aufzuregen, ließ man ihn besser in Ruhe und wartete, bis sich das Gewitter verzogen hatte.
***
Dreißig Minuten später parkte Paule den Wagen vor einem gepflegten Einfamilienhaus. „So. Da wären wir. Und ganz ohne Navi. Am Ziegelteich 18. Ich habe Walter damals ein einziges Mal bei den Ermittlungen begleitet. Das müssen mir die Jungen erst einmal nachmachen: nach zehn Jahren noch das Haus finden. Und keine Sorge“, Paule nickte in Richtung des Kastenwagens der Hamburger Aktuellen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte, „ich weiß, was ich sagen darf und was nicht.“
„Als wäre die Zeit stehengeblieben. Nur die Bäume sind höher geworden“, Paule war unter den hochgewachsenen Linden hindurch den überschatteten Weg zur Haustür gegangen.
Nach dem Läuten öffnete eine ältere Frau die Tür, bat sie freundlich ins Haus und ging zur Wohnküche voraus. Ulli stellte sich vor.
„Ich dachte mir schon, dass jemand von der Polizei kommen würde.“
Gerda Kömen zeigte auf die Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Küchentisch lag. „Ein Reporter war da und wollte uns interviewen. Ich mache die Tür einfach nicht mehr auf.“
Die Frau seufzte. „Für die Presseleute, meine ich. Dass Sie nicht von der Zeitung sind, habe ich vom Küchenfenster aus schon erkannt. Möchten Sie einen Kaffee oder lieber etwas Kaltes?“
Frau Kömen war aufgestanden und zur Küchenzeile gegangen. Ulli beobachtete, wie sie Leitungswasser in die Kaffeekanne füllte. Sie hatte Mühe, die Kanne in den zitternden Händen zu halten.
Frau Kömen bemerkte Ullis Blick.
„Es sind die Nerven. Lange Zeit war es besser. Aber letzte Woche kamen die Leute von der Zeitung. Sie wollten unbedingt ein Interview zum zehnten Jahrestag. Dann der Artikel. Und noch mehr Leute von der Zeitung. Da war es auf einmal, als wäre das alles erst letzte Woche geschehen. Das mit Karin, meine ich. Und seit heute Morgen ist es ganz schlimm. Menschen, die wir gar nicht kennen, rufen bei uns an. Heinz hat sogar den Telefonhörer zur Seite gelegt.“
„Wo ist Ihr Mann eigentlich?“, nahm Paule das Gespräch auf.
Frau Kömen schaute aus dem Fenster.
„Drüben, auf dem Friedhof Diebsteich. Als er den Artikel gelesen hatte, meinte er, er wolle Blumen kaufen und zum Friedhof gehen, um mit Karin zu reden. Dabei ist es viel zu heiß für Schnittblumen. Sie verwelken bei der Hitze direkt.“
Frau Kömen hatte sich zu ihnen gesetzt, während die Kaffeemaschine zu blubbern begann. „Eine gute Tasse Kaffee kann man immer trinken. Egal, wie heiß es ist.“
Ulli legte ihr Smartphone auf den Tisch und bat Frau Kömen um Erlaubnis, das Gespräch aufzunehmen.
„Nehmen Sie ruhig alles auf. Aber eigentlich weiß ich nicht, was ich Ihnen erzählen könnte. Wir haben seit damals keinen Kontakt mehr zu Wilhelm gehabt.“
Gerda Kömen schüttelte den Kopf. „Zu keinem von denen mehr.“
„Können Sie sich vorstellen, dass der Mord an Wilhelm Tieck mit dem an Ihrer Tochter zusammenhängt?“
Frau Kömen sah Ulli erstaunt an.
„Sie meinen, ob der Bruno oder sonst jemand von Karins Freunden Wilhelm umgebracht hat? Aber wieso denn jetzt? Nach zehn Jahren? Sie haben das doch lange hinter sich gelassen. Sie haben alle ihr eigenes Leben. Bruno ist verheiratet und hat zwei Kinder.“
„Und Sie“, mischte sich Paule ein, „haben Sie und Ihr Mann es auch hinter sich gelassen?“
Ulli beobachte, wie Gerda Kömen tief einatmete und kurz die Luft anhielt. Dann schloss sie für einen Moment die Augen und atmete langsam aus.
„Es hat damals Menschen gegeben, die uns halfen, damit umzugehen. Und wir haben gelernt, damit zu leben. Ich habe in der Gemeinde Trost und Unterstützung gefunden und Heinz“, Frau Kömen zögerte, „Heinz hat einen anderen Weg gefunden.“
„Welchen Weg hat Ihr Mann gefunden?“, hakte Ulli vorsichtig nach.
Frau Kömen stand auf und holte Kaffeetassen aus dem Schrank. Nachdem sie die Kommissare mit dem Kaffee bewirtet hatte, verließ sie die Küche und kehrte kurz danach mit einem dicken Aktenordner zurück. Sie legte den Ordner auf den Tisch.
„Sie werden es ohnehin erfahren. Das ist der letzte, drüben stehen noch fünf. Heinz hat alles aufgehoben, was er über den Mord an Karin in Erfahrung bringen konnte. Und als das mit der DNA bekannt wurde, hat er dafür gekämpft, dass Wilhelm Tieck wieder vor Gericht gestellt wird. Er hat sogar einen Anwalt bezahlt. Aber der Anwalt hat gesagt, dass man keinen zweimal für dasselbe Verbrechen anklagen darf. Ich habe Heinz geraten, damit aufzuhören. Ich habe ihm gesagt, dass er sich selbst schadet, wenn er immer wieder die alten Wunden aufreißt. Aber er wollte nicht aufgeben. Er hat Petitionen aufgesetzt und bei Gericht eingereicht.“
Frau Kömen zeigte auf den Ordner. „Es ist alles da drin. Sie können ihn mitnehmen, die anderen Ordner auch. Heinz braucht sie jetzt nicht mehr, und ich werde froh sein, wenn sie aus dem Haus sind. Vielleicht ist jetzt endlich Frieden, auch für Heinz.“
Ulli wollte gerade einen Blick in den Ordner werfen, als die Haustür aufgeschlossen wurde.
„Hier riecht es wunderbar nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Gibt es auch Kuchen dazu?“
Heinz Kömen stand in der Küchentür und schaute die beiden Kommissare überrascht an. Ulli bemerkte den kurzen Blick auf den Ordner, der aufgeschlagen auf dem Tisch lag.
„Die Kommissare sind wegen Wilhelm da“, beeilte sich Frau Kömen zu erklären.
Heinz Kömen verzichtete auf eine Begrüßung. Er griff nach einer Kaffeetasse, schenkte sich Kaffee ein und nahm am Tisch Platz. Dann langte er über den Tisch und schloss den Ordner.
„Da hätten Sie schon vor Jahren kommen sollen. Jetzt hat offensichtlich ein weises Schicksal Ihre Aufgabe übernommen und den Mörder meiner Tochter bestraft.“
Heinz Kömen schaute die Kommissare herausfordernd an. „Und was wollen Sie jetzt von uns? Hoffentlich keine Hilfe bei der Suche nach Wilhelms Mörder. Was mich betrifft: Ich habe soeben die Akte ,Wilhelm Tieck‘ mit Freuden und für immer geschlossen.“
„Nun“, erklärte Ulli ruhig, „für uns ist das nicht so einfach. Wir müssen einen Mord aufklären und möchten Ihnen dazu einige Fragen stellen.“
Heinz Kömen lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute Ulli direkt in die Augen: „Dann los, Frau Kommissarin, fragen Sie alles, was Sie wollen. Ich weiß nicht, wer das Urteil im Fall Tieck nach zehn langen Jahren endlich vollstreckt hat. Aber wenn ich es wüsste, ich würde es Ihnen ganz gewiss nicht verraten, im Gegenteil, ich würde dem Täter noch eine Dankeskarte schicken.“
Ulli beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Frau Kömen sich bemühte, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
„Okay“, Ulli wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Heinz Kömen zu, „dann beginnen wir mit einer ganz einfachen Frage: Wo waren Sie am späten Abend am Donnerstag, dem 22. August, und in der darauffolgenden Nacht zum Freitag?“
Heinz Kömen nickte nachdenklich. „Letzten Donnerstag. In der Zeitung steht, er wurde am Sonntag gefunden. Dann hat es ziemlich lange gedauert, bis jemandem aufgefallen ist, dass er tot ist. Ich hoffe, es war ein langsames, einsames Sterben.“
Wieder atmete Gerda Kömen tief ein, sie beugte sich zu ihrem Mann und legte eine Hand auf seinen Unterarm. „Lass es gut sein. Es ist nicht recht, dass du so redest, und es passt auch nicht zu dir. Was sollen die Kommissare denken? So bist du doch nicht.“
Heinz Kömen zog den Arm unter der Hand seiner Frau weg. „Vielleicht hat mir der Mord an Wilhelm gezeigt, wie ich wirklich bin. Ja, ich habe mich gefreut, als ich erfahren habe, dass der Kerl tot ist. Dass Karin jetzt endlich Frieden finden kann. Dass ich jetzt endlich Frieden finden kann. Dass ich das da“, Heinz Kömen deutete auf den Ordner, „nicht mehr weiterführen muss.“
Paule griff nach dem Ordner, schlug ihn auf und blätterte darin. „Rechtsgutachten, Schreiben an Rechtsanwälte, Fachaufsätze zur DNA-Analyse, Petitionen. Ihre Frau erzählte uns, dass es noch fünf weitere Ordner gibt. Ein ziemlich zeitintensives Hobby. Und nach zehn Jahren müssen Sie erkennen, dass das alles nichts gebracht hat. Der Mörder Ihrer Tochter lebt immer noch friedlich in seinem Häuschen, geht zur Arbeit, mäht seinen Rasen. Und das alles direkt vor Ihrer Nase. Dabei werden Sie auch nicht jünger.“
Paule beugte sich zu Heinz Kömen vor und schaute ihm direkt ins Gesicht.
„Was haben Sie am Donnerstag gedacht, als Sie morgens aufgewacht sind, am Jahrestag des Todes ihrer Tochter? Noch einmal zehn Jahre Petitionen und Gutachten? Oder haben Sie über etwas anderes nachgedacht? Sie haben die Frage meiner Kollegin noch nicht beantwortet.“
„Heinz war den ganzen Abend und die Nacht zu Hause. Sie können doch nach all der Zeit nicht hierherkommen und uns beschuldigen!“ Gerda Kömens Stimme zitterte.
„Lass gut sein, Gerda“, jetzt war es Heinz Kömen, der seiner Frau liebevoll eine Hand über ihre zitternden Hände legte. „Alles Routine. Die beiden Kommissare machen nur ihre Arbeit. Und wir haben nichts zu verbergen. “
„Waren Sie in letzter Zeit in der Wohnung des Opfers?“, Ulli bemühte sich, die Befragung möglichst objektiv fortzuführen.
Beide schüttelten den Kopf.
„Und Sie haben auch keinen konkreten Verdacht, wer Wilhelm Tieck getötet haben könnte?“
Wieder Kopfschütteln.
„Tatsächlich fällt es mir schwer, zu glauben, dass dieser Mord etwas mit dem Mord an unserer Tochter zu tun hat.“ Heinz Kömen blickte zum Fenster.
„Jeden Tag besuche ich Karin auf dem Friedhof. Zu Beginn bin ich immer wieder Freunden von Karin begegnet. Arbeitskollegen, Leute aus der Nachbarschaft, die sie kannten. Aber diese Begegnungen wurden mit den Jahren weniger. Die Leute vergessen sie. Eigentlich hat sie seit Jahren nur noch uns.“
Heinz Kömens Stimme klang unendlich müde und resigniert. Als hätte der provokative Auftritt seine ganze Kraft gekostet. Wahrscheinlich hatte Gerda Kömen recht: Seit zehn Jahren versuchte Heinz Kömen ruhig und beharrlich, mit Hilfe des Gesetzes gegen Wilhelm Tieck vorzugehen. Dieses provokante, aggressive Auftreten passte wirklich nicht zu ihm. Ulli deutete auf den Ordner.
„Haben Sie etwas dagegen, wenn wir Ihre Unterlagen mitnehmen? Vielleicht finden wir etwas, das uns weiterhilft.“
Heinz Kömen zuckte mit den Schultern. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Nur schade, dass sich in den letzten Jahren keiner für meine Unterlagen interessiert hat. Sieht fast so aus, als sei der Mord an Wilhelm interessanter für euch als der an Karin.“
Ulli wechselte einen erstaunten Blick mit Paule. Da war er wieder, dieser aggressive Ton in der Stimme von Heinz Kömen.
„Was hältst du davon?“ Ulli hatte die Ordner auf den Rücksitz des Mercedes gelegt. Nun waren sie auf dem Weg zu Schrauben Ziegler.
Paule deutete auf die Ordner hinter sich. „Zehn Jahre den Mörder der Tochter vor der Nase, und auf legalem Wege nichts erreicht. Was er da jahrelang gemacht hat, hat etwas von Besessenheit. Und dann ein Mord zum Jahrestag. Macht Sinn.“
„Andererseits“, ergänzte Ulli die Ausführungen ihres Kollegen, „sagt seine Frau, er sei zur Tatzeit zuhause gewesen.“
„Wenn ich seine Frau wäre, hätte ich keine Skrupel, ihm ein falsches Alibi zu geben. Moralisch absolut okay. Erinnere dich an das Alibi, das Wilhelms Tiecks Schwester ihrem Bruder damals gegeben hat.“
„Aber ist Heinz Kömen ein Mensch, der sich eine Waffe besorgt und dann kaltblütig einem Menschen in die Stirn schießt?“ gab Ulli zu bedenken.
„Er ist zumindest ein Mensch, der Wilhelm Tieck seine Beweggründe ausführlich darlegen würde, bevor er ihn erschießt. Der Stuhl würde ins Bild passen.“
Ulli schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Frau einen Mord decken würde.“
Paule überlegte: „Vielleicht hat Heinz Kömen einen anderen Weg gefunden. Für Geld kann man fast alles kaufen. Vielleicht hat er nach zehn Jahren eingesehen, dass er mit legalen Mitteln nicht weiterkommt.“
„Aber wie kommt ein Mann wie Heinz Kömen an einen Auftragskiller?“
Kurz nach siebzehn Uhr hielt Paule vor dem langgezogenen Firmengebäude der Schraubengroßhandlung. Er wandte sich Ulli zu: „Vielleicht finden wir hier ein anderes Motiv. Was kann uns die Expertin für deutsche Geschichte über diese Firma erzählen? Irgendwelche politischen Leichen im Keller? Profiteure der Judenenteignung?“
Paule grinste Ulli an.
Die Kommissarin schüttelte den Kopf. „Ich habe den Namen noch nie gehört.“
„Okay, dann werde ich dir das Wichtigste über Schrauben Ziegler erzählen: Das Unternehmen ist aus einem Handel für Schiffsartikel hervorgegangen und arbeitet seit mehr als hundert Jahren erfolgreich in der Herstellung und im Vertrieb von Schrauben und anderen Verbindungselementen. Beliefert das gesamte europäische Ausland. Hat sich kontinuierlich vom kleinen Handwerkerbetrieb zu einem internationalen Konzern entwickelt. Expandiert derzeit auf den asiatischen Markt.“
Ulli schaute Paule verblüfft an. „Woher hast du das denn so schnell?“
„Google weiß alles.“
„Du warst im Internet?“
Ulli war sprachlos. Paule und das Internet waren sich ihres Wissens bisher noch nie begegnet.
„So ähnlich“, grinste Paule. „Ich habe Emma gebeten, mir noch schnell die Eckdaten der Firma aus dem Internet zu besorgen. Du siehst, ich gehe schon mit der Zeit, nur eben auf meine Art.“
Werner Winkler, der Geschäftsführer des Unternehmens, hatte diesen Posten erst vor zwei Jahren übernommen und wusste daher nichts über den Fall Karin Kömen. Er hatte die Personalakte von Wilhelm Tieck bereits angefordert, als die Kommissare erschienen.
„Da“, er reichte Ulli die Akte, „das sind die alten Unterlagen. Seit fünf Jahren ist alles digital. Und hier“, Herr Winkler drehte den Bildschirm des Computers so, dass die Kommissare ihn einsehen konnten, „ist die neue Akte von Herrn Tieck. Ich kann Ihnen das auch mailen. Also eventuell. Ich muss es erst mit dem Datenschutzbeauftragten abklären. Aber Mord steht über Datenschutz. Oder? Also auf jeden Fall“, der Geschäftsführer drehte den Bildschirm wieder zu sich, „hat Herr Tieck keinen besonderen Eintrag in der Personalakte. Was nichts heißen muss. Also ich meine, bis bei uns etwas in die Personalakte eingetragen wird, muss jemand schon auf seinen Vorgesetzen schießen oder so. “
Werner Winkler lachte unsicher. „Entschuldigung! Das war ein blöder Witz in dem Zusammenhang. Aber ich weiß tatsächlich nichts über Wilhelm Tieck. Ich kenne die Leute draußen nicht persönlich. Er war einer von zwei Lageristen. Ich habe eben noch in der Personalabteilung nachgefragt. Tieck war selten krank. Am Freitag fehlte er zum ersten Mal unentschuldigt bei der Arbeit. Er hatte eine Riesterrente abgeschlossen, Sie wissen schon, wo der Betrieb die Hälfte drauflegt. Bringt absolut nichts, wenn Sie mich fragen. Aber das ist wohl jetzt nicht das Thema. Na ja, also wenn ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen kann?“
Der Geschäftsführer schaute auf die Uhr. „Ich habe nämlich eigentlich seit zwanzig Minuten Feierabend. Meine Frau macht Schnitzel, die werden immer so trocken, wenn man sie warmhält.“
Ulli blätterte in der Personalakte. „Gibt es jemanden, der Wilhelm Tieck besser kannte? Ein Kollege vielleicht, der uns weiterhelfen könnte?“
Herr Winkler zuckte die Schultern. „Wie gesagt, ich habe keine Ahnung. Und die Mitarbeiterin der Personalabteilung ist schon weg. Aber ich habe hier ihre Telefonnummer. Am besten, Sie rufen morgen an und stellen telefonisch Ihre Fragen.“
Paule stand ungeduldig auf. „Können Sie uns wenigstens sagen, ob es hier einen Spind oder etwas Ähnliches gibt, in dem Herr Tieck persönliche Sachen aufbewahrt hat?“
„Keine Ahnung. Um so etwas kümmere ich mich nicht. Vielleicht weiß es der Hausmeister. Aber er geht auch um fünf, wenn nichts Besonderes anliegt. Seine Telefonnummer habe ich hier. Herr Graus. Mit G. Sie können auch Herrn Schmidt anrufen. Das ist unser zweiter Hausmeister. Der weiß das bestimmt auch. Wenn Sie jetzt bitte …“, Herr Winkler war vom Schreibtisch aufgestanden und zur Tür gegangen, „gleich morgen früh sage ich meiner Sekretärin, sie soll Ihnen eine vollständige Liste zukommen lassen. Mit allen Telefonnummern unserer Mitarbeiter. Wollen Sie die Liste mit Adressen? Ist auch kein Problem. Vorausgesetzt – der Datenschutz. Aber jetzt müssen wir wirklich zu einem Ende kommen.“
Der Geschäftsführer hatte die Tür seines Büros geöffnet und forderte mit einer Geste, als wolle er Hühner aus seinem Büro scheuchen, die Kommissare zum Gehen auf. „Man kann sie auch noch in Folie wickeln. Sie werden trotzdem trocken.“
„Bitte?“ Ulli schaute den ungeduldigen Mann verständnislos an.
„Er meint die Schnitzel“, raunte ihr Paule zu, als er sich an ihr vorbei in den Flur quetschte. „Schnitzel scheinen den Herrn Geschäftsführer weitaus mehr zu interessieren als seine Angestellten.“
„Das habe ich gehört“, kommentierte Werner Winkler Paules Bemerkung, „aber Sie haben keine Ahnung von den Aufgaben einer zeitgemäßen Geschäftsführung. Fragen Sie mich nach Umsatzzahlen oder Außenhandelsbilanzen. Das Personal ist Teil des Ressourcenmanagements, für das ich nicht zuständig bin. Unternehmen sind heute anders aufgebaut als zur Ihrer Zeit, als der Firmeninhaber noch mit den Arbeitern abends auf ein Bier in die Eckkneipe ging.“
Bevor Paule etwas entgegnen konnte, zog ihn Ulli mit sich den Flur hinunter dem Ausgang zu. „Wir finden selbst hinaus. Danke. Wir machen jetzt auch Feierabend.“
„Was bildet sich dieser Aktentaschenträger eigentlich ein! Die nennen einfache Personalplanung jetzt Ressourcenmanagement, pinnen sich ein paar Umsatzkurven an die Wand und meinen dann, den Handel neu zu erfinden. Auf Erfahrung und Persönlichkeit wird überhaupt keinen Wert mehr gelegt. Und jeder macht mit: Rationalisierung, Technisierung. Sie fühlen sich nackt ohne ihr Smartphone. Digitale Notiz-App. Und wenn der Strom ausfällt, wissen sie nicht mehr, wo sie gerade hinwollten und was sie denken sollen. Fängt bei uns auch schon an. Wenn ich Emma nach einer Akte frage, rollt sie mit den Augen und meint, hätte ich doch alles im Computer. Wenn sie gut gelaunt ist, schickt sie mir einen Link zur Akte oder noch schlimmer: eine Mail mit einer PDF im Anhang. Wer heute einen Fall bearbeiten will, braucht ein IT-Studium. Also ich tue mir das nicht mehr an. Ist der da vorne am Steuer eingeschlafen!?“
Paule fuhr dicht auf den Wagen vor ihnen auf und drückte auf die Hupe. „Bestimmt mischt der Eisler bei der digitalen Polizei-Revolution ganz vorne in der ersten Reihe mit. Dem Seidel wird er Nachhilfe im Gebrauch dieser kleinen, tragbaren Computer geben und sich dabei gleich für einen Posten in der Führungsebene empfehlen. Aber was rege ich mich überhaupt auf ? Ich hab’s bald hinter mir. Noch ein paar Monate und dieser ganze technische Blödsinn kann mir gestohlen bleiben.“
Paule setzte zu einem gewagten Überholmanöver an. „So wie der fährt, kommen wir erst in der Nacht im Präsidium an. Der braucht einen Rollator und kein Auto.“
Als die beiden am Polizeipräsidium angekommen waren, hatte Paule sich wieder abgeregt. „Ich kann mir den Kömen einfach nicht als Mörder vorstellen“, meinte er ganz friedlich, als er Ulli an ihrem Wagen absetzte.
Ulli stimmte ihm zu: „Wir werden uns weiter mit Wilhelm Tiecks Umfeld beschäftigen. Vielleicht finden wir dort noch ein Motiv. Sieht sich eigentlich jemand seine Finanzen an?“
„Ist notiert. Analog“, grinste Paule und deutete auf seine Stirn, „gleich morgen früh werde ich Emma beauftragen, sich die Kontoauszüge von Tieck anzusehen. Und ich erkundige mich, ob die Schwester erbt. Wenn jemand, aus welchem Grund auch immer, Tieck umbringen wollte, dann bot sich dieser Jahrestag als perfekte Ablenkung an. Ist doch klar, dass jedem der alte Fall zuerst einfällt und wir in diese Richtung ermitteln.“
***
Kurz nach neun Uhr lenkte Ulli den Citroën in die Auffahrt zur Villa. Sie begrüßte Frau Geese und bedankte sich dafür, dass sie, wie schon so oft, auf Rocco aufgepasst hatte. Für Ende August waren die Abende immer noch sehr warm. Rocco trottete langsam der Villa entgegen. Ulli beschloss, heute auf den Abendspaziergang zu verzichten. Sie würde morgen eine Stunde früher aufstehen und dann in der kühlen Morgenluft mit Rocco um den See laufen. Ein langer Spaziergang am Tag genügte dem Schäferhund mittlerweile. Ulli streichelte sein dunkles Fell.
„Du kommst auch in die Jahre, mein Guter.“ Der Schäferhund wedelte mit dem Schwanz und sah Ulli erwartungsvoll an. Er schien zu fragen: War das ein Lob? Gibt es für irgendetwas eine extra Belohnung?
Ulli lächelte. „So verfressen. Komm, wir gucken, was wir finden.“